2 Das Trojanische Pferd
Timeo Danaos et dona ferentes.
Achilles war tot, es wurde die Stunde von Odysseus. Dieser ersann eine List: das heilige Roß Poseidons überlebensgroß und mit verborgenen Kriegern gefüllt den Trojanern als Abschiedsgeschenk anzubieten. Vergeblich sagte Laokoon, was oben zitiert ist. Die Trojaner glaubten sich vom Krieg erlöst und holten ihren eigenen Untergang in den Ring ihrer Mauern; die versteckten Kämpfer töteten die Wachen, öffneten die Tore, Troja wurde geplündert und verbrannt.
Auch wir haben in der Hoffnung auf ein großes Geschenk Gefahren in unsere einst enge und beschützte Welt geholt, die eine globale Brandkatastrophe nicht mehr unmöglich erscheinen lassen. Charles Perrow hat nicht nur die unvermeidlichen Risiken der Großtechnik benannt, sondern auch die Szenarien der Katastrophenverdrängung. Beim nächsten «Unfall» werden wahrscheinlich wie bei den bisherigen die am stärksten Betroffenen als letzte informiert, wird der Unfall zunächst als Bedienungsfehler oder als Versagen eines leicht ersetzbaren Elements hingestellt, um die Frage nach dem Verzicht auf das gefährliche Gesamtsystem gar nicht erst aufkommen zu lassen, spielen Vertuschungsmanöver in allen nachfolgenden Untersuchungen eine große Rolle. Ist das Risiko endlich nicht mehr zu leugnen, wird es als absolut notwendig dargestellt, wenn wir nicht zurück in die Steinzeit wollen.
Nach der letzten einschlägigen Katastrophe, jener von Tschernobyl, hätte ganz Weißrußland evakuiert werden müssen, nicht nur das Gebiet im Radius von dreißig Kilometern um den Reaktor. Es gibt praktisch keine Chance, sich auf solche Szenarien vorzubereiten oder vor ihnen zu schützen. Nur wenn sie niemals eintreten, wäre die Atomenergie zu rechtfertigen. Die Katastrophe trifft das arme Bäuerlein, das mit einer Petroleumlampe zu Bett geht, ebenso wie den Konsumenten, der auf den Komfort eines elektrifizierten Haushaltes nicht verzichten kann. Sie verseucht das Anwesen mit der Solarzelle auf dem Dach ebenso wie die Aluminiumfabrik. Anders als bei einer Vulkankatastrophe oder einem Erdbeben müssen sich die Opfer mit der klaren Erkenntnis auseinandersetzen, daß dieses Unglück vermeidbar gewesen wäre. Wer von den Hunderttausenden, die an den Folgen der Atomkatastrophe in der Ukraine und in Weißrußland leiden und von denen die meisten noch nicht geboren sind, hat eine Wahl zwischen den Segnungen des Komforts der Verschwendungselektrifizierung und der Zerstörung von Heimat und Leben? Werden die Stromproduzenten und Stromverbraucher schon vor einer solchen Katastrophe umdenken?
Die Spanne des Aufatmens nach einer großen Anstrengung birgt Gefahren. Der Wechsel von der Industrie- in die Konsumgesellschaft hat diese Qualität. In den Anfängen der Industrialisierung war klar, daß die Versorgung aller Menschen mit lebensnotwendigen Gütern harte Arbeit und ständiges Ringen mit Widerständen der Materie und mit rückständigen sozialen Strukturen voraussetzt. Gleichzeitig machte sich der Optimismus breit, daß der wissenschaftliche und technische Fortschritt moralische Fortschritte ermöglichen, ja erzwingen würde. Anders als die neolithische Umwälzung durch Ackerbau und Viehzucht beruhte die industrielle Revolution auf durchdachten Projekten. Das weckte den Glauben, daß es möglich sein müßte, auch die Humanität zu planen und zu verwirklichen.
Mit dem Schritt zur Konsumgesellschaft hat sich diese Situation grundlegend geändert. Ihre Anfänge liegen in den Desillusionierungen des Ersten Weltkriegs. In den Materialschlachten starben Millionen für die Borniertheit eines autoritären Systems. Die Idee einer Gemeinschaft aller Gebildeten war verloren. Der Totschlag zählte mehr als das Argument («Jeder Schuß ein Russ’, jeder Stoß ein Franzos’, jeder Tritt ein Brit’»). Die siegreichen Länder bewältigten diese Enttäuschung durch die Orientierung an den neuen Werten des Konsums – allen voran die Vereinigten Staaten. Bei den Verlierern entstanden Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus.
Es gab keinen Plan für einen Fortschritt der Menschheit mehr, aber es gab die Vision, die eigene Gruppe auf Kosten anderer Gruppen größer und stärker zu machen. Die Folgen waren neokolonialistische Eroberungskriege (wie die der Italiener in Abessinien), die mit größter Brutalität geführt wurden, und innere «Säuberungen». Im Nazideutschland stand der Jude für den «Kriegsgewinnler», der auf Kosten der darbenden Frontsoldaten schmarotzt. Trotz des Luxus, in dem die NS-Bonzen lebten, wurden für das Volk asketische Ideale gepredigt. Die ironische Verachtung, mit der in der Gegenwart manche Publizisten den Konsumverzicht bedenken, hängt auch mit einem verspäteten Trotz gegen NS-Propagandalügen zusammen, die das Opfer von Bequemlichkeit für die Gemeinschaft forderten. Ein Beleg dafür ist die rhetorische Frage von Goebbels: «Wollt ihr Butter oder Kanonen?» Die Rede Himmlers vom 4. Oktober 1943 in Posen vor den SS-Gruppenführern demonstriert, wie selbst die Befriedigung sadistischer Neigungen noch als asketische Disziplin und Verwirklichung einer besseren Welt legitimiert wurde. In ähnlicher Weise wurde auch in der Stalin-Ära der Verzicht auf alle «westlichen» Bequemlichkeiten zugunsten eines künftigen Paradieses der Werktätigen gefordert und die Massenvernichtung wirtschaftlicher Gruppen wie der freien Bauern als notwendige Inhumanität auf dem Weg zu einer utopischen Ordnung gerechtfertigt.
Zur Konsumgesellschaft gehört, daß sie bisher keinen Denker hervorgebracht hat, der ähnlich überzeugend ihre Grundsituationen darstellt, wie es die Philosophen der Industriegesellschaft getan haben: Schopenhauer, Nietzsche, Darwin, Marx und Freud. Die Ursache liegt in dem regressiven Prinzip der Konsumgesellschaft, das eine völlig neuartige Umgangsform mit Informationen – also auch mit Wissen über die eigenen Bedingungen – mit sich bringt. Neue Ideen verlieren rasch das ihnen einmal entgegengebrachte Interesse.
Die bürgerliche Revolution des 18. Jahrhunderts zitierte empört den Spruch der untergehenden Feudalgesellschaft: Nach uns die Sintflut. Diese Position schien ein Zeichen, daß die herrschende Klasse bis ins Mark verfault war. Sie mußte durch neue Machtstrukturen abgelöst werden, die bereit waren, verantwortungsvoll die gesellschaftliche Zukunft zu gestalten. Die Konsumhaltung setzt den Spruch der verwöhnten Nobilität in die Tat um. In dieser Entwicklung steckt etwas Ungeplantes, Zufälliges, weil nicht mehr die Menschen mit ihren Gedanken und Erklärungen den historischen Prozeß gestalten, sondern Waren und die Werbung für Waren. Die Moral ist keineswegs aus der Öffentlichkeit verschwunden, aber sie muß Eitelkeiten herstellen, und sei es nur die, eine treuere Gattin zu sein als die Princess of Wales. Die Verbindung zwischen Anstrengung und Erfolg löst sich auf. Parallel zum Triumph der optischen Medien verlieren Bücher und Zeitschriften an asketischer Qualität. Sie bemühen sich, dem Leser jede Anstrengung zu ersparen.
Wer die frühen Kataloge der Versandhäuser studiert, findet nüchterne, informative Beschreibungen, die allein an die Vernunft und die Warenkenntnis des Angesprochenen gerichtet sind. Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Werbung emotionaler, als sei eine bisher nie erkannte Möglichkeit gefunden, Konsumgüter zu lieben. Diese sanfte, emotionale Werbung wird in den späteren Phasen der Konsumgesellschaft aggressiver und umfassender. Die Ware beansprucht einen wachsenden Bereich der psychischen Realität; gegenwärtig ist sie in vielen mit höchstem Aufwand gestalteten Kurzfilmen und Videos scheinbar nur noch eine Nebensache, als würde aus einem Luftschloß im Vorbeigleiten ein Schlüssel fallen, der Zutritt zu von Wundern erfüllten Räumen gewährt.
Früher wurde der Raucher darauf hingewiesen, daß die Papierhülsen mit feinsten Orienttabaken gefüllt seien. Heute bezaubern uns aufregende Expeditionen, Cowboys oder liebevoll ausgemalte Szenen voller Erotik. Irgendwann taucht der Name einer Zigarette auf; es kann aber auch ein Parfüm, ein Joghurt oder ein Motorrad sein. Die Werbung bietet Chancen, sich unverwechselbar zu fühlen, zu lieben, zu verschmelzen. Die Waren sind aus Teilen eines progressiven Universums zu Rückzugsmöglichkeiten aus einer gestörten und zerstörten Welt geworden. Die typische Sequenz einer Autoreklame ist, daß sich ein Zündschlüssel dreht, ein Motor brummt, eine elegante Karosserie im besten Licht über freie Straßen durch schöne Landschaften eilt und schließlich an einem stillen Platz im Gebirge oder am Meer stehenbleibt. Verkauft wird die Möglichkeit, der bedrückenden, kaputten Realität zu entfliehen, welche durch eben die beworbenen Vehikel vergiftet wurde.
Als der Golfkrieg geführt wurde und die Medien voller Bilder von Kampfpiloten und Jagdflugzeugen waren, meldeten sich mexikanische Landarbeiter bei der amerikanischen Luftwaffe. Sie wollten Einsätze gegen den Irak fliegen. Viele von ihnen konnten weder lesen noch schreiben.
Die Unfähigkeit der großen Konfessionen, sich auf diese Situation einzustellen, zeigt deutlich, daß es keine Weltreligion gibt. Die optischen Massenmedien transzendieren die Orientierung an einer «heiligen Schrift». Ein Hollywood-Film über Moses oder Salomon trivialisiert die Bibel mehr, als es genaueste rabbinische Kontrolle der Dialoge wieder gutmachen kann. Es sind dieselben Schauspieler und Kameramänner, die ein Jahr später einen Western drehen werden und ein Jahr früher eine Schnulze gedreht haben. Das heißt: die Bilder...