Zur Einstimmung
Dieses Buch erzählt in Rückblicken und Ausblicken von einer Lebensreise. Es ist keine Autobiografie, und es liefert auch keine systematische Abhandlung. Ich berichte von Erfahrungen und Einsichten und beschreibe so Teile eines Lebensverständnisses. Dabei hoffe ich, dass das, was in den einzelnen, ganz unterschiedlich gearteten Kapiteln zum Ausdruck kommt, doch so etwas wie ein Ganzes aufscheinen lässt.
Es kommt mir dabei nicht auf Originalität an. Wichtig war mir beim Schreiben vielmehr die Frage, ob auch tatsächlich richtig ist, was ich für richtig halte, und ob sich und wie sich das Richtige verwirklichen lässt. Ich habe gelernt, dass zur Durchsetzung von Ideen bisweilen eine große Portion Hartnäckigkeit nötig ist. Deshalb hindert mich auch meine Eitelkeit nicht daran, etwas, was ich früher an anderer Stelle vorgetragen oder geschrieben habe, zu wiederholen. Aber auch neue Einsichten sind mir beim Schreiben gekommen. Ob diese Gedanken richtig sind, stellt sich erst später heraus: Nur die Probe aufs Exempel beweist die Tauglichkeit von Gedanken für die Realität.
Ich folge dabei einer Grundthese von Karl Marx »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kömmt drauf an, sie zu verändern.« Also gilt für mich die Praxis als Beweis der Theorie, getreu der biblischen Verheißung: »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.« Wobei ich einschränkend gleich hinzufüge: Ohne rechte Theorie auch keine richtige Praxis. Also beißt sich – wie in jeder guten Dialektik – die Katze in den Schwanz. Eine gute Dialektik gleicht allerdings mehr der Spirale, auf der man sich hochschraubt, als dem Kreis, in dem sich alles dreht und deshalb wiederholt.
Die Geschichten zwischendurch
Tagebücher habe ich nie geschrieben. Wenn der Tag ereignisreich war, war ich am Abend müde und zu abgespannt, um noch einmal den Griffel in die Hand zu nehmen. Und wenn er fade verlaufen und ich faul gewesen war, überkam mich am Ende des Tages nicht die Lust, nachträglich aus ihm mehr zu machen, als er gewesen war.
Ich vertraue also darauf, dass mein Gedächtnis Wichtiges von Unwichtigem unterscheidet und nur das Erste als aufbewahrungswürdig behandelt. Mein Gedächtnis ist das Sieb, das Wichtiges zurückhält. In dem Schließfach meiner Erinnerung befinden sich also Schätze meines Lebenslaufes, aber auch Urnen, in denen ich die Asche des Bösen aufbewahrt habe. Eine »Urnenasche« trägt den Namen »Pinochet«.
Mit den biografischen Reminiszenzen, die ich in dieses Buch einstreue, versuche ich die Lebensnähe meiner Vorstellungen zu sichern. Außerdem erfasst mich im Alter plötzlich das Bedürfnis, meinen Enkeln mehr zu erzählen, als mein Vater mir erzählt hat. Nachträglich reut es mich, dass ich ihn nicht mehr ausgequetscht habe. Jetzt ist es zu spät, vieles noch zu erfahren, was ich eigentlich wissen will. Warum z. B. ist mein Vater nie ein Nazi geworden, obwohl er als erfolgreicher Motorrad-Rennfahrer von ihnen umworben wurde? Als Nazi hätte er sicher viele Karrierevorteile gehabt. So blieb er Kraftfahrzeugschlosser und war am Ende Omnibusfahrer. War er gar ein Held, der seiner Überzeugung wegen auf Aufstieg und Ansehen verzichtet hatte? Ich werde es nicht mehr herausbekommen. Mein Vater hat zu wenig von sich erzählt, und ich habe ihn zu wenig gefragt.
Meine Vorstellungen entnehme ich meinen Erfahrungen. Und die Erfahrungen entnehme ich meinen Erlebnissen, von denen ich altersbedingt mehr besitze als meine Enkel. Dagegen ist deren Vorrat an Zukunftserwartungen größer als meiner. Mit anderen Worten: Sie besitzen mehr Zukunft, ich mehr Vergangenheit. Ich versuche, mich von ihrer Neugierde auf das, was kommt, anstecken zu lassen, und »bezahle« mit alten Geschichten.
Aus Erfahrung klüger werden, das gehört zu den schwer zu haltenden guten Vorsätzen der Menschheit.
Meine wichtigste Empfehlung besteht aus dem »Oldie«: Nie wieder Krieg! Der Rat ist nicht originell, aber dennoch lebenswichtig. Andere haben schon vor mir diese Parole gerufen – mit niederschmetterndem Erfolg. Man soll aber die Hoffnung nie aufgeben. Immerhin erleben wir soeben in Europa die längste Friedensepoche seit Menschengedenken. Menschen hierzulande, die nicht älter als 72 Jahre alt sind, haben in ihrem ganzen Leben noch nie Krieg erlebt. Ich kenne keine Epoche in unserer Geschichte mit einer so langen Periode des Friedens. Irgendwo krachte es immer.
Ist das nichts?
Die vorhergehende Generation musste in der Zeitspanne von 70 Jahren dreimal Krieg über sich ergehen lassen oder sogar mitmachen: 1870/71, 1914/18, 1939/45.
Wir können von unserem siebzigjährigen Friedenserlebnis nicht genug bekommen. Es soll nie zu Ende gehen. Und vor allem soll dieser Frieden nicht nur uns Deutschen vorbehalten bleiben, sondern überall auf der Welt »ausbrechen« und dauern. Es kann uns nicht egal sein, wenn in Syrien oder anderswo Menschen um ihr bisschen Leben zittern.
Bevor der Krieg zu Ende war
Dieses Buch beginnt mit einem Kriegserlebnis, das mir bis heute in den Knochen steckt: »Meine längste Wanderung«. Das ist lange her. Doch ein Krieg geht nicht so leicht zu Ende, wie man das Licht ausknipst. Er wirkt nach und taucht in tausend Verkleidungen und Vorwänden immer wieder neu auf. An die Stelle des alten Krieges draußen an der Front ist der Terror drinnen in der Heimat und neben uns, in unserer Nachbarschaft, getreten. Es kämpfen keine Heere mehr gegeneinander, sondern Einzelne und Gruppen gegen alle und glaubenswütende Fanatiker gegen den »Rest der Welt«, der in Ruhe gelassen werden will. Die Frontlinie geht quer durch Staaten und Gesellschaften. Es gibt im Terrorismus keine Kriegserklärungen und Friedensverträge, sondern Aggression ohne Ankündigung und ohne Ende.
»Der Krieg ist der Vater aller Dinge«, behauptete vor ungefähr zweieinhalb Jahrtausenden Heraklit, und Ernst Jünger schwärmte noch im letzten Jahrhundert in heroischem Ton von der erfrischenden Kraft von »Stahlgewittern«, welche die Männlichkeit auf die Probe stellten. Darin sah er die Ertüchtigung zur Männlichkeit, die für viele seiner Generation identisch mit Menschlichkeit war: Männlichkeit ist Kampf, und Kampf ist menschlich. Das aber ist ein Teufelskreis der Barbarei.
Ich habe als Kind den Krieg in Gestalt einer höllischen Furie der Mordlust erlebt. Satanische Energien verwandelten eines Nachts schlagartig meine schöne, kindliche Welt in eine böse, grausame Hölle, und noch heute muss ich mich schütteln bei der Erinnerung daran.
Es war Fliegeralarm in Rüsselsheim, meiner Heimatstadt. Im wilden Geballere der Flak wurde ein feindliches Flugzeug vom nächtlichen Himmel abgeschossen. Erst zappelte das Flugzeug im Fadenkreuz der Scheinwerfer, dann der Kanonen. Kurz danach sah ich ein brennendes Wrack vom Himmel stürzen. Vier Piloten sprangen mit dem Fallschirm ab. Kaum waren sie auf der rettenden Erde angekommen, empfingen wütende Rüsselsheimer Bürger mit Knüppeln in besinnungsloser Rage die gerade glücklich dem Tod entkommenen Soldaten. Eine rasende Meute jagte die Piloten durch den Wald und knüppelte sie nieder, wie man früher Ratten erschlagen hat. Einer konnte entkommen.
Nach dem Krieg wurde den Totschlägern der Prozess gemacht. Wer war es? Keiner wollte zugeschlagen haben. Darüber entstand in meiner Heimatstadt großer Streit. Jeder schob die Schuld auf andere. Schließlich wurden fünf Rüsselsheimer Bürger zum Tode verurteilt und in Landsberg hingerichtet. Einer davon war der Wirt des angesehenen Gasthauses »Zum Löwen«, in dessen Wirtshaussaal damals unser schulischer Notunterricht abgehalten wurde: zwei Stunden, alle zwei Tage. Mehr Platz für alle Schulklassen gab es nicht. Die ordentliche Schule war damals von den amerikanischen Besatzungssoldaten in Beschlag genommen, also für uns nicht zugänglich.
Der Sohn des hingerichteten Wirtes war mein Klassenkamerad. Philipp war sein Name. Er hatte am Tag der Hinrichtung seines Vaters »schulfrei«. Unser Unterricht verlief auch an diesem Tag »ordnungsgemäß« wie immer, sozusagen ungerührt von all diesen Ereignissen. Kein Wort von einer Katastrophe. Philipp saß am nächsten Tag wieder auf seiner Schulbank, als wäre nichts geschehen. Keiner fragte ihn nach seinem Vater. Philipp wurde später ein bekannter Hockey-Spieler und noch später ein berühmter Physiker in den Vereinigten Staaten.
Wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen. Hitler und alles, was dazugehörte, waren tabu. Verdrängung war das Gebot der Stunde. Über »vorher« und »nachher« wurde nicht gesprochen. Die Hitlerzeit war kein Lehrstoff. So wenig Veränderung im Unterricht war nie. Schließlich unterrichtete uns derselbe Lehrer, von dem wir Schüler noch ein paar Monate zuvor jeden Morgen zu Schulbeginn mit »Heil Hitler« und stramm in die Höhe gestreckter rechter Hand begrüßt worden waren.
Die Klasse antwortete dann, ebenso stramm stehend und wie abgerichtet, mit »Heil Hitler« und erhob dabei die Hände zum Hitlergruß. Nach Kriegsende trat an die Stelle dieses lauten morgendlichen Appells ein leises Schulgebet. Keiner erklärte uns Schülern den Grund für diesen Wechsel. Der Lehrer hatte fürs Gebet ein Gedicht von Mörike ausgewählt:
»Herr! schicke, was du willt,
ein Liebes oder Leides.
Ich bin vergnügt, dass Beides
aus Deinen Händen quillt.
Wollest mit Freuden,
und wollest mit Leiden
mich nicht überschütten!
Doch in der Mitten
liegt holdes Bescheiden.«
Die biedermeierliche »holde Bescheidenheit« war die Antwort auf das Grauen der Hitlerzeit. Der Lehrer flüchtete in...