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E-Book

Die subjektive Krankheit

Kritik der Psychosomatik

AutorWolfgang Schmidbauer
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783688105304
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Jede Erkrankung, vom banalen Schnupfen bis zum tödlichen Herzinfarkt, wird durch die geheimnisvolle Macht des Subjekts mitbestimmt. Aber sein Zugang und sein Einfluß sind nicht rational kontrollierbar, objektiv meßbar. Moralisierende, in Leistungszusammenhänge eingebettete «Übersetzungen» der Krankheit in eine lexikalisch geordnete Organsprache führen zu einer Selbst-Kolonialisierung der Subjekte, die in die Formel mündet «Ich weiß schon, es ist psychosomatisch». Im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Fragen, die ein für allemal geklärt und dann abgeheftet werden können, stellen sich die Fragen nach unserem Schicksal und unseren Gefühlsbeziehungen immer wieder neu. Die Schwierigkeiten im Umgang mit eigener und fremder Krankheit liegen darin, daß die für einen möglichst schonenden und hilfreichen Umgang nötige Kreativität durch keine auch noch so brillante chemische, biologische oder psychologische Erkenntnis gewährleistet werden kann. Allenfalls kann man günstigere Bedingungen für diese Kreativität schaffen. Dazu soll diese Kritik der Psychosomatik nützlich sein.

Wolfgang Schmidbauer wurde 1941 geboren. 1966 promovierte er im Fach Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München über «Mythos und Psychologie». Er lebt in München und Dießen am Ammersee, hat drei erwachsene Töchter und arbeitet als Psychoanalytiker in privater Praxis.Neben Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, hat er auch eine Reihe von Erzählungen, Romanen und Berichten über Kindheits- und Jugenderlebnisse geschrieben. Er ist Kolumnist und schreibt regelmäßig für Fach- und Publikumszeitschriften.Außerdem ist er Mitbegründer der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik.

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Leseprobe

1 Die Hypochondrie


Spricht die Liebe, so spricht

Ach, schon die Liebe nicht mehr.

F. Hebbel, Tagebücher

So wie der Altknecht schon seit jeher die Bewirtschaftung des Gutes führte, mußte nun der Bediente die Kleiderkammer übernehmen, der Schaffner erhielt die Geräte, der Verwalter das Vermögen, und er, der Herr, hatte kein anderes Geschäft, als sich zu heilen.

Um den Zweck völlig zu erreichen, schaffte er sich sofort alle Bücher an, die über den menschlichen Körper handelten. Er schnitt sie auf und legte sie in Stößen nach der Ordnung hin, in der er sie lesen wollte. Die ersten waren natürlich die, die über die Beschaffenheit und Verrichtungen des gesunden Körpers handelten. Aus ihnen war nicht viel zu entnehmen, aber sobald er zu den Krankheiten gekommen war, so war es ganz deutlich, wie die Züge, die beschrieben wurden, in aller Schärfe auf ihn paßten – ja sogar Merkmale, die er früher nicht an sich beobachtet hatte, die er aber jetzt aus dem Buche las, fand er ganz klar und erkennbar an sich ausgeprägt und konnte nicht begreifen, wie sie ihm früher entschlüpft waren. Alle Schriftsteller, die er las, beschrieben seine Krankheit, wenn sie auch nicht überall den nämlichen Namen für sie anführten. Sie unterschieden sich nur darin, daß jeder, den er später las, die Sache noch immer besser und richtiger traf als jeder, den er vorher gelesen hatte.

Adalbert Stifter, Der Waldsteig

Der Essener Kommunikationswissenschaftler Horst Merscheim meint entdeckt zu haben, daß das Fernsehen Krankheiten übertragen kann. In seiner Doktorarbeit zum Thema «Medizin und Fernsehen» schildert er den «Morbus Mohl», benannt nach dem Leiter der ZDF-Gesundheitssendung «Gesundheitsmagazin Praxis», Hans Mohl. Die Krankheit äußere sich darin, daß an Tagen nach der Schilderung von Krankheitssymptomen in Fernsehsendungen die Zuschauer recht zahlreich in die Arztpraxen kämen, weil sie glaubten, sie litten an der Krankheit. Merscheims Arbeit beruht auf der Befragung von 33 Ärzten sowie der Inhaltsanalyse von Medizinsendungen in allen drei Fernsehprogrammen. Danach sorgen viele Sendungen für eine Bedarfsweckung bei den Patienten: Die Besucher in den Sprechzimmern verlangen, angeregt durch die Sendungen, von ihren Ärzten neue Untersuchungsmethoden.

Süddeutsche Zeitung, Nr. 292 (1984), S. 44

Die Meldung über hypochondrische Ängste, die sogenannte «Gesundheitssendungen» bewirken, ist ein Beispiel unter vielen möglichen. Länger bekannt ist der «Morbus clinicus». Gemeint sind Störungen von Medizinstudenten, die nach ihren Vorstudien über Chemie, Physik und Biologie in die klinischen Semester eintreten, d.h. über Krankheiten lesen. Viele von ihnen erkranken dann an sogenannten «eingebildeten Leiden». Diese sind ein fesselndes Beispiel für eine Situation, die gerade deshalb eine genauere Untersuchung verdient, weil in ihr die meist unbesehen geglaubte Formel «Wissen ist Macht» fast in ihr Gegenteil verkehrt wird: Wissen ist Ohnmacht.

Die «Krankheit», welche das Gesundheitsmagazin bei den Fernsehzuschauern oder das Studium der medizinischen Lehrbücher bei den Studenten auslöst, heißt «Hypochondrie». Ähnlich wie Neurose, unter der die alten Ärzte eine körperliche, auf einer Degeneration der Nerven beruhende Krankheit verstanden, ist auch Hypochondrie ursprünglich die Bezeichnung einer körperlichen Krankheit. Der Begriff wurde von Claudius Galenus (129 bis 199 n. Chr.) geprägt, einem der großen antiken Ärzte-Schriftsteller, der über 500 Traktate verfaßte (von denen etwa hundert erhalten sind). Hypochondrium ist die Stelle unterhalb des Brustbeins, der Oberbauch. Solange der Glaube an die überlegene Wissenschaft der antiken Ärzte das Abendland beherrschte, war diese Auffassung der Hypochondrie als eine Form hartnäckiger Leibschmerzen mit Blähungen und/oder Verstopfung allgemein anerkannt. Bis 1900 finden sich entsprechende Aussagen, wobei die Autoren aber immer unsicherer werden, ob es sich wirklich um einen körperlichen Leidenszustand handelt.

In Meyers Konversationslexikon von 1897 (Bd. 9, S. 125f) wird Hypochondrie als «Krankheit der Gebildeten» (Morbus eruditorum) identifiziert und als Gegenstück zur «weiblichen» Hysterie vorwiegend den Männern zugeschrieben. Molières «eingebildeter Kranker» ist ein Mann. In der Beschreibung der Symptome stehen die körperlichen vor den seelischen: Blähungen, Verstopfung, ängstliche Beobachtung des Stuhlgangs. Ein Husten weckt die Angst vor Schwindsucht und führt dazu, daß die Verdauungsbeschwerden plötzlich verschwinden. Die seelischen Schwierigkeiten sind eher die Folge als die Ursache des Krankheitsbildes: Krasse Selbstbezogenheit und Mangel an Leistungsfähigkeit werden betont. Nördliches Klima – vor allem das englische – und Kaffeegenuß gelten als «Risikofaktoren», wie wir heute sagen würden. Die Behandlung ist körperlich (Bäder, mäßige Bewegung, Diät mit Verzicht auf blähende Speisen), aber auch seelisch (Ablenkung, ruhige Sportarten wie Billard und Kegeln).

Entschiedener ist die Position der Encyclopaedia Britannica von 1911 (Hypochondriasis, XIV, S. 207): Hypochondrie gilt als krankhafter Zustand des Nervensystems mit wahnhafter Verkennung des eigenen Gesundheitszustands und Depressionen, die in schweren Fällen die Aufmerksamkeit vollständig absorbieren und den Kranken hindern, seinen Pflichten nachzukommen.

Das «Wörterbuch der Psychiatrie» von 1971, verfaßt von Uwe Henrik Peters, ist bereits sicher, daß Hypochondrie zwar von Galen als organische Krankheit gemeint, aber «später stets mit psychischen Momenten verbunden» wurde. Es sieht in der Hypochondrie keine einheitliche Erkrankung mehr, sondern «ein Symptom bzw. Syndrom, das bei verschiedensten psychotischen und nichtpsychotischen Erkrankungen vorkommt» (S. 204). Da gibt es die traumatische Hypochondrie, die durch äußere, plötzliche Belastungen entsteht (wie eine Kriegsverletzung oder einen Autounfall), die topische Hypochondrie, die an bestimmten Organen ansetzt, und die Hypochondria vaga, auch dichtende Hypochondrie und Grillenkrankheit genannt, bei der die Kranken zwar über Beschwerden klagen, aber keinen Ort für sie finden können («so ein ziehendes Gefühl im ganzen Körper»).

Die geschichtliche Entwicklung der mit dem Hypochondrie-Begriff verbundenen Erscheinungen läßt sich so zusammenfassen: Die Entdeckung, daß es sich «eigentlich» um eine Erlebnisstörung handelt, kam spät. Die für unser Empfinden typischen Hypochonder vermehrten sich heftig, sobald die bürgerliche Gesellschaft mit ihren klaren Trennungen von Vernunft und Unvernunft, Individuum und Gesellschaft, Leistung und Trägheit, Wissenschaft und Glaube auftrat. Die Hypochondrie scheint, ebenso wie die Hysterie, eine Folge jener Umstände zu sein, die auch die Grundlage der technischen Revolution wurden.

Die Gesetze des Zeitgeists sind schwer zu erfassen. Geschichtliche Entwicklungen sind so komplex, daß jeder Ansatz zu einem Verständnis unvollständig bleibt, weil er andere Ansätze ausschließt. Zulässig ist aber sicher die allgemeine Aussage, daß die schärfere Trennung von Körper und Geist in der Philosophie mit einer neuartigen Betonung der «Nervenkrankheiten» einhergeht. Im Mittelalter war das individuelle Wissen dem großen, göttlichen Ordnungssystem unterworfen. Neugier und ungezähmte Erkenntnislust waren verdächtig, ja verboten. Umberto Eco hat diesen Konflikt zwischen den traditionellen Mönchen und den städtisch-bürgerlichen, wissenschaftlichen Strebungen in seinem Roman «Il nome della rosa» veranschaulicht. Aber individuelles Wissen ist auch eine gefährliche, eine überfordernde Gabe. Das bürgerliche Individuum ist die gefährlichste Spezies, die sich im Lauf der kulturellen Evolution herausgebildet hat. Seine schrankenlose Vermehrung, seine Ohnmacht gegenüber den von ihm geschaffenen Strukturen, seine grenzenlose Gier nach Fortschritt und seine panische Angst vor Rückschritt, Trauer oder freiwilliger Unterwerfung werden vermutlich diesen Planeten unbewohnbar machen.

Das Wissen, welches das bürgerliche Individuum über sich selbst anhäuft, überfordert es kaum weniger, als seine Fabriken die Regenerationskraft der natürlichen Umwelt überfordern. Die Hypochondrie ist eine Folge davon. Ich sehe voraus, wie die verschiedenen Machtblöcke und Experten die Studie über die induzierte Hypochondrie durch das Fernseh-Gesundheitsmagazin verarbeiten werden. Der Kommunikationswissenschaftler wird kritisiert werden, weil er vorschnell verallgemeinert und nicht zwischen den nützlichen Folgen von Aufklärung (schließlich sollen doch die Patienten motiviert werden, etwas für ihre Gesundheit zu tun, nicht wahr?!) und den wenigen, sicher nicht durch Fernsehsendungen erkrankten «echten» Hypochondern («als Begleitsymptom einer depressiven oder schizophrenen Psychose bzw. im Rahmen einer soziopathischen Entwicklung …») unterscheidet. Die Fernsehgewaltigen werden sagen, eine dankbar aufzunehmende Anregung, gewiß, aber im Grunde unsinnig übertrieben.

Eine Seite des Problems wird vermutlich niemand erwähnen: die tiefe Störung des Körpergefühls, die solche Reaktionen auf eine Fernsehsendung ausdrücken. Seit es sie gibt, hat die «Nervenheilkunde» den Blick auf die psychologische Mißwirtschaft der bürgerlichen Gesellschaft verstellt, indem sie sich mit den «zu schwachen» Nerven einer auffälligen Minderheit befaßte. Die wahnhaften Hypochonder übertreiben eine allgemeine Entfremdung des Körpergefühls so, daß es jedem auffallen muß. Die spezifische Art des bürgerlichen Wissens wird gerade in den...

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