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Der Erwerb von Erzählfähigkeit bei Kindern unterschiedlicher ethnischer Herkunft

Eine empirische Studie zu Nacherzählungen von Kindern unterschiedlicher ethnischer Herkunft

AutorNadine Kleber
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl137 Seiten
ISBN9783640133659
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Germanistik - Linguistik, Note: 2,0, Freie Universität Berlin (Institut für Philosophie und Geisteswissenschaften), 63 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Das Ziel der vorliegenden Studie ist, die linguistischen Defizite von Kindern mit Migrationshintergrund gegenüber ihren Mitschülern deutscher Herkunft aufzuzeigen und in ihrer Ausprägungsstärke wiederzugeben. Ob überhaupt, und wenn ja, wie sie in der Lage sind, eine Geschichte zu erzählen, sollte anhand verschiedener Messgrößen untersucht werden. Zu diesem Zweck wird zunächst der aktuelle Stand der Forschung im Hinblick auf die Funktionen und Strukturen von Erzählungen sowie auf den Erwerb der Erzählfähigkeit dargestellt. Ebenso wird kurz eine Abgrenzung des Erzählens vom Berichten und Beschreiben vorgenommen. Um Unterschiede in der Erzählfähigkeit von Kindern mit Migrationshintergrund zu Kindern deutscher Herkunft aufzeigen und sprachliche Differenzen und Besonderheiten ausarbeiten zu können, werden im Anschluss daran Kinder im Alter von sechs bis sieben Jahren unterschiedlicher ethnischer Herkunft im Hinblick auf ihre Erzählfähigkeit, die Lexemverwendung, die Mittel der Kohäsion und Kohärenz, die Strukturiertheit und die Zuordenbarkeit zu einer kognitiven Entwicklungsstufe nach Boueke et al. untersucht. Abschließend wird ein Resümee gezogen und ein Ausblick gewagt.

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Leseprobe

3 Die Studie

 

Im nachfolgenden dritten Abschnitt soll nun die durchgeführte Studie zu Nacherzählungen von Kindern unterschiedlicher ethnischer Herkunft mit ihren Ergebnissen präsentiert werden. Dafür soll zunächst ein Einblick in das die zu untersuchenden Kinder umgebende soziale Umfeld gegeben und dann das Erzählprojekt vorgestellt werden, auf das die vorliegende Untersuchung aufbaut. Anschließend sollen nach Anmerkungen zu den Kindern und zum methodischen Vorgehen die Nacherzählungen von Kindern unterschiedlicher ethnischer Herkunft aus linguistischer Sicht analysiert werden.

 

Der Begriff der Erzählfähigkeit ist im gesamten dritten Abschnitt als Erzählfähigkeit in deutscher Sprache zu verstehen. Die ermittelten Ergebnisse können aufgrund der Studiengestaltung keinerlei Aussagen darüber treffen, inwieweit die Kinder mit Migrationshintergrund in der Lage sind, in ihrer Muttersprache zu erzählen.

 

3.1 Der Berliner Ortsteil Wedding

 

Der Ortsteil Wedding ist ein Unterbezirk des Berliner Bezirkes Mitte. Er gehört zu den Berliner Gebieten, die durch eine besonders hohe Anzahl von Mitbürgern nicht-deutscher Herkunft geprägt sind.

 

3.1.1 Die Bevölkerungsstrukur

 

Bei einer Gesamtbevölkerungszahl des Ortsteils von 74.041 sind 23.326 Menschen als Bürger nicht-deutscher Herkunft registriert. Dies sind 31,5 Prozent[174] (s. Tabelle 1).

 

 

Tab. 1:  Bevölkerungsstruktur des Ortsteils Berlin-

 

 Wedding

 

Im Bezirk Mitte herrscht mit 20,0 Prozent eine sehr hohe Arbeitslosenquote, 21,0 Prozent davon sind Menschen ausländischer Herkunft.[175] Zehn Prozent aller Erwerbspersonen beziehen Sozialhilfe.

 

Die Charakteristika der Bevölkerungsstruktur legen Rückschlüsse auf eine sogenannte „bildungsferne Bevölkerungsschicht“ nahe. Zwar wäre dieser Aspekt für die vorliegende Studie interessant. Da entsprechende Daten aus den Elternhäusern der zu untersuchenden Kinder und Belege zu dieser Annahme jedoch nicht vorliegen, kann sie hier keine weitere Beachtung finden.

 

3.1.2 Die Schule

 

Die 1956 gegründete Anna-Lindh-Grundschule bietet ein Bildungsangebot für 734 Kinder.[176] Die Schule liegt im sogenannten „Afrikanischen Viertel“, einem der ärmsten Viertel Berlins. Die Bevölkerungsstruktur des Ortsteils Wedding (s. 2.5.1) spiegelt sich auch an der Schule wider: 52 Prozent aller Schüler der Anna-Lindh-Grundschule sprechen Deutsch nicht als Muttersprache.

 

3.2 Das Erzählprojekt

 

Die Studie wurde mithilfe des von Frau Prof. Kristin Wardetzky und Frau Prof. Ulrike Hentschel vom Institut für Theaterpädagogik an der Universität der Künste Berlin geleiteten und von Frau Christiane Weigel wissenschaftlich begleiteten Erzählprojektes „Sprachlos?“ an der Berliner Anna-Lindh-Grundschule durchgeführt. Das Ziel des Projektes war, durch die künstlerische Vermittlung der deutschen Sprache in Erzählungen eine Sprachförderung von Kindern mit Migrationshintergrund zu erreichen. Mithilfe des Erlebens der Erzählungen wurde eine Erweiterung des Wortschatzes der Kinder angestrebt, mit dem sie das Gehörte wiedergeben und eigene Geschichten erfinden können.[177]

 

Wardetzky merkt zu dem Erzählprojekt an: „Ein ‚Müller’ ist für sie ein Mann, der den Müll wegbringt, ‚Donau’ assoziieren sie mit Döner, die ‚Spree’ mit Spray, ‚Kohle’ mit Cola […]. Das sind einige von unzähligen Irritationen, die in den Erzählstunden auftauchen, aber in den seltensten Fällen wie im Deutschunterricht direkt erklärt werden. Am Ende der Geschichte haben die Kinder jedoch in der Regel ohne explizite Erklärung Verständnis für die Bedeutung und Verwendung des neuen Wortes entwickelt. Im besten Falle benutzen sie es selbst, wenn sie die Geschichte nacherzählen.“[178]

 

Dass Geschichten einen positiven Einfluss auf die sprachliche Entwicklung von Kindern haben, konnte von Ulich (2000) bereits nachgewiesen werden: „Kinder, die von Kindheit an mit Geschichten umgehen – erzählte und vorgelesene Geschichten – waren später im Vorteil, vor allem in Bezug auf den schriftlichen Ausdruck. Das gilt auch für Kinder aus ärmeren, weniger akademisch gebildeten Familien.“[179] Auch Hoffmann (1984) stellt fest: „Der Einfluss von Märchen und Kindergeschichten auf die Ausbildung der Erzählkompetenz sollte nicht unterschätzt werden. Einerseits bilden sie ein strukturelles Vorbild, zum anderen werden Elemente dieser Texte […] reproduziert.“[180]

 

Um diesen positiven Effekt von Erzählungen für das Erzählprojekt zu nutzen, bekamen Erstklässler, also Kinder im Alter von sechs bis sieben Jahren, im Rahmen des Erzählprojektes ein halbes Jahr lang zweimal wöchentlich eine Schulstunde lang (45 Minuten) Märchen von professionellen Erzählerinnen (Sabine Kolbe, Kerstin Otto und Marietta Rohrer-Ipekkaya) vorgetragen. Die an der Universität der Künste (UdK) Berlin ausgebildeten Erzählerinnen trugen die Märchen frei vor, wobei sowohl traditionelle deutsche Märchen und Erzählungen wie auch solche aus den Kulturkreisen der Kinder ausgewählt wurden. Eine sprachliche Vereinfachung wurde nicht vorgenommen.

 

Das Projekt wurde von Sophie Narr, Studentin der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Babelsberg, videografisch dokumentiert.

 

3.3 Die Kinder

 

Für die Studie wurden 16 Kinder im Alter von sechs bis sieben Jahren befragt. Alle Kinder besuchten die Klasse 1d der Anna-Lindh-Grundschule, Berlin.

 

3.3.1 Die ethnische Herkunft

 

Die bereits oben dargelegte Bevölkerungsstruktur des Ortsteils Wedding hat erhebliche Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Schulklassen: 90 Prozent der am gesamten Projekt beteiligten Kinder waren nicht-deutscher Herkunft. 80 Prozent von ihnen konnten zu Beginn ihrer Schullaufbahn nur schlechte bis ungenügende deutsche Sprachkenntnisse vorweisen.

 

Sämtliche Kinder haben die erste Klassenstufe zum ersten Mal durchlaufen. Kinder, die die erste Klasse wiederholen mussten, wurden für die Studie nicht befragt.

 

3.3.2 Die Ergebnisse des Sprachstandstests

 

Bei einem im Vorfeld der Studie von den Projektinitiatoren durchgeführten Sprachstandstest wurden die sprachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, jedoch nicht die Erzählfähigkeit der Kinder untersucht. (Auf das genaue Verfahren soll an dieser Stelle aus Platzgründen nicht eingegangen werden.) Maximal konnten 100 Punkte erreicht werden. Die Ergebnisse sind in Tabelle 2 dargestellt.

 

 

Tab. 2: Ergebnisse des Sprachstandstestes (S), n=16

 

Das Kind mit dem schlechtesten Ergebnis erzielte 22 Zähler, die Kinder mit den besten Ergebnissen 90 Punkte. Durchschnittlich wurde ein Resultat von 67,7 Punkten erreicht, 68,5 bei den Mädchen, 66,9 bei den Jungen.

 

3.4 Methodik

 

Um untersuchen zu können, welchen Einfluss die ethnische Herkunft auf die Erzählfähigkeit eines Kindes hat, mussten die Versuchspersonen zunächst anhand ihrer Herkunft bzw. der Herkunft ihrer Familien kategorisiert werden. Wie dabei vorgegangen wurde, soll im Abschnitt 3.4.1 erläutert werden. Auf die Art der Datengewinnung wird in Abschnitt 3.4.2 eingegangen werden.

 

3.4.1 Kategorisierung der Kinder

 

Für die Studie wurde eine Kategorisierung der Kinder anhand ihrer Herkunftsnationalitäten bzw. der ihrer Eltern sowie der Ergebnisse des Sprachstandstestes vorgenommen. Anhand dieser Werte wurden die Kinder in Gruppen eingeteilt, die mit M+, M-, D+ oder D- benannt wurden. Diese Kategorien wurden für beide Geschlechter festgelegt. In jeder Gruppe befanden sich jeweils zwei Mädchen und zwei Jungen, so dass insgesamt 16 Kinder an der Studie teilnahmen und Verfälschungen durch das Geschlecht der Versuchspersonen ausgeschlossen werden konnten.

 

In die Gruppen mit dem Kürzel „M“ wurden die Kinder mit Migrationshintergrund eingeordnet, in die Gruppen mit dem Kürzel „D“ die Kinder deutscher Herkunft. Kinder, die im Sprachstandstest ein Ergebnis über dem durchschnittlichen Wert von S="68" Punkten erzielen konnten, wurden in die Gruppen D+ bzw. M+ eingeordnet. Kinder mit gleichen oder schwächeren Ergebnissen wurden als D- bzw. M- kategorisiert. Von diesen Kategorien ausgehend soll mit der folgenden Tabelle 3 ein Überblick über die Ergebnisse des Sprachstandstests im Hinblick auf die ethnische Herkunft...

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