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Empörung reicht nicht!

Unser Staat hat versagt. Jetzt sind wir dran. Mein Plädoyer im NSU-Prozess

AutorMehmet Daimagüler
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl350 Seiten
ISBN9783732557349
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR

Hat unser Sicherheitsapparat die lückenlose Aufklärung der NSU-Mordserie verhindert? Trägt auch der Verfassungsschutz Verantwortung für die Verbrechen der Neonazis? Und haben Polizeibehörden jahrelang in eine falsche Richtung ermittelt, weil ihr Denken zum Teil rassistisch durchsetzt ist? Diese und andere Fragen thematisiert Mehmet Daimagüler, Opferanwalt der Nebenklage, in seinem Plädoyer zum NSU-Prozess. Sein Fazit: Unser Staat hat versagt. Mit seinem Buch appelliert Daimagüler an uns alle, unsere Demokratie nicht für selbstverständlich zu nehmen, sondern sie gegen Hass und Extremismus zu verteidigen.



Mehmet Gürcan Daimagüler, 1968 in Siegen als Kind türkischer Arbeiter geboren, ist promovierter Rechtsanwalt, Kolumnist und Buchautor. Regelmäßig schreibt er für Tageszeitungen und juristische Fachmedien. Er ist einer der bekanntesten Opferanwälte in Deutschland. So vertrat er jüdische Mandanten aus Ungarn im Strafverfahren gegen den "Buchhalter von Ausschwitz", den ehemaligen SS-Mann Oskar G. 2011 erschien sein Buch Kein schönes Land in dieser Zeit, ein schonungslos offener Beitrag zur Identitätsdebatte. Im NSU-Verfahren vertrat er die Geschwister von Abdurrahim Özüdogru, der 2001 ermordet wurde, und die Tochter von Ismail Yasar, den der NSU 2005 erschossen hatte. Mehmet Daimagüler setzt sich unermüdlich für die Aufklärung der Morde ein. Regelmäßig spricht er in Schulen, Universitäten, Polizeiakademien und vor Vereinen und wirbt dafür, dass ein Staatsversagen wie im Falle des NSU sich nicht wiederholt.

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Leseprobe

2. Der NSU-Prozess: ein Überblick


Mit seinem Urteil hat das Oberlandesgericht München einen vorläufigen Schlussstrich unter die strafrechtliche Aufarbeitung des NSU-Komplexes gezogen. Ob dieses Urteil in der Revisionsinstanz Bestand haben wird, bleibt abzuwarten. Ebenso abgewartet werden muss, ob die Generalbundesanwaltschaft, wie angekündigt, aber bislang nicht umgesetzt, gegen weitere Unterstützer des NSU Anklage erheben wird.

Der NSU-Prozess war bemerkenswert, nicht nur wegen des Inhalts der Anklage, sondern auch wegen seines schieren Umfangs. Eines sei vorweggesagt: Bei diesem Prozess handelte es sich nicht um das längste Strafverfahren in der deutschen Nachkriegsgeschichte, wie manchmal zu hören ist. Dieses Attribut gebührt dem sogenannten Schmücker-Prozess, bei dem es um die Aufklärung des Mordes an Ulrich Schmücker ging. Schmücker war V-Mann des Berliner Verfassungsschutzes, bis er im Jahr 1974 in West-Berlin ermordet wurde. Der Prozess begann 1976 und endete erst 1991 mit seiner Einstellung. Dazwischen lagen drei Urteile, die zum Teil in der Revision aufgehoben wurden, und insgesamt 591 Verhandlungstage. Auch das sogenannte La-Belle-Verfahren in Berlin, bei dem es um die strafrechtliche Ahndung des vom libyschen Geheimdienst unter mutmaßlicher Beihilfe der Stasi verübten Bombenanschlages auf die Berliner Diskothek La Belle im Jahr 1986 ging, dauerte wesentlich länger als das NSU-Verfahren. 1992 wurde die erste Anklage gegen die Drahtzieher des Attentats erhoben. Im Folgejahr wurde dieses Verfahren jedoch eingestellt. 1997 begann das zweite Verfahren, das im November 2001 mit einer Verurteilung der Angeklagten zu hohen Haftstrafen endete. Dieses Urteil wurde 2004, also achtzehn Jahre nach dem Anschlag, vom Bundesgerichtshof bestätigt.

Das NSU-Verfahren ist dennoch eines der bedeutendsten Strafverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik. Es ist so bedeutend, weil es Themen behandelt, die unser Selbstverständnis als Land und Gesellschaft nicht nur betreffen, sondern in Teilen infrage stellen. Sind wir wirklich so weltoffen und tolerant, wie wir glauben? Sind unsere Polizei und unsere Justiz wirklich so objektiv, wie wir es uns wünschen? Wie kommt es, dass alle Angeklagten aus den neuen Ländern stammen? Kann es sein, dass bei der Integration von Teilen der ersten »Wiedervereinigungsjugend« in die bundesdeutsche Demokratie etwas schrecklich schiefgelaufen ist, so schrecklich, dass schließlich zehn Menschen mit ihrem Leben dafür bezahlen mussten? Kann oder sollte man versuchen, auf diese Fragen auch im Gerichtssaal Antworten zu finden?

Die Anklageschrift


Angeklagte im NSU-Verfahren waren Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, André Eminger, Carsten Schultze und Holger Gerlach. Die Anklageschrift des Generalbundesanwalts umfasst insgesamt 488 Seiten und befasst sich an oberster Stelle mit der Hauptangeklagten Beate Zschäpe. Sie wird angeklagt wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung, wegen zehnfachen vollendeten Mordes, wegen versuchten Mordes im Rahmen der Bombenanschläge und mit Blick auf den Kollegen der Polizeibeamtin Kiesewetter, Martin A., sowie wegen Mittäterschaft bei vierzehn Raubüberfällen. Sie habe bei der Planung der NSU-Morde mitgewirkt und sei das bürgerliche Gesicht des Trios nach außen gewesen, damit die beiden Männer unauffällig die Morde vorbereiten und begehen konnten. Laut Anklage war sie außerdem für die Finanzen des NSU zuständig. Ferner habe Zschäpe, als sie ihre Zwickauer Wohnung in Brand steckte, den möglichen Tod zweier Handwerker und einer Nachbarin billigend in Kauf genommen. Daher wirft man ihr neben einer besonders schweren Brandstiftung drei weitere versuchte Morde vor.

Zschäpe wurden drei Pflichtverteidiger, also staatlich bezahlte Anwälte, zur Seite gestellt. Mit diesen überwarf sie sich im Laufe des Prozesses. Später wurde ein vierter Pflichtverteidiger beigeordnet. Dazu gesellte sich ein fünfter Anwalt als Wahlverteidiger. Alle Anwälte, Pflicht- wie Wahlverteidiger, hatte sich Beate Zschäpe selbst ausgesucht.

André Eminger ist wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Unter anderem soll er für den NSU ein Wohnmobil für die Fahrt nach Köln angemietet haben, als dort der Bombenanschlag in der Keupstraße verübt wurde. Zum anderen wird ihm vorgeworfen, auch für Raubüberfälle in einer Postfiliale im November 2000 und einer Sparkasse im September 2003 das jeweils genutzte Wohnmobil besorgt zu haben. Darüber hinaus wird ihm die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zur Last gelegt. André E. trug während des Verfahrens manchmal sein Hemd offen. Sichtbar wurde dann der obere Rand einer Tätowierung auf seiner Brust und dem Bauch: »Die, Jew, Die« (Stirb, Jude, stirb), heißt es da. Eminger wurde von zwei Pflichtverteidigern verteidigt.

Auch die Anklage gegen Holger Gerlach lautet auf Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Im Jahr 2001 soll er im Auftrag des ebenfalls Angeklagten Ralf Wohlleben eine Schusswaffe nach Zwickau gebracht und dem NSU-Kerntrio Ausweispapiere überlassen haben, die unter anderem zur Anmietung von elf Fahrzeugen benutzt wurden. Diese Fahrzeuge wurden zur Begehung von insgesamt dreizehn Straftaten verwendet. Laut Anklage soll er des Weiteren Zschäpe eine Krankenkassenkarte zur Verfügung gestellt haben. Ihn vertraten zwei Pflichtverteidiger.

Carsten Schultze ist wegen Beilhilfe zum Mord angeklagt. Ihm wird zur Last gelegt, die Česká 83 samt fünfzig Schuss Munition und Schalldämpfer besorgt und in Chemnitz an Mundlos und Böhnhardt ausgehändigt zu haben. Auch Carsten Schultze wurden zwei Verteidiger beigeordnet.

Ralf Wohlleben wird Beilhilfe zum Mord in neun Fällen zur Last gelegt, wobei dem früheren Jenaer NPD-Funktionär zumindest bis 2001 eine Schlüsselrolle bei der Unterstützung des NSU zukam. Der ehemalige NPD-Kreisvorsitzende war entscheidend an der Besorgung der späteren Mordwaffe beteiligt. Dabei war ihm aufgrund seiner vielen Diskussionen mit Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos deren Gewaltbereitschaft bewusst. Da Wohlleben in dieser Zeit eine Überwachung vermutete, entwickelte er ein konspiratives Kontaktsystem zu den Untergetauchten, wofür er sich verschiedener Mittelsmänner bediente. Wohlleben wurde von drei Anwälten vertreten.

Verfahrensbeteiligte sind zudem 86 Nebenkläger, die von 62 Anwälten vertreten werden. Nebenklageberechtigt sind laut Gesetz Menschen, die Opfer einer in der Strafprozessordnung aufgezählten Straftat sind. Dazu zählen auch Personen, die Opfer eines versuchten Mordes sind. Engste Angehörige von Mordopfern sind ebenfalls nebenklageberechtigt. Mehrere Nebenkläger dürfen sich einen Anwalt »teilen«, müssen das aber nicht tun. Die Tatsache, dass ich sechs Angehörige von zwei Mordopfern vertrete, ist eine Ausnahme im NSU-Verfahren. Dennoch ist es sinnvoll, dass jeder Nebenkläger Anspruch auf seinen eigenen Anwalt hat. Denn auch wenn es sich um dieselben Taten und dieselben Angeklagten handelt, müssen die Interessen der Nebenkläger nicht identisch sein. Ganz banal ausgedrückt, kann es beispielsweise dem einen um Aufklärung, dem anderen jedoch um eine möglichst harte Strafe gehen.

Schockierend für die meisten Opfer und Opferangehörigen war es zu erfahren, dass möglicherweise einer der Nebenklageanwälte gar kein Mandat hatte und dennoch über viele Monate an dem Verfahren, wenn auch passiv, teilnahm. Die Umstände dieses Vorgangs werden gegenwärtig juristisch geklärt.

Warum München?


Fünf der den NSU-Terroristen zugerechneten Morde wurden in Bayern verübt. Zudem verfügt das Oberlandesgericht München über einen sogenannten »Staatsschutzsenat«. Diese sind gemäß Paragraph 120 Gerichtsverfassungsgesetz zuständig, wenn die angeklagte Straftat die Vorbereitung eines Angriffskriegs, ein Verbrechen des Hochverrats, des Landesverrats oder, wie im Falle des NSU, ein Verbrechen nach dem § 129a StGB – Bildung einer bzw. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung – betrifft.

Am 6. Mai 2013 fand die erste Verhandlung vor dem 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts in München statt. Zu Beginn waren insgesamt 86 Sitzungstermine bis zum 16. Januar 2014 geplant. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl setzte jedoch mehrfach Verlängerungen an, und so werden es bis zum Ende des Prozesses wohl etwa 400 Sitzungstage sein.

Schweigende Angeklagte, sprechende Angeklagte und vorlesende Angeklagte


Bereits am 4. Verhandlungstag hatte der Angeklagte Carsten Schultze gestanden, an der Beschaffung einer Schusswaffe mit Schalldämpfer beteiligt gewesen zu sein.8 Unter den Angeklagten war er der Einzige, der sich über Tage und Wochen hinweg befragen ließ, von den Richtern, der Bundesanwaltschaft, den Nebenklägern und auch von den Verteidigern. Seine Aussagen waren für die Aufklärung des Geschehenen ungemein wertvoll.

Am darauffolgenden Sitzungstag folgte die abgelesene Erklärung von Holger Gerlach. Er gestand, Pässe und einen Führerschein für das Trio besorgt zu haben. Außerdem habe er 10.000 Euro für das Trio an seinem Wohnort in Niedersachsen deponiert.9

Am 16. Dezember 2015 sagte dann Ralf Wohlleben zum ersten Mal aus. Er verlas knapp zwei Stunden lang eine schriftliche Erklärung, bestritt, die Tatwaffe beschafft zu haben, und belastete stattdessen den Mitangeklagten Schultze.10 Wohlleben machte keinen Hehl aus seiner offenbar unveränderten...

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