2Sichtweisen: Daten und Definitionen
2.1Intelligenzminderung und geistige Behinderung
Menschen mit geistiger Behinderung werden auch heute noch, ausgelöst durch ihre meist unmittelbar spürbaren Beeinträchtigungen und gelegentlich durch außergewöhnliche körperliche Merkmale, eng mit Krankheit, »Gestörtheit« und genetischen Ursachen assoziiert und damit primär der Zuständigkeit medizinischer Disziplinen zugeordnet, auch wenn wesentliche Impulse für eine Verbesserung der Alltagsbewältigung dieser Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen seit Jahrzehnten Disziplinen wie (Heil-)Pädagogik und Psychologie zu verdanken sind.
Die Überwertigkeit medizinischer Zuständigkeitswünsche könnte dem Bedürfnis geschuldet sein, jedwede Art von Einschränkung effizient, schnell und nachhaltig zu »beseitigen«, wenn es schon nicht gelungen ist, sie pränatal zu verhindern. Zu Kinderärzten und/oder den muliprofessionell aufgestellten Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) besteht ein über Jahre gewachsenes Vertrauen, es ist normal, zu ihnen zu gehen, alles andere zunächst ungewöhnlich. Zweifellos sind hier ganzheitlich psychische Aspekte integrierende Konzepte entstanden, auch mit einem Wissen um die Gefahren überzogener, auf die Beseitigung von Defekten gerichteter Förderziele. Wird die Akzeptanz der Grenzen von Entwicklung außer Acht gelassen, beispielsweise bei noch mehr Förderung und Überforderung von Eltern und Kindern mit sehr vagen Ergebnissen, ist mit erheblichen »Kollateralschäden« für die Familie zu rechnen. Unter solchen Prämissen können dann die Medizin und durch sie initiierten Fördertherapien vom Segen zum Fluch werden, indem sie der Akzeptanz des Nichterreichbaren und der Entwicklung einer ganzheitlichen Annahme des Kindes mit seinen Handicaps ebenso im Weg stehen wie guten Entwicklungsoptionen für alle Familienmitglieder.
Bei fast allen Menschen mit einer schweren Intelligenzminderung (IQ kleiner als 50) kann eine genetische Ursache resp. ein die fetale Entwicklung beeinträchtigender oder schädigender Einfluss festgestellt werden. Bei leicht intelligenzgeminderten Menschen liegt dieser Anteil bei zwei Dritteln. Bei einem Drittel gibt es keine sicheren Hinweise auf die ursächlichen Bedingungen der Intelligenzminderung (Neuhäuser u. Steinhausen 2003). Zudem wird angenommen, dass sich Intelligenz (besser: der gemessene Intelligenzquotient) in der Bevölkerung »normalverteilt« und daher von vornherein mit einem offensichtlich genetisch bestimmten Anteil von intelligenzgeminderten Personen gerechnet werden muss (»Normvariante«).
»Genetisch« umfasst hier – nicht ganz korrekt – sämtliche vorgeburtlichen biologischen Faktoren, die in einem »ursächlichen« Zusammenhang mit einer angeborenen Intelligenzminderung stehen. Sie erklären 30–60 % der Varianz. Hinzukommen Schädigungen des ZNS unter der Geburt (2–10 %) und Erkrankungen des Gehirns in der späteren Entwicklung (1–5 %). »Kulturell-familiär« bedingte Intelligenzminderungen werden auf 3–12 % geschätzt. Es bleibt immer noch ein beträchtlicher Anteil von ca. 30 % (v. a. bei den leichter beeinträchtigten Menschen (IQ 70–50), bei denen die Ursachen nicht bekannt sind (vgl. auch Tzschach u. Ropers 2007). Festzuhalten ist, dass zwischen dem genetischen Defekt und der Ausprägung der Intelligenzminderung kein linear-kausaler Zusammenhang besteht. Zwischen dem für sich schon komplexen »Genotyp« und dem »Phänotyp« sind eine Fülle von Faktoren wirksam, die zu einer mehr oder weniger breiten Varianz der phänotypischen Eigenschaften, u. a. eben auch der Intelligenzminderung, führen (vgl. Kap. 6 Verhaltensphänotypen).
Intelligenzminderung wird hier weder als Krankheit noch als Störung (unabhängig von den ursächlichen Bedingungen) verstanden, sondern als eine wesentliche konstituierende Bedingung individuellen Lebens. Der Begriff der geistigen Behinderung beschreibt den psychosozialen Zustand eines Menschen mit einer signifikanten Intelligenzminderung in einer konkreten Gesellschaft. Mit der Feststellung einer geistigen Behinderung sind daher sowohl die Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung eines Menschen mit seinen besonderen (neuro-)psychologischen und kognitiven Bedingungen der Intelligenzminderung gemeint, als auch die Möglichkeiten, die ihnen die moderne Gesellschaft bietet, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Die Lebenssituation von Menschen mit einer Intelligenzminderung ist daher immer auch vom aktuellen historisch-gesellschaftlichen Kontext geprägt.
Aus systemischer Sicht ist Intelligenzminderung nicht Produkt der Autopoiese eines Systems, das damit sein Überleben sichert (»Problem einer Übergangssituation«; Lieb 2014, S. 147), sondern selbst konstituierendes Element des Systems. Intelligenzminderung ist kein Zeichen (»Symptom«) für den als »vorübergehend gedachten labilen Zustand eines Systems« oder das »Resultat einer Irritation des Systems« (ebd., S. 146 f.).
Intelligenzminderung ist insofern auch kein »latenter« Zustand wie etwa eine seelische Instanz oder ein innerseelischer Prozess, sondern besitzt eigene (neuro-)psychologische Gesetzmäßigkeiten, die wesentliche Aspekte der vielfältigen (manifesten) »Äußerungsformen« von Menschen mit Intelligenzminderung erklären können.
Intelligenzminderung als eine Wesenseigenschaft eines Menschen kennzeichnet weder eine Krankheit oder ein spezielles psychiatrisches Störungsbild, noch konstituiert sie eine Andersartigkeit, die es erlauben würde, jemanden mit dieser Eigenschaft außerhalb der Gattung Mensch zu stellen. In ihrem Menschsein unterscheiden sich Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Intelligenzminderung nicht von anderen Menschen. Sie sind – wie jeder Mensch – etwas Besonderes und Einzigartiges. Sie haben mit sich und ihrer Welt in je eigener Weise umzugehen gelernt und ihr Leben gestaltet. Von daher sind sie selbstverständlicher Teil der menschlichen Vielfalt, wie es die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in den Allgemeinen Grundsätzen (Art. 3, Abs. d) anmahnt. Das bedeutet allerdings nicht, dass in der »Vielfalt« die evidenten Ungleichheiten und Unterschiede zwischen Menschen aufgelöst werden. Im gleichen Satz fordert die UN-Konvention daher auch die »Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen«.
Wesentliche Teile der Konvention bestehen aus sehr konkreten Forderungen bezüglich der zusätzlichen Mittel, die behinderte Menschen »wegen ihrer Behinderung« zur Verwirklichung ihrer Rechte brauchen. Die Besonderheiten von Menschen mit Intelligenzminderungen müssen also respektiert werden, weil nur so Teilhabeförderung i. S. der UN-Konvention gelingen kann oder – anders ausdrückt – Menschsein möglich ist.
Die Besonderheiten erklären sich wesentlich aus den kognitiven Beeinträchtigungen und ihren erheblichen psychosozialen Folgen. Es muss bekannt sein (z. B. durch differenzierte Diagnostik), an welcher Stelle, mit welchen Mitteln und mit welchen subjektiven Zielen des Betroffenen Unterstützung geleistet werden soll. Teilhabe bedeutet nicht die unbegrenzte Teilnahme an gesellschaftlichen Systemen, auf die der intelligenzgeminderte Mensch nur einfach zuzugreifen bräuchte, selbst wenn sie – wie in der Vision der inklusiven Gesellschaft – ungehindert zur Verfügung stehen sollten. Teilhabe bedeutet das bestmögliche »Einbezogensein« in gesellschaftliche Bereiche im Kontext der subjektiven Funktionsfähigkeiten (im Sinne der ICF 2010). Es ist ein komplexer Prozess der subjektiven Lebensgestaltung in konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen.
Menschen mit Intelligenzminderung sind – als Teil der menschlichen Vielfalt – eine gesellschaftliche Realität (genauso wie z. B. Menschen mit eingeschränkter oder fehlender Hör- oder Sehfähigkeit, mit fehlenden oder nicht bzw. eingeschränkt funktionsfähigen Gliedmaßen oder mit schweren persönlichkeitsverändernden psychischen Störungen), die selbstverständlich immer mit einer – mehr oder weniger leidvollen – subjektiven Realität verknüpft ist. Dies zu leugnen oder schamhaft zu umschreiben oder lediglich als beliebige »Wirklichkeitskonstruktion« zu betrachten, wird dieser »harten« Realität nicht gerecht. Insbesondere respektiert sie nicht die subjektiven Lebensbedingungen der betroffenen Menschen. Die Ablehnung von Diagnostik im Sinne der kategorialen Feststellung z. B. einer Intelligenzminderung wird ethisch-humanistisch begründet, weil sie den Menschen auf seinen Defekt reduziert, ihn in aller Öffentlichkeit diskriminieren und der »Selektion« (in Sonderwelten) aussetzen würde. Diese erscheint als moralisch wertvolle Haltung, die der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen...