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Verschleppt im Jemen

Die verzweifelte Suche nach meiner Schwester Nadja

AutorZana Muhsen
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2017
ReiheErfahrungen und Schicksale ? Eine wahre Geschichte über moderne Sklaverei 2
Seitenanzahl249 Seiten
ISBN9783732551781
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR

Zana Muhsen ist die Flucht aus dem Jemen gelungen. Acht Jahre lang war sie in einer Zwangsehe gefangen, die von ihrem Vater arrangiert worden war. Nun ist sie zurück im heimatlichen England, doch ihr Kampf ist noch lange nicht vorbei. In der bewegenden Fortsetzung von Noch einmal meine Mutter sehen schildert Zana den verzweifelten Kampf um ihren Sohn und ihre Schwester, die sie im Jemen zurücklassen musste und denen sie das Versprechen gab: »Ich werde nicht aufgeben, bis auch ihr eure Freiheit zurückerhalten habt!«

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Leseprobe

Noch einmal meine Mutter sehen


Noch immer wache ich mitten in der Nacht schweißgebadet und vor Angst zitternd auf, weil ich geträumt habe, ich sei zehn Jahre später wieder in den Jemen gereist, um Nadja zu besuchen, und säße nun erneut in der Falle.

Ich fühle dann noch immer alles so deutlich, als sei es Realität. Ich spüre die Enge des Raumes, in dem wir sitzen, und die neugierigen Blicke der Dorfbewohner, die uns beobachten. Einige von ihnen schauen mich argwöhnisch und feindselig an. Andere beschimpfen mich lautstark, weil ich ihnen so viele Probleme verursacht, sie vor aller Welt bloßgestellt und so viel Schande über sie gebracht habe.

In meinen Träumen wissen sie, wie sehr wir sie hassen und dass wir alles versuchen werden, ihnen zu entkommen. Sie wissen, dass wir sie als unsere Feinde betrachten, und haben trotz all ihrer Überlegenheit Angst vor uns. Sie haben die Macht, über unser Leben zu bestimmen, während wir offensichtlich nichts weiter tun können, als sie in Verlegenheit zu bringen und ihnen von Zeit zu Zeit Unannehmlichkeiten zu bereiten.

Aber ich bin nicht mehr ganz so machtlos wie in den acht Jahren, in denen ich dort lebte, weder in meinen Albträumen noch im wirklichen Leben. Ich weiß jetzt, dass ich kämpfen und die eine oder andere Schlacht gewinnen kann. Und dennoch, die jemenitischen Männer haben noch immer das Sagen. Noch immer können sie uns drohen, uns beschimpfen und uns Angst einjagen, Angst um unser Leben und das Leben unserer Kinder. Noch immer können sie mit Nadja machen, was sie wollen, und wir scheinen nichts dagegen unternehmen zu können. Sie können unsere Kinder verkaufen, sie zur Arbeit zwingen oder sie wegschicken.

Manchmal träume ich, ich hätte mein Auto mitgenommen – dieses kostbare Symbol der Freiheit, das mir so lieb und teuer ist – und es sei mir gelungen, Nadja und die Kinder in den Wagen zu zwängen, in dem auch noch einige Freunde und Verwandte aus England sitzen. Es ist ein kleines Auto, und wir sitzen so dicht gedrängt, dass unser lauter Herzschlag wie ein einziger klingt, während wir versuchen, den Motor zu starten und loszufahren. Die Männer kommen näher, und ich weiß, dass der Wagen uns keinen Schutz bieten wird, es sei denn, ich kriege ihn schnell in Gang. Sie werden uns überwältigen, werden das Auto umkippen und uns wie Münzen aus einem Sparschwein herausschütteln. Wir müssen fort, aber wir sind zu viele für den kleinen Wagen und überfordern ihn.

(In Wirklichkeit würde mein kleiner Renault niemals die Gebirgspfade überstehen, die zu den Dörfern der Mukbana führen. Wir würden in der Wüste festsitzen und wären ihnen erneut ausgeliefert. Aber das sind Träume, und deshalb gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass ich meine Schwester retten kann.)

Wir reden alle arabisch, weil wir wissen, dass Nadjas Kinder kaum Englisch können. Unsere Stimmen klingen schrill und panisch, während wir versuchen, das wütende Geschrei der Männer zu übertönen. Eigentlich ist das Englisch der Kinder gar nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass sie, abgesehen von den gelegentlichen Besuchen in Ta’izz, nie aus dem Dorf herausgekommen sind. Dennoch sprechen wir arabisch.

Alle Männer sind bewaffnet, so wie sie es tatsächlich waren, als 1987 Journalisten des Observer in die Mukbana kamen und versuchen wollten, uns zu retten. Sie haben den Finger am Abzug. Drohend fuchteln sie mit ihren Waffen. Ich zweifle nicht daran, dass sie sie benutzen werden. Es würde keine rechtlichen Konsequenzen für sie haben. Wer würde je wissen, dass ein paar Frauen und Kinder in den Bergen der Mukbana verschwunden sind? Seit jeher verschwinden hier Menschen, und niemand erfährt, was mit ihnen geschieht. Das Einzige, was die Männer davon abhält, uns zu töten, ist, dass sie dann niemanden hätten, der sich um ihre Kinder und ihren Haushalt kümmert. Niemanden, der das Wasser trägt oder die Hände in die heißen Öfen steckt. Der Brennholz heranschleppt und die Felder bestellt.

Wir können den Flughafen sehen (als ob wir in Wirklichkeit jemals so nahe an ihn herankommen würden!), doch irgendwie gelingt es nicht, ihn wirklich zu erreichen. Er ist zum Greifen nahe, eine Verbindung zur Außenwelt und zu Menschen, die uns freundlich gesinnt sind, und doch bleibt er quälend unerreichbar. Wir wissen, dass wir ein Flugzeug besteigen könnten und dass unser Martyrium vorbei wäre, würden wir nur dorthin gelangen.

Aber in dem Traum schaffen wir es nie. Ich fahre aus dem Schlaf hoch und ringe nach Luft. Im kalten Licht der Realität scheint der Traum von einer Befreiung unerfüllbar zu sein, und mir ist schlecht vor lauter Verzweiflung.

Im wirklichen Leben bricht der Kontakt zu Nadja manchmal einfach für mehrere Jahre ab, und wir wissen dann nicht, ob sie tot ist oder noch lebt. Würde man uns sagen, sie sei bei der Geburt eines weiteren Kindes oder an Malaria gestorben, könnten wir nie das Gegenteil beweisen. Aber in meinen Träumen sind wir bereit, alles zu wagen, denn das ist unsere einzige Möglichkeit, diesen Männern zu entkommen. Lieber würden wir sterben, als den Rest unseres Lebens ihre Sklavinnen zu sein.

Manchmal träume ich, dass ich mit Nadja in ihrem Haus im Dorf bin und dass wir Vorbereitungen für ihre Rückkehr nach England treffen. Dann rieche ich alle Gerüche und spüre, wie die Fliegen um unsere Gesichter schwirren, als wollten sie uns wahnsinnig machen. Nadja besitzt nichts, was sie mitnehmen möchte, doch die Kinder brauchen ein paar Dinge. Es scheint ewig zu dauern, bis sie alles zusammengesucht hat. Ich spüre, wie Panik in mir hochsteigt, die Gelegenheit könnte verstreichen und man würde uns sagen, dass wir nicht weg könnten. Ich dränge Nadja zur Eile, aber sie scheint mich nicht zu hören. Sie macht einfach unverwandt in dem ihr eigenen schleppenden Tempo weiter.

Manchmal kommt Mohammed, Nadjas Mann, ins Zimmer und entschuldigt sich für alles, was er ihr angetan hat. Wir ignorieren ihn und schweigen aus Angst, etwas zu sagen, das ihn verärgern und dazu veranlassen könnte, uns Befehle zuzubrüllen und damit von unserem Vorhaben abzuhalten. Wir bringen es nicht fertig, ihm zu sagen, dass wir ihm vergeben. Das wäre einfach zu viel. Die Zeit für Entschuldigungen ist längst vorbei. Der Schmerz dauert schon zu lange und Verzeihen ist nicht mehr möglich. Wir wollen nur die Chance haben, zumindest einen Teil des Albtraums vergessen zu können.

Wenn ich nach diesen nächtlichen Reisen wieder zu mir komme, bin ich erleichtert, in England, in Sicherheit, frei und bei meiner Familie zu sein. Doch dann fällt mir ein, dass ein Teil des Albtraums noch immer Realität ist. Meine kleine Schwester ist noch immer im Jemen und wird in einem Tempo alt und krank, das sich niemand, der es nicht gesehen hat, vorstellen kann, und die Trauer kehrt zurück. Sie schnürt mir die Luft ab, mein Magen krampft sich zusammen und Tränen schießen mir in die Augen. Ich weiß, dass im gleichen Moment, in dem ich hier in Birmingham in meinem Bett liege und Paul, mein Lebensgefährte, friedlich neben mir schlummert, einer der Menschen, die ich auf dieser Welt am meisten liebe, langsam zu Tode gequält wird. Und ich scheine nichts dagegen unternehmen zu können. Ich habe keine Hoffnung mehr, fühle mich hilflos und bin unsäglich traurig.

Aber mein Leben muss dennoch weitergehen.

Ich habe meine Kinder, für die es sich lohnt zu leben, und unseren Alltag, der mich ablenkt. Ich lebe in einem freien Land. Ich kann weitgehend tun, was ich will, nur eines nicht: Ich kann meine Schwester nicht sehen, kann nicht mit ihr reden und weiß, über die quälenden Erinnerungen und Fantasien hinaus, nicht, was in ihrem Leben vor sich geht. Trotz allem, was ich zu tun versucht habe, nie werde ich das Gefühl los, sie im Stich gelassen zu haben. Denn ich habe ihr versprochen, sie nach Hause zu holen. Und sie ist noch immer dort!

Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie ihr Leben aussieht, denn ich habe ja einmal das gleiche Leben geführt. Ich habe die gleichen Entbehrungen kennengelernt, die Schikanen, die Monotonie, die anstrengende Arbeit, die Vergewaltigungen, Schläge und Erniedrigungen, und war gesundheitlich genauso angeschlagen wie Nadja. Jedes Mal, wenn ich aufwache, wird mir bewusst, dass ein weiterer Tag in ihrem Leben vergangen ist, ein weiterer vergeudeter Tag, an dem sie glücklich und frei hätte sein sollen.

Ich weiß, dass ich einen weiteren Tag von meinem Sohn Marcus ferngehalten wurde und dass ich das, was wir beide verloren haben, nie werde nachholen können. Ein weiterer Tag seines Lebens ist vergangen, ohne dass ich weiß, was er getan oder erreicht hat. Ich habe seine Entwicklung nicht verfolgen können, ihn nicht in den Arm nehmen können, wenn er sich verletzt hat oder krank war. Ich habe keine Ahnung, ob jemand meinen Platz in seinem Leben eingenommen hat, nachdem ich unter der Bedingung, Marcus dort zu lassen, nach Hause durfte. Keiner hat mir gesagt, ob und wie er mit dem Schock fertig geworden ist, seine Mummy zu verlieren, die Frau, an die er sich die ersten zwei Jahre seines Lebens so sehr geklammert hat. Ich habe keine Ahnung, wie er sich charakterlich entwickelt hat und wie es ihm gesundheitlich geht. Ich weiß nicht, wie seine Stimme klingt und ob er ein fröhliches oder eher ein trauriges Kind ist.

Wer weckt ihn morgens? Wer passt auf, dass er ordentlich isst und sauber zur Schule geht? Wer sorgt dafür, dass er fleißig ist, damit er eine anständige Arbeit bekommt und der stumpfsinnigen Plackerei im Dorf entkommen kann? Ich werde es nie erfahren, und es bricht mir das Herz. Wenn sein Großvater oder sein Vater ihn dazu zwingen wollen, wie ein Sklave zu arbeiten, zur Armee zu gehen oder für Geld irgendein Mädchen zu...

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