Vorwort
Mein Ruhrgebiet, das ist der wunderbare Landschaftspark Duisburg-Nord, der einmal ein riesiges Stahlwerk war. Ich habe ein Fahrrad geliehen und bin über das Gelände gekurvt, vorbei an den Sinteranlagen und Möllerbunkern, habe von der Brücke auf die Alte Emscher hinuntergeschaut und wollte nicht glauben, dass sie im Gasometer wirklich tauchen üben. Das Windrad war gerade wieder aufgestellt worden, in vierzig Meter Höhe, nach zwei Jahren Reparatur am Getriebekopf; jetzt hat der Park eines seiner Wahrzeichen zurück. Beim Traumzeit-Festival traten Tom Odell, Milky Chance, Alice Merton und viele andere Musiker auf, beim Klavierfest Ruhr spielten sie Strawinsky in der Gebläsehalle. Ziemlich viel los ist hier, fast immer.
Eine Entdeckung ist auch das MuT in Bochum, das Museum unter Tage in einem herrlichen Park, in dem gerade »Artige Kunst« zu Ende gegangen war, womit auf die Kunstpolitik in der NS-Zeit angespielt wurde. Oder das goldene U auf dem monströsen Gebäude gleich neben dem Dortmunder Hauptbahnhof, das einmal eine Brauerei beherbergte. Hoch oben auf dem Turm erzählen umlaufende Videos witzige kleine Geschichten, die sich Adolf Winkelmann ausgedacht hat; er ist nicht nur Regisseur, sondern auch der Chronist des Ruhrgebiets. 1,7 Millionen LEDs ließ er hier installieren, damit es etwas zu lesen und zu schauen gibt; die Computertechnik ist ein kleines Wunderwerk. Manchmal lässt Winkelmann den Turm die Zeitläufte kommentieren. Als einige Neonazis Dortmund unsicher machten, sagte der Turm dazu: »Ich, der Turm, fand Nazis damals schon voll uncool.« Das fanden die Dortmunder cool.
Es gibt viel zu entdecken im Ruhrgebiet. Etliche Hunderttausende Menschen reisen an, bleiben für einen Tag oder auch mehrere Tage. Sie gehen in die Jahrhunderthalle Bochum, eine meisterhafte Konstruktion der Ingenieurskunst aus dem Jahr 1902. Sie besuchen die wunderbare Zeche Zollverein, die vermutlich eindrucksvollste Ikone aus dem Industriezeitalter, die eine besonders prominente Adresse bekommen hat: im Welterbe. Sie genießen das erstaunlich große Angebot aus Kultur und Kunst, das Berlin kaum nachsteht, jedenfalls dann nicht, wenn man das Ruhrgebiet als Ganzes betrachtet, als eine riesige Metropole. Und natürlich können sie auch in eines der Stadien gehen, die bei jedem Heimspiel ausverkauft sind. In der Bundesliga haben sie die Wahl zwischen Schalke und Dortmund, wo das Publikum den Fußball einzigartig zelebriert und orchestriert, inbrünstiger als in München oder Hamburg.
Das Erstaunliche am Ruhrgebiet ist, dass die Wirklichkeit seinen Ruf dementiert. Es ist vielfältig und bunt, es ist grün und mit einem Reichtum an Landschaften gesegnet, den man kaum für möglich hält. Auf den Halden, die der Bergbau hervorbrachte, lässt sich picknicken oder ein Stück im Amphitheater anschauen oder durch den Tetraeder flanieren, einer Stahlkonstruktion in Form einer dreiseitigen Pyramide. Wer es langsam liebt, nimmt sich ein Fahrrad und kurvt entlang der Route der Industriekultur, auf der die wichtigsten Industriedenkmäler aus der Zeit stehen, als das Ruhrgebiet aus einer Arbeitsgesellschaft bestand, die Deutschland mit Kohle und Stahl versorgte. Und wer will, kann sogar in der Ruhr baden, denn das ist jetzt wieder erlaubt, nachdem es 46 Jahre lang verboten war, seit 1971.
Dort, wo es spannend und interessant ist, entsteht das neue Ruhrgebiet im alten. Vor ungefähr dreißig Jahren haben die Städte aufgehört, wie aus Scham darüber, dass sie nicht mehr gebraucht wurden, stillgelegte Zechen abzureißen. Ihre Zeit ging vorbei, selbst wenn sie moderner und erheblich sicherer waren als Bergwerke in China, Südafrika oder der Türkei. Auf dem Weltmarkt konnte die deutsche Kohle nicht mehr konkurrieren. Zum Eliminieren der Schächte wurde endlich eine Alternative entdeckt: das Konservieren. Fortan sanierte das Ruhrgebiet das Alte, machte ein Neubaugebiet oder einen Technologiepark daraus. Oft ließ es sich auch etwas Größeres einfallen, verwandelte zum Beispiel ein gigantisches Stahlwerk in einen See und baute an seinem Ufer ein neues Stadtviertel. Gerade noch rechtzeitig lernte das Ruhrgebiet seine Vergangenheit zu schätzen und zu bewahren. Seither ist es stolz auf das Neue im Alten. Und hat auch jeden Grund dazu.
Der wenig freundliche Ruf des Ruhrgebiets speist sich aus seiner Vergangenheit, der nahen wie der ferneren. Kein blauer Himmel über der Ruhr. Ruß, der sich auf die Wäsche an der Leine legt. Schwerstarbeit unter Tage. Eine Arbeiterwelt mit einer Arbeiterkultur. Fußball und Taubenzucht und Schrebergärten und Kneipen. Kinder, aus denen Bergleute werden, wie die Väter und Großväter es ganz selbstverständlich waren. Diese nahe Vergangenheit ist zwar verweht, aber sie haftet an der Region wie Teer.
In der ferneren Vergangenheit war das Ruhrgebiet nicht nur das industrielle Herz Deutschlands, sondern auch die Waffenschmiede des Kaiserreichs und der Nazis. Mit dem Ruhrgebiet verbinden sich die beiden Weltkriege und Millionen Tote. Krupp und Kanonen wurden ein Synonym. Von den Ruhrbaronen überwarf sich nur Fritz Thyssen nach Jahren der Verehrung mit Hitler und wurde deshalb mit seiner Frau in mehreren Konzentrationslagern gequält.
Nach 1945 war das Ruhrgebiet wieder der Großlieferant für Kohle und Stahl, unentbehrlich für den Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder der Westrepublik. Diese goldene Spätphase endete 1957/58, als die Kohle in die Krise geriet. Ihr machten Öl und Kernenergie Konkurrenz. Anders als erhofft war die Krise nicht nur konjunkturell bedingt, sondern strukturell. Zeche auf Zeche wurde geschlossen. Stadt auf Stadt geriet ins Trudeln. Das Ruhrgebiet wurde zum Dauerkrisengebiet.
Die große Angst der Regierungen in Bonn und Düsseldorf bestand darin, dass die Bergleute in ihrer Verzweiflung demonstrieren und protestieren würden und womöglich das ganze Land in Aufruhr versetzen könnten. Daraus entstand etwas Beispielhaftes: die korporative Marktwirtschaft für das Ruhrgebiet. Bundesregierung und Landesregierung, Bergbauunternehmen und Gewerkschaften taten sich zusammen und arbeiteten ein Modell aus, das den Bergbau sozial verträglich abwickelte. Kein Bergmann sollte ins Bergfreie fallen, hatte die Gewerkschaft verlangt, und so kam es auch. Der Staat subventionierte, die Bergwerke schrumpften. Fünfzig Jahre lang ging das so. Das Modell wird am 31. Dezember 2018 enden, das ist der Tag, an dem das letzte Bergwerk Prosper-Haniel in Bottrop dichtmachen wird.
Dieses Buch erzählt die Geschichte des Ruhrgebiets von 1945 bis zum »Zieljahr« 2018. Was entsteht, ist nicht etwa eine Regionalgeschichte, eng umgrenzt und abgezirkelt, denn die Entwicklung des Ruhrgebiets ist tief eingebettet in die deutsche Geschichte. Die eine geht in die andere über, ist ohne sie weder zu beschreiben noch zu analysieren.
Nach 1945 spielte das Revier in den deutschlandpolitischen Überlegungen der Siegermächte eine Schlüsselrolle. Das industrielle Potenzial sollte nie wieder für militärische Zwecke nutzbar werden. Eine Industrialisierung des Ruhrgebietes oder die Gründung eines staatlichen Gebildes mit dem Namen »Republik Rhenania« stand zur Diskussion. Daraus wurde nichts, aus politischen und strategischen Gründen. Die beiden neuen Weltmächte Amerika und die Sowjetunion, erst vereint gegen Hitlerdeutschland, entzweiten sich rasch. Eine bipolare Welt ging daraus hervor. Deutschland, verantwortlich für beispiellose Kriegs- und Menschheitsverbrechen, lag nun an der Nahtstelle zwischen Ost und West. Die Nachkriegsrepublik kam in die Gunst des Marshallplans. In erstaunlich wenigen Jahren entstand eine demokratische Marktwirtschaft, mit dem Ruhrgebiet als neuem alten Kraftzentrum.
Auch in der Europäisierung ging das Ruhrgebiet voran. Mit der Montanunion, der 1951 in Paris begründeten Europäischen Gesellschaft für Kohle und Stahl (EGKS), begann die Aussöhnung Deutschlands mit Frankreich. Darauf baute später die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft auf, aus der sich wiederum die Europäische Union entwickelte. So nahm die Einbindung Deutschlands in supranationale Institutionen im Ruhrgebiet ihren Ausgang.
Bis 1957/58 hatte das Ruhrgebiet dem ganzen Land gegeben, was es brauchte. Seither gab das Land dem Ruhrgebiet, was das Ruhrgebiet brauchte. Mindestens 120 Milliarden Euro flossen über die Jahre dorthin. Hunderte Zechen schlossen, Hunderttausende Bergleute wurden arbeitslos oder gingen in Rente. Die korporative Marktwirtschaft war ein Akt der Großzügigkeit, aber auch der Vorsicht. Schwarze Fahnen an der Ruhr, Streiks, Demonstrationen in der Hauptstadt waren das Menetekel, das die Regierungen beachteten.
Die Zeit der Monostruktur war vorbei. Das Ruhrgebiet musste sich rasch wandeln. Es musste aufholen und zu einer Region werden wie andere Regionen. Unverschuldet lag es zurück, Bildung hatte in der Arbeitergesellschaft keine große Rolle gespielt, denn Arbeiter unter Tage und im Stahlwerk mussten nicht wesentlich mehr können als lesen und schreiben. Universitäten brüteten Aufrührer aus, die wie Marx und Engels von der Revolution träumten. Solche Menschen, hatten Bismarck und der Kaiser befunden, brauchte das Ruhrgebiet nicht. So kam es dazu, dass viel zu spät, im Jahre 1965, die erste neu gegründete Universität im Ruhrgebiet eröffnete, in Bochum. Von da an ging es Schlag auf Schlag: Dortmund, Duisburg, Essen, die erste Fernuniversität in Hagen, die erste Privatuniversität in Witten-Herdecke. Die Arbeitergesellschaft nahm ab. Die Bildungsgesellschaft nahm zu. Mehr als 260.000 Studierende hat das Ruhrgebiet heute und damit eine Zukunft.
Ich bin nicht im Ruhrgebiet geboren oder aufgewachsen. Ich schaue von außen darauf. Der Vorteil besteht darin, dass Außenstehende sich...