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E-Book

Mitleid

Plädoyer für ein unzeitgemäßes Gefühl

AutorAdolf Holl
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783688104024
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
'Diese Ausgabe meines Buches über Mitleid sollte möglichst gebrauchsfreundlich gestaltet werden: Durch die Gliederung in vier Teile und die Hinzufügung von Kapitelüberschriften wird die Orientierung erleichtert; die Literaturhinweise am Schluß nennen die wichtigsten Quellen der verwendeten Zitate; der neue Titel verdeutlicht die Absichten des Autors. Am ursprünglichen Text wurde wenig verändert [...]' Wien, im September 1990 A.H. Religion und Nächstenliebe Philosophie und Humanität Psychologie und Mitempfinden Politik und Solidarität

Adolf Holl, geboren 1930 in Wien, Doktorate der Theologie und Philosophie, Universitätsdozent für Religionswissenschaft. Von 1953 bis 1972 Kaplan und Religionslehrer. 1973 kirchliches Lehrverbot, 1976 als Priester suspendiert. Lebt als freier Schriftsteller in Wien.

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Leseprobe

1. Ein Tag im Leben eines Schriftstellers


Die uneigennützigen Menschen, die ihr Leben gleich Martin den Bedürftigen weihten, haben die Welt mit Hospizen, Spitälern, Waisenhäusern, Aussätzigenheimen überzogen. Ohne sie gäbe es kein soziales Gewissen, keine Hilfssendungen in Katastrophengebiete. Ihre beständigen Appelle an die Hilfsbereitschaft sind so selbstverständlich geworden, daß man sich ihnen kaum zu entziehen vermag. Eine besonders peinliche Szene wird immer wieder gespielt, in einem beliebigen Lokal. An den Tisch der behaglich Speisenden tritt ein Heilsarmist mit der Bitte um eine milde Gabe. Schon ist die vergnügte Stimmung gestört, und einen Augenblick lang kann man die Schreie hören, die aus der äußeren Finsternis kommen.

 

Dieser Augenblick, in dem noch alles in der Schwebe bleibt, ist wie ein schweigender Kampf mächtiger Energien, außerhalb von Zeit und Raum. In den winzigen Explosionen der nervösen Nachrichtenübermittlung im Gehirn der Betroffenen werden Programme miteinander verglichen, Erinnerungen aus dem Gedächtnis geholt, Autoritäten befragt, mit der Geschwindigkeit des Lichtes.

Wollte jemand versuchen, all das irgendwie aufzuschreiben, er käme so leicht nicht ans Ende. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft würden ihm durcheinandergeraten, weil die Entscheidungsprozesse, die er zu Protokoll bringen will, einen Vernetzungsgrad haben, der mit der linearen Chronologie nicht erfaßbar ist. Persönliche und unpersönliche, ja überpersönliche Informationen würden einander wegkürzen, weil sie in der soundsovielten Dimension belanglos werden. Mit Einteilungen, Aufzählungen, Definitionen käme er auch nicht weiter, weil die Abläufe, denen er nachdenkt, fließend sind und verschlungenen Wegen folgen. Außerdem gibt es die Endlosschleifen, die immer dieselbe Nachricht wiederholen, wie die Zehn Gebote zum Beispiel es tun.

Wer oder was wird schließlich darüber bestimmen, ob der oder die Angesprochene ablehnend den Kopf schüttelt oder zum Geld greift? Werden zwei unter zehn Personen spenden oder acht? Wird das Gute in der Welt siegen?

 

Im Nachtgeschäft, unter Taxifahrern, Prostituierten und Heilsarmisten gibt es eine Erfahrung: Betrunkene geben am meisten.

 

Ich weiß bis heute nicht, warum ich im Januar 1981 eine junge Frau, die offenkundig unter Paranoia litt, bei mir drei Wochen lang beherbergt habe. War es Mitleid oder Neugier oder Höflichkeit oder Sex? Hat sie meine väterlichen oder brüderlichen Gefühle aktiviert? Wenn ich es wüßte, würde ich kein Buch über das Mitleidigsein schreiben.

 

Ein Tag im Leben eines Schriftstellers. Das Telefon läutet, Holl hebt ab und vernimmt eine unbekannte weibliche Stimme, die ihn um eine Unterredung bittet und etwas von Obdachlosigkeit und Drogenentzug sagt. Es ist zwei Uhr nachmittags. Um drei Uhr erzählt die junge Frau bereits ihre Geschichte, in Holls Wohnzimmer. Auf ihrem letzten Posten als Sekretärin in einem Forschungsinstitut sei sie mit allen möglichen Giften vollgepumpt worden, gegen ihren Willen und ohne ihr Wissen, alle Geheimdienste seien hinter ihr her, jetzt leide sie unter Entzugserscheinungen, ein Versuchskaninchen sei sie gewesen für Drogenexperimente, sie habe sich bereits an den Bundeskanzler gewandt, damit den Leuten in diesem Institut endlich das Handwerk gelegt wird.

Vor dem Eintreffen der Paranoikerin hat Holl ein wenig telefoniert, mit einem Dienst für Drogensüchtige. Ob es möglich wäre, jemanden mit Entzugserscheinungen kurzfristig irgendwo unterzubringen.

Wenn sie unter Schweißausbrüchen leidet, sagt die Telefonstimme, dann ist der Pavillon 10 Am Steinhof zuständig. Am Steinhof, das ist das Irrenhaus Wiens.

Am Steinhof bin ich auch schon gewesen, sagt Paranoia zu Holl, dort haben sie mir Elektroschocks gegeben. Sie werden sich vielleicht nicht an mich erinnern, aber wir haben einander einmal bei dem Schriftsteller Gustav Ernst getroffen.

Aber sie hat ja gar keine Entzugserscheinungen, denkt Holl, sie bildet sich das alles nur ein, sie hat in Wirklichkeit einen ausgewachsenen Verfolgungswahn. Ich kann ihr sicher nicht helfen, denkt Holl, da sind andere dafür zuständig, aber Steinhof wäre brutal, da darf man sie nicht hinschicken, dort kriegt sie vielleicht wirklich Elektroschocks, und außerdem ist sie schon dort gewesen und hat immer noch ihren Verfolgungswahn.

Ja, und warum sind Sie dann eigentlich zu mir gekommen, sagt Holl.

Ich hab meine Wohnung verloren, ich weiß nicht, wo ich heute nacht schlafen soll, und da sind Sie mir eingefallen, vielleicht kann ich bei Ihnen übernachten, eine Woche, bis ich etwas anderes gefunden habe.

 

Die leiblichen Werke der Barmherzigkeit sind: 1. den Hungrigen zu essen geben, 2. den Durstigen zu trinken geben, 3. die Fremden beherbergen, 4. die Nackten kleiden, 5. die Kranken besuchen, 6. die Gefangenen erlösen, 7. die Toten begraben.

 

In der Zeit, als die Liste der barmherzigen Werke allgemeine Verbreitung fand, erzählten die Wüstenväter einander diese Geschichte:

Der Teufel aber nahm die Gestalt eines herrlich geschmückten Weibes an und klopfte an die Tür der Zelle, in welcher sich der Mönch aufhielt. Als dieser öffnete, sprach die Erscheinung also: Ich werde von meinen Gläubigern schuldlos verfolgt. Nimm mich auf bei dir, heiliger Mann, nur kurze Zeit, bis ich unbehelligt weiterwandern mag! Der Mönch ließ sie ein. Alsbald wurde er von heftigem Verlangen ergriffen und trat auf das Weib zu, es zu umarmen. Da schlug ihn der Teufel, der Mönch stürzte zu Boden und blieb einige Tage wie tot liegen. Als er wieder zu Sinnen gekommen war, begab er sich zum seligen Vater Pachomius und gestand unter verzweifeltem Stöhnen und entsetzlicher Furcht sein Vergehen.

Auf die Frage, wovon sie lebe, antwortet Paranoia, sie habe einen Antrag auf Sozialhilfe gestellt.

In Österreich wird von zwei «Netzen» sozialer Sicherheit gesprochen: (a) Sozialversicherung und (b) Sozialhilfe. Für die Sozialhilfe ist das Sozialamt zuständig. Anspruch auf Sozialhilfe hat, wer seinen Lebensbedarf nicht ausreichend aus eigenen Mitteln und Kräften beschaffen kann. Von den Hilfesuchenden verlangt das Sozialamt, daß sie zunächst alle anderen Möglichkeiten ausprobiert haben müssen, um zu ihrem Geld zu kommen (Ansprüche gegenüber dem Arbeitsamt, der Pensionsversicherungsanstalt, unterhaltspflichtigen Angehörigen). Ferner muß nachgewiesen werden, daß der Antragsteller arbeitswillig ist. Davon ausgenommen sind Personen, die in einer Erwerbsausbildung stehen, die das 60. (Frauen) bzw. das 65. Lebensjahr (Männer) erreicht haben, Erwerbsunfähige und Mütter im Interesse einer geordneten Erziehung ihrer Kinder.

Österreich ist ein Sozialstaat.

Zur Antragstellung auf Sozialhilfe muß ein Meldezettel vorgelegt werden. Dies deshalb, weil sich die Zuständigkeit des Sozialamtes nach dem Wohnsitz richtet. Ohne ordentlichen Wohnsitz gibt es keine Sozialhilfe.

Falls es Paranoia nicht bald gelingt, einen ordentlichen Wohnsitz zu haben, fällt sie durch die beiden sozialen Netze und wird zu einer nicht seßhaften Person, einer «Sandlerin» (österreichischer Sprachgebrauch) oder «Gammlerin». Zu einer «Hauslosen» (buddhistischer Sprachgebrauch).

Die ersten Buddhisten, die ersten Derwische, die ersten Franziskaner waren freiwillige Sandler oder Gammler. Jesus war ein freiwilliger Gammler. Füchse haben Höhlen, Vögel haben Nester, der Menschensohn aber hat nicht, wohin er sein Haupt legen kann. Die Menschentochter hat nicht, wohin sie ihr Haupt legen kann. Ihr Name: Paranoia. Sie wird verfolgt von erbarmungslosen Gläubigern, jetzt treten Tränen in ihre Augen, und sie sagt: Ich hab niemandem etwas zuleide getan.

 

An dieser Stelle darf Herrn Müllers gedacht werden. Vielleicht habe ich Paranoia deshalb bei mir aufgenommen, weil ich vermeiden wollte, ihr nachblicken zu müssen, wie sie enttäuscht die Stiege hinuntergeht. Herr Müller ging vor Jahren enttäuscht die Stiege von meiner Wohnung hinunter, ein alter heruntergekommener alkoholischer Mann ohne ordentlichen Wohnsitz. Die Sekunde des Nachblickens vor dem Schließen der Wohnungstür hat sich mir eingeprägt, der Blick auf die Schulter des Herrn Müller, wie er langsam die Treppe hinuntersteigt.

Ja, dir geht‘s gut, sagte Herr Müller öfters zu mir.

Hast einen Wein, fragte Herr Müller. Hast Zigaretten, fragte Herr Müller, eine warme Unterhose brauchert ich auch.

Herr Müller ging mir gelegentlich auf die Nerven, seine Stimme am Telefon war mir nicht immer willkommen. Schon wieder der Müller. Und dann einmal hinausgeschmissen den Müller, abgewiesen den Müller, laß mich in Ruh, ich hab keine Zeit, allerweil kommst daher, ich bin nicht die Caritas.

Vor dem Krieg war ich in Venezuela am Bau, erzählte Herr Müller, hab gut verdient damals. Wenn sich meine Alte nicht hätte scheiden lassen von mir, hätt ich eine Wohnung. Aber so hab ich ausziehen müssen, jetzt schlaf ich im Telefonhäusl.

Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen dürfte Herr Müller nicht mehr unter den Lebenden weilen, ein gutes halbes Jahr schon hat er sich nicht mehr gemeldet. Sozialstaatlich gesehen war er eine Ausnahme, man stelle sich vor: ein Bettler in Österreich, das ist beinahe schon eine Attraktion für die Touristen. Auf Wunsch werden sie in eine bestimmte Gasse geführt, ein schlampig gekleideter Mensch tritt auf sie zu mit der Frage:

Alter, hast einen Schilling?

Vielleicht wäre es hier angebracht, dem Publikum die Geschichte der Wohltätigkeit zur Kenntnis zu bringen. Vergleiche die umfassende Studie von Bolkestein, «Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum», außerdem Lieses «Geschichte der...

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