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E-Book

Die Mutter aller Fragen

AutorRebecca Solnit
VerlagTempo
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783455001785
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
»Warum haben Sie keine Kinder?« Diese »Mutter aller Fragen« wird Rebecca Solnit hartnäckig von Journalisten gestellt, die sich mehr für ihren Bauch als für ihre Bücher interessieren. Warum gilt Mutterschaft noch immer als Schlüssel zur weiblichen Identität? Die Autorin findet die Antwort darauf in der Ideologie des Glücks und tritt dafür ein, lieber nach Sinn als nach Glück zu streben. Außerdem erklärt sie in ihren Essays, warum die Geschichte des Schweigens mit der Geschichte der Frauen untrennbar verknüpft ist, warum fünfjährige Jungen auf rosa Spielzeug lieber verzichten, und nennt 80 Bücher, die keine Frau lesen sollte. Sie schreibt über Männer, die Feministen und Männer, die Vergewaltiger sind, und setzt sich gegen jegliches Schubladendenken zur Wehr. Wenn Männer mir die Welt erklären sorgte weltweit für Furore - in ihren neuen Essays setzt Rebecca Solnit ebenso scharfsichtig wie humorvoll ihre Erkundung der heutigen Geschlechterverhältnisse fort. Ein wichtiges, Mut machendes Buch aus dezidiert feministischer Perspektive, über und für alle, die Geschlechteridentitäten infrage stellen und für eine freiere Welt eintreten.

Rebecca Solnit, Jahrgang 1961, ist eine der bedeutendsten Essayistinnen und Aktivistinnen der USA. Sie ist Herausgeberin des Magazins Harper's und schreibt regelmäßig Kolumnen für den Guardian. Für ihre Werke erhielt sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Bei Hoffmann und Campe erschienen unter anderem ihre Bände Wenn Männer mir die Welt erklären (2015) und Die Dinge beim Namen nennen (2019). Rebecca Solnit lebt in San Francisco.

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Leseprobe

1 Das Schweigen wird gebrochen


Eine kurze Geschichte des Schweigens


»Was ich am meisten bereute, war mein Schweigen. Und es gibt so viele Schweigen zu brechen.«

Audre Lorde

 

 

I. Der Ozean rund um den Archipel


Schweigen ist Gold – so hieß es doch immer, als ich noch klein war. Später änderte sich alles. »Schweigen ist gleich Tod!« riefen die queeren Aktivist*innen auf den Straßen, als sie gegen Ignoranz und Unterdrückung rund um das Thema Aids kämpften. Das Schweigen ist der Ozean des Ungesagten, des Unsagbaren, Unterdrückten, Ausgelöschten und Ungehörten. Er umspült die versprengten Inseln, gebildet von jenen, denen es erlaubt ist, zu sprechen, von dem, was gesagt werden kann, und von jenen, die zuhören. Das Schweigen tritt aus vielen Gründen und in vielen verschiedenen Arten auf; jede*r hat sein oder ihr ganz persönliches Meer aus unausgesprochenen Wörtern.

Das Englische ist voll von Wörtern, deren Bedeutungen sich überlagern, aber in diesem Essay soll silence, das »Schweigen«, als etwas betrachtet werden, das Menschen auferlegt wird, wohingegen quiet, die »Stille«, etwas ist, das aktiv gesucht wird. Zwar ist die Ruhe eines stillen Ortes, die Beruhigung der Gedanken im stillen Rückzug von den Worten und der Betriebsamkeit akustisch das Gleiche wie das Schweigen der Einschüchterung oder der Repression. Psychisch und politisch sind das aber zwei vollkommen unterschiedliche Dinge. Was ungesagt bleibt, weil jemand Stille und Introspektion sucht, unterscheidet sich von dem, das nicht gesagt wird, weil es massive Drohungen oder viel zu hohe Hürden gibt. Es ist wie der Unterschied von Schwimmen und Ertrinken. Stille verhält sich zum Lärm wie Schweigen zur Kommunikation. Die Stille der Zuhörer*in macht dem Sprechen anderer Platz, und die Stille der Leser*in nimmt das auf einer Seite Geschriebene auf wie weißes Papier die Tinte.

»Wir sind wie Vulkane«, bemerkte Ursula K. Le Guin einmal. »Wenn wir Frauen unsere Erfahrungen als unsere Wahrheit verkaufen, als eine menschliche Wahrheit, ändern sich sämtliche Landkarten. Neue Berge entstehen.« Die neuen Stimmen brechen wie unterseeische Vulkane im offenen Meer aus, und neue Inseln entstehen – was eine gleichermaßen heftige wie erschütternde Angelegenheit ist. Die Welt verändert sich. Schweigen führt dazu, dass Menschen ohne Zuflucht leiden, dass Heuchelei und Lügen wachsen und gedeihen und Verbrechen ungestraft bleiben. Wenn unsere Stimme ein zentraler Aspekt unseres Menschseins ist, bedeutet das Stimmlos-gemacht-Werden die Entmenschlichung beziehungsweise die Exklusion von der eigenen Menschlichkeit. Und die Geschichte des Schweigens ist für die Geschichte der Frauen eine ganz zentrale.

Worte bringen uns zusammen, das Schweigen dagegen trennt uns und beraubt uns der Unterstützung, Solidarität oder auch schlicht der Gemeinschaft, die das Sprechen stiftet oder erzeugt. Manche Baumarten entwickeln ein unterirdisches Wurzelsystem, das die einzelnen Stämme miteinander verbindet und die Bäume zu einem so stabilen Ganzen verwebt, dass sie nicht mehr so schnell vom Wind umgeweht werden können. Geschichten und Unterhaltungen sind wie diese Wurzeln. Über ein ganzes Jahrhundert hinweg war die menschliche Reaktion auf Stress und Gefahr definiert als »Kampf oder Flucht«. In einer im Jahr 2000 durchgeführten Studie stellten mehrere Psycholog*innen an der University of California, Los Angeles, fest, dass die diesbezügliche Forschung größtenteils auf Testreihen an männlichen Ratten und Männern basierte. Die Untersuchung von Frauen brachte sie auf eine dritte, ebenfalls oft angewandte Möglichkeit, sich angesichts von Stress und Gefahr zu verhalten: sich solidarisch zusammenzuschließen, sich zu unterstützen, sich gegenseitig zu beraten. Die Studie stellte fest, dass »weibliche Verhaltensmuster stärker von Mustern des tend and befriend, des ›Kümmerns und Anfreundens‹, geprägt werden. Das Kümmern impliziert auch fürsorgliche Aktivitäten, darauf ausgelegt, sich selbst und die Nachkommen zu schützen – Nachkommen, die die Sicherheitslage verbessern und Notsituationen reduzieren. Beim Anfreunden geht es um das Aufbauen und Aufrechterhalten sozialer Netzwerke, die diesem Prozess förderlich sind«. Viel davon wird durch Sprechen bewerkstelligt, dadurch, dass man von seinen jeweiligen Zwangslagen erzählt, dass einem zugehört wird, dass man Mitgefühl und Verständnis heraushört aus der Reaktion der Menschen, um die man sich kümmert und mit denen man sich anfreundet. So etwas tun nicht nur Frauen. Vielleicht tun Frauen es routinierter. Auch ich komme genau auf diese Art mit den Dingen klar beziehungsweise lasse mir von meiner Community – jetzt, da ich eine habe – beim Klarkommen helfen.

Wer nicht in der Lage ist, die eigene Geschichte zu erzählen, führt ein trostloses Dasein. Manchmal ist das buchstäblich so, als wäre man lebendig begraben: wenn dir niemand zuhört, obwohl du sagst, dass dein Exmann versucht, dich umzubringen, wenn dir niemand glaubt, obwohl du sagst, du habest Schmerzen, wenn niemand deine Hilferufe hört oder du dich nicht mal traust, um Hilfe zu rufen, weil dir eingetrichtert worden ist, andere Menschen nicht mit deinen Hilferufen zu behelligen. Wenn man es für unangemessen hält, wenn du im Meeting den Mund aufmachst, wenn du nicht zugelassen wirst zu einer mit Macht ausgestatteten Institution, wenn du Kritik ausgesetzt bist, die unsachlich ist und deren Subtext besagt, dass Frauen weder anwesend sein noch überhaupt gehört werden sollten. Geschichten retten dir das Leben. Sie sind dein Leben. Wir sind unsere Geschichten. Geschichten, die beides sein können: Gefängnis und Stemmeisen, um das Gefängnistor aufzubrechen. Wir denken uns Geschichten aus, um uns selbst zu retten oder um uns und anderen eine Falle zu stellen, Geschichten, die unsere Stimmung aufhellen oder uns gegen die steinerne Mauer unserer Grenzen und Ängste schleudern. Befreiung ist in Teilen immer auch ein Erzählprozess: ein Prozess, der Geschichten aufknackt, Schweigen bricht, neue Geschichten erfindet. Ein freier Mensch erzählt die eigene Geschichte. Ein Mensch, der wertgeschätzt wird, lebt in einer Gesellschaft, in der ihre oder seine Geschichte einen Platz hat.

Gewalt gegen Frauen passiert oft als Gewalt gegen unsere Stimmen und unsere Geschichten. Sie ist die Zurückweisung unserer Stimmen – und dessen, was eine Stimme überhaupt bedeutet: das Recht auf Selbstbestimmung, auf Teilhabe, auf Zustimmung oder eine abweichende Meinung, das Recht darauf, zu leben und mitzumachen, zu interpretieren und zu erzählen. Ein Ehemann schlägt seine Frau, um sie zum Schweigen zu bringen; jemand, der sein Date oder seine Bekannte vergewaltigt, weigert sich, dem Nein seiner Opfer die Bedeutung zu lassen, die es hat: dass nämlich der Körper einer Frau unter die Gebietshoheit allein dieser Frau fällt. Die rape culture behauptet, die Aussage einer Frau sei wertlos und unglaubwürdig. Auch Abtreibungsgegner*innen wollen die Frauen in ihrer Selbstbestimmtheit mundtot machen. Und ein Mörder lässt Menschen für immer verstummen. All diese Fälle zeugen davon, dass ein Opfer keine Rechte und keinen Wert hat und nicht als gleichwertig gilt. Solche Stummstellungen finden auch in geringfügigerem Umfang statt: Menschen, die im Netz so lange drangsaliert und belästigt werden, bis sie schweigen, die ausgeschlossen werden von der Unterhaltung, die kleingemacht, gedemütigt und abgewiesen werden. Eine Stimme zu haben ist das Wichtigste. Zwar geht es bei den Menschenrechten nicht ausschließlich darum, aber es steht in ihrem Zentrum, weswegen man die Geschichte der (nicht existenten) Frauenrechte als eine Geschichte des Schweigens und des Brechens dieses Schweigens interpretieren kann.

Sprache, Worte und Stimme ändern die Dinge manchmal von Grund auf – immer dann, wenn sie zu Inklusion und Anerkennung führen, Entmenschlichung rückgängig machen und Rehumanisierung ins Werk setzen. Manchmal sind Sprache, Worte und Stimme nur die Voraussetzungen dafür, Regeln, Gesetze und Regime so zu verändern, dass sie Gerechtigkeit und Freiheit hervorbringen. Manchmal sind allein das Sprechenkönnen, Gehörtwerden und Glauben-geschenkt-Bekommen ausschlaggebend dafür, Teil einer Familie, einer Community, einer Gesellschaft zu werden. Manchmal lässt unsere Stimme Gemeinschaftliches auch entzweibrechen; manchmal wird das Gemeinschaftliche zum Gefängnis. Und wenn dann Worte die Unaussprechlichkeit durchbrechen, wird das, was vorher von einer Gesellschaft toleriert wurde, manchmal untragbar. Nicht davon Betroffene können die Auswirkungen von Diskriminierung, polizeilicher Brutalität oder häuslicher Gewalt oft nicht sehen oder fühlen: Geschichten jedoch machen das Problem greifbar und unausweichlich.

Mit »Stimme« meine ich nicht nur die tatsächliche Stimme – also den Klang, den Stimmbänder in den Ohren anderer erzeugen –, sondern die Möglichkeit, seine Meinung zu sagen, zu partizipieren, sich selbst wahrzunehmen und als freier Mensch mit eigenen Rechten wahrgenommen zu werden. Was auch das Recht einschließt, nichts zu sagen – beispielsweise das Recht, nicht um eines Geständnisses willen gefoltert zu werden wie manche politische Gefangene. Oder das Recht, Fremden, die sich einem annähern, nicht per se zu Diensten zu sein, wie das einige Männer von jungen Frauen erwarten, wenn sie Aufmerksamkeit und Schmeichelei fordern und, wenn diese ausbleiben,...

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