Die Sehnsucht nach der Revolution
Nach dem 2. Juni 1967 dachte Rudi eine Zeit lang ernsthaft, dass von Berlin eine Revolution ausgehen könnte, die West wie Ost erfasst. Diese Idee, die er wenig später selbst verrückt fand, ging zurück auf ein langes Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger und anderen für das Kursbuch. Nach Übernahme der politischen Macht, so die Vorstellung, sollte eine Gesamt-Berliner Räterepublik errichtet werden, also in Ost und West zugleich, ohne Mauer, dafür mit »Lebenszentren« und »Räteschulen«, die einen »Lernprozess durch die verschiedenen Produktionssphären« hindurch in Gang setzen. […] Das heißt, ganz Berlin wäre eine Universität, wir hätten eine lernende Gesellschaft.« Vorher hätte man natürlich noch die politische Macht übernehmen müssen. Der SDS-Genosse Christian Semler wollte gleich noch die gesamte Justiz abschaffen, deren Aufgaben neue Technologien übernehmen würden. Wie genau das vonstattengehen sollte, sagte er nicht.
Es war die Zeit der großen, optimistischen Fortschrittsutopien, die heute, in Anbetracht von Klimakatastrophe und Terrorangst, so kaum mehr nachvollziehbar sind. Dazu passte der geradezu entfesselte Lern- und Wissenseifer, der diese gesamte Zeit kennzeichnete. Es wurde ungeheuer viel gelesen – natürlich auch von Rudi, der Bücher verschlang wie andere belegte Brötchen: historische Bücher über die Russische Revolution, über den Spanischen Bürgerkrieg der 30er-Jahre, natürlich Karl Marx und Friedrich Engels, aber auch Max Horkheimer, Theodor Adorno, Herbert Marcuse, Wilhelm Reich, Sigmund Freud, Jean-Paul Sartre und Martin Heidegger, aktuelle soziologische Werke und Texte alter Anarchisten wie Pjotr Kropotkin, Michail Bakunin und Pierre-Joseph Proudhon und auch amerikanische Linke wie die Ökonomen Paul A. Baran und Paul Sweezy.
Das erste Buch, das mir Rudi in die Hand drückte, war ein Reclam-Bändchen von Ernst Blochs Schrift Thomas Müntzer als Theologe der Revolution. Müntzer, 1525 gefangen genommen, gefoltert, öffentlich enthauptet und aufgespießt, war ein früher Reformator, der führend an den Bauernkriegen gegen die Unterdrückung durch Adelsherrschaft und Papstkirche beteiligt war. Leider verstand ich von dem Buch zunächst sehr wenig, weil mein Deutsch dafür noch nicht gut genug war. Aber Rudi war fest davon überzeugt, dass nur eine komplexe Sprache einer komplexen Wirklichkeit und ihren Problemen gerecht werden könne und man sich darin schulen müsse. Ich versuchte, ihm klarzumachen, dass seine Ansprüche und sein Niveau passend seien für Uniseminare, eine breitere Masse aber damit sicher nicht zu erreichen sei.
Später hat er selbst versucht, einfacher und verständlicher zu reden, was ihm allerdings bei all den theoretischen Abstraktionen nicht immer gelang. Aber selbst wenn er sehr abstrakt formulierte, war er von einer Suggestivkraft, die seine Worte überzeugend klingen ließen. Dabei hatte er immer die Praxis im Auge, denn eine Theorie ohne praktischen Bezug zur Realität hängt in der Luft wie trockenes Laub.
Dennoch blieben viele der Entwürfe im Bereich des Utopischen und Theoretischen, aber Rudis Haltung war charakteristisch für die damals entstehende »neue Linke«: Wie genau ein sozialistisches Wirtschaftssystem jenseits des Kapitalismus und der real existierenden staatskommunistischen Planwirtschaft in Sowjetunion und DDR aussehen sollte, konnte niemand sagen. Aber, so die Hoffnung, es würde sich im künftigen Prozess der gesellschaftlichen und politischen Umwälzung gleichsam von selbst herauskristallisieren – in Richtung einer, mit Marx formuliert, »Assoziation freier Produzenten«. »Er war Optimist«, schrieb Rudis Biograf Jürgen Miermeister. »Er wollte einer sein. Und so suchte und fand er Sätze, die ihn zur Praxis ermutigten. Marcuse etwa sprach von ganzen Schichten, die nicht integriert seien in die Eindimensionalität der Demokratie.«
Der in Kalifornien lebende Philosoph Herbert Marcuse, Emigrant aus Nazideutschland, lieferte in seinem 1964 erschienenen Buch Der eindimensionale Mensch, das zu einer Bibel der Bewegung werden sollte, die zentrale Begründung für eine Revolte gegen die westliche Konsumgesellschaft: »Ihre Produktivität zerstört die freie Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse und Anlagen, ihr Friede wird durch die beständige Kriegsdrohung aufrechterhalten, ihr Wachstum hängt ab von der Unterdrückung der realen Möglichkeiten, den Kampf ums Dasein zu befrieden.« Die »alles beherrschende technologische Rationalität«, so Marcuse, habe geradezu »totalitäre Züge« angenommen, während der größte Teil der Gesellschaft durch Massenkonsum und politische wie mediale Manipulation unter Kontrolle gehalten, gleichsam ruhiggestellt werde.
Theodor W. Adorno, einer der Hauptvertreter dieser Kritischen Theorie, ergänzte diesen Befund mit radikaler Konsequenz: »Mit dieser Welt gibt es keine Verständigung. Wir gehören ihr nur in dem Maße an, wie wir uns gegen sie auflehnen. Alle sind unfrei unter dem Schein, frei zu sein.«
Solche theoretischen Analysen waren Bezugspunkt und Impuls auch für den praktischen Aufbruch der kritischen jungen Generation. In der Berliner Mikrozelle der »Subversiven Aktion«, die ihrerseits aus der ehemaligen »Situationistischen Internationale« hervorgegangen war, sammelte Rudi erste Aktionserfahrungen. Es war die erste politische Gruppe, der Rudi sich zusammen mit seinem damaligen Freund Bernd Rabehl 1963 anschloss. Hier kam er auch erstmals in Kontakt mit Dieter Kunzelmann. Und in dieser Zeit begann seine intensive Beschäftigung mit den Theoretikern der Frankfurter Schule Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Erich Fromm und anderen.
In einem Brief zum »Münchner Konzil« der Subversiven Aktion, deren führender Münchner Kopf der spätere Kommunarde Dieter Kunzelmann war, schrieb Rudi im April 1965: »Genehmigte Demonstrationen müssen in die Illegalität überführt werden. Die Konfrontation mit der Staatsgewalt ist zu suchen und unbedingt erforderlich. […] Künstliche Radikalisierung, d. h., aus nichtigen Anlässen unbedingt etwas machen zu wollen, ist unter allen Umständen abzulehnen.«
Doch zunächst ging es um Kritik an den bestehenden Verhältnissen, freilich eine Kritik, die »in Aktion umschlagen« sollte. Die Subversive Aktion betrieb genau das: Entlarvung und Provokation, das Aufsprengen des »Verblendungszusammenhangs« (Adorno), der die Menschen daran hindere, ihre Lage zu erkennen. Und welches Ziel eignete sich besser als die Tagung des Bundes Deutscher Werbeleiter und Werbeberater am 5. Mai 1964 in der Stuttgarter Liederhalle?
Hunderte Flugblätter flatterten von der Empore, ein »Aufruf an die Seelenmasseure«: »IHR suggeriert den Leuten die Bedürfnisse ein, die sie nicht haben! IHR stopft sie voll mit Produkten, damit sie sich ihrer wahren Bedürfnisse nicht mehr bewusst werden!« Zwar wurden die Aktivisten der Subversiven festgenommen, doch bald wieder freigelassen. Es war ja auch nur eine symbolische Aktion gewesen. An ihr aber zeigte sich schon, dass da stets ein schmaler Grat war zwischen einer eher spielerisch-sarkastischen Provokation und einem handfesten Aufruf, ein Kaufhaus zu stürmen und die Waren auf der Straße zu verteilen, wie Kunzelmann es einmal vorschlug.
So war die Frage von Illegalität, die letztlich auch eine von Gewaltanwendung war, von Anfang an ein wichtiger und schwieriger Aspekt in der Entwicklung der antiautoritären Theorie. Oft genug haben Rudi und ich zu Hause oder zusammen mit anderen darüber diskutiert. Welchen Stellenwert sollte Gewalt überhaupt einnehmen, gab es Formen der Gewalt, die als akzeptabel gelten konnten, und ab wann waren sie es definitiv nicht mehr? Es kam nie zu einer einheitlichen, schon gar nicht einfachen Antwort auf diese Frage. Diskutiert wurden in diesem Zusammenhang die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, aber auch der geschichtliche Hintergrund in Deutschland, ob und inwieweit die Situation in Deutschland 1965 mit der von 1918 zu vergleichen war.
Letztlich war diese Frage untrennbar verbunden mit dem Konzept, das im Kern auf das »Bewusstsein der Massen« zielte. Aber was dachten, fühlten und wollten diese »Massen«, also die Mehrheit der Deutschen eigentlich? Damals war das Wirtschaftswunder in vollem Gange. Alles schien nur noch aufwärtszugehen: Wirtschaftswachstum, mehr Konsum, mehr Arbeitsplätze. Bundeskanzler Ludwig Erhard, der gerade Konrad Adenauer im Amt beerbt hatte, legte sein »Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums« vor, und der millionste Gastarbeiter, ein Portugiese, erhielt zum Dank ein nagelneues Moped.
Stabilität und Wachstum – das waren die Schlagworte der Mehrheit der Menschen im Nachkriegsdeutschland. Die Wahl der neuen Einbauküche war ihnen wichtiger als manche Bundestagswahl, bei der man ohnehin der angestammten Partei die Treue hielt, ob der CDU oder der SPD. »Sicher ist sicher«, lautete 1965 die Wahlkampfparole der SPD, und Ludwig Erhard sprach von der »formierten Gesellschaft«. Das Proletariat der 20er-Jahre und mit ihm der politisch inspirierte Klassenkampf waren inzwischen Geschichte. Jetzt ging es vor allem um wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg – auch und nicht zuletzt mithilfe der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften. Man orientierte sich nach oben, nicht nach unten.
Wer es schon zu etwas gebracht hatte und einen VW Käfer oder Opel Kadett sein Eigen nannte, fuhr im Sommer mit...