Einleitung
Womit beginnen? Über Vieles zerbrechen wir uns im Leben den Kopf. Was sind unsere Ziele? Wie sieht der Weg dorthin aus? Oft finden wir für Probleme keine Lösung oder erreichen unser Ziel nicht. Wir fühlen uns dann gescheitert. Aber haben wir uns vielleicht ein Ziel gesteckt, das unerreichbar ist?
In unserer Zivilisation gibt es zu viele gesellschaftliche Normerwartungen, aber zu selten wird die Frage gestellt, ob diese Normerwartungen unseren Möglichkeiten oder unserer Natur entsprechen. Glaube soll Berge versetzen und unser Wille das Unmögliche möglich machen. Was aber, wenn dies alles alt überlieferte Irrtümer und Legenden sind?
Gibt es eine höhere Gerechtigkeit, oder ist unser Leben einfach sinnlos? Sind wir die Flaschenpost, die von den Wogen des Schicksals mal hier, mal da an einen Strand gespült wird? Oder sind wir doch ein stolzes Segelschiff und müssen lernen, Wind und Strömung zu nutzen und das Ruder endlich selbst in die Hände zu nehmen? Auf in die Wanten und setzt die Segel! Es gibt sie noch, die neuen Ufer, und wir sind auf dem Weg dahin.
Wie auch immer dieser Weg aussieht, um eine Reise geht es immer. Sie führt nicht zu fernen Kontinenten, Religionen oder Philosophien. Sie führt zu uns selbst, findet in uns selber statt.
Die Reise zu uns selbst ist nicht ungefährlich. Wir können uns in uns selbst verirren. Wir befürchten, an unseren inneren Riffs, unseren Ecken und Kanten zu zerschellen. Ein Sturm könnte in uns entfacht werden, der vielleicht alles mit sich fortreißt und die Bretter unseres stolzen Schiffes, das unsere Welt bedeutet, zerbersten lässt. In was für Untiefen können wir geraten? Und wie kommen wir aus ihnen heraus? Als Kinder haben wir von Baron Münchhausen gehört, der behauptete, sich selbst mitsamt Pferd an den eigenen Haaren aus einem Sumpf herausgezogen zu haben. Doch später haben wir herausgefunden, dass man sich so allenfalls eine Glatze beschert, sich aber nicht retten kann.
Wir können nicht darauf hoffen, gegen die Gesetze der Natur ein Wunder zu erleben. Wie aber sehen die Regeln der Natur aus? Welche gelten für uns, den Menschen? Was bewegt uns? Was treibt uns an? Und wo sind wir der Natur in uns genauso unterworfen wie das Segelschiff dem Sturm? Wir können dagegen ankämpfen und eventuell untergehen. Oder wir suchen uns lieber einen sicheren Hafen.
Wir lieben unsere Eltern, unsere Kinder, unsere Freundinnen und Freunde und unsere Beziehungspartnerin bzw. den -partner. Aber wie kommt es, dass wir sie manchmal auch regelrecht hassen können? Wenn ein Nachbar, zwei Straßen weiter, nachts um zwei seine Stereoanlage noch immer auf volle Lautstärke gedreht hat, ärgern wir uns und rufen letztendlich die Polizei, die für Ruhe und Ordnung sorgt. Wenn uns aber eine Person, die uns sehr nahe steht und uns wichtig ist, enttäuscht, können wir Mordlust empfinden, obwohl es vielleicht nur um eine kleine Enttäuschung geht.
Wir müssen uns von dem Mythos verabschieden, vor einigen tausend Jahren von einer Gottheit erschaffen worden zu sein, die uns gottähnlich gemacht hat. Wir sind Teil der Evolution, die vor etwa vier Milliarden Jahren begann und bis heute fortschreitet. Deshalb sind unsere Gene heute 3,75 Milliarden Jahre in der Evolution zurückzuverfolgen. Also in die frühesten Anfänge des Lebens.
Auch wissen wir, dass unsere Wesensarten und Charaktereigenschaften uns zum Teil angeboren sind und nicht allein durch Erziehung und Umwelteinflüsse bestimmt werden. Wir müssen uns damit abfinden, dass Mechanismen unseres Gefühlslebens durch die Sinnhaftigkeiten der Evolution entstanden sind. Aggressionen und Tötungswünsche dienten über Milliarden von Jahren dazu, unser Überleben zu sichern. Wenige zehntausend Jahre Zivilisation haben sie so schnell nicht auslöschen können. Bis heute sorgen sie bei uns für Wünsche, Strebungen und Fantasien, die in keiner Weise zum Grundsatz der Gewaltfreiheit passen. Diese Gefühle können wir nicht kontrollieren, kontrollieren können und müssen wir nur unser Handeln.
In der psychologischen Fachliteratur wird heutzutage die Frage ernsthaft diskutiert, ob wir überhaupt noch von Entscheidungsfreiheit in unserem Leben ausgehen können. Viele Entscheidungen sollen von Vernunft geleitet sein, sind aber bei näherem Hinsehen mehr aus der Intuition oder aus einer Stimmung heraus getroffen worden. Natürlich können und müssen wir entscheiden, was wir tun und was wir lassen. Wir können aber nicht entscheiden, was wir fühlen.
Bereits Sigmund Freud hat diesen Umstand als innerpersonellen Konflikt zwischen Es und Über-Ich beschrieben, der durch die bewusste Instanz des „Ich“ abgewogen und entschieden wird. Diese Vereinfachung ist tatsächlich hilfreich in der Betrachtung der Neurosenentstehung und ihrer Heilung. Eine Neurose ist eine sinnvolle Reaktion, da sie zur Entlastung und Stabilisierung führt. Sie ist aber nur die zweitbeste Lösung unserer Probleme. Deshalb können wir die Neurose erst verlieren, wenn wir eine bessere Problemlösung gefunden haben.
Heute gibt es in der systemischen Therapielehre den Begriff des „Indexpatienten“. Das bedeutet, in einem neurotischen System reagiert ein Gruppenmitglied mit Symptombildung, um allen zu helfen, eine ungesunde Situation aufrechtzuerhalten. Hier beginnt die Suche nach dem „funktionalen Äquivalent“ im System. Es wird also die Frage gestellt, warum das Symptom des Indexpatienten für das Gesamtsystem sinnvoll ist. In weiteren Schritten wird nach Wegen gesucht, die Strategien des Systems zu verbessern, um so das Symptom überflüssig zu machen. An diesem Punkt verstehen wir, warum die simple Symptombeseitigung keine Lösung ist, sondern nur zu einer neuen anderen Symptombildung bei dem Indexpatienten oder einem anderen Systemteilnehmer führt.
Ich möchte in diesem Buch darauf eingehen, wie nicht nur die einzelnen Entwicklungsphasen unserer Kinder und Jugendlichen, sondern unser ganzes Leben in einem Zusammenhang zu diesen Regeln steht. Ich komme dabei auch auf einige der Besonderheiten allzu menschlicher Symptombildung zurück, mit denen wir mehr oder weniger hilfreich versuchen, uns an die vielfältigen Schwierigkeiten anzupassen, die entstehen, wenn natürliche Möglichkeiten sich nicht mit den Erwartungen und Normen unserer Gesellschaft decken.
Dabei bewege ich mich auf dem Glatteis der Hypothesen und oft unbewiesenen Zusammenhänge. Die Medizingeschichte hat uns jedoch gelehrt, dass eine gut durchdachte, falsche Hypothese manchmal hilfreicher sein kann als eine richtige, aber nicht zielführende Vorgehensweise. Dazu möchte ich gerne ein Beispiel geben.
Robert Koch, der Entdecker des Tuberkelbazillus, war Zeitgenosse von Max Pettenkofer, einem sogenannten „Humoralmediziner“. Aus der Medizingeschichte wissen wir, dass beide ganz unterschiedliche Erklärungsmodelle für die Krankheitsentstehung der Cholera hatten, die zu der damaligen Zeit ein riesiges Problem für die Volksgesundheit in München darstellte. Koch behauptete, die Krankheit werde durch unsichtbare kleine Organismen übertragen und ausgelöst. Er forschte nach dem ansteckenden Mikroorganismus und hoffte, mit dessen Vernichtung die Krankheit zu besiegen. Pettenkofer dagegen behauptete, der Grund für die Verseuchung der Städte mit Cholera sei auf den fürchterlichen Gestank von Kot, Urin und Abfall zurückzuführen, der zu dieser Zeit durch die fehlende Kanalisation und Müllabfuhr bestand, da die Gossen voller Exkremente und Unrat waren. Seine Lösungsidee des Problems bestand darin, den Unrat und damit den Gestank zu beseitigen.
Der Streit gipfelte angeblich darin, dass Pettenkofer eines Tages nach einer hitzigen Diskussion eine lebende Kultur von Choleraerregern verschlang, um Koch seinen Irrtum zu beweisen. Und tatsächlich erkrankte Pettenkofer, der wohl ein sehr stabiles Immunsystem hatte, nicht an Cholera, was als Beweis seiner Theorie angesehen wurde. Pettenkofer gewann den Streit und setzte sich gegen Koch durch. In Folge dessen sorgte man in München dafür, dass der Unrat von der Straße verschwand, eine Kanalisation sowie eine saubere Trinkwasserversorgung aufgebaut wurden und die Bürger nicht mehr den vermeintlich krankmachenden Gestank einatmen mussten. Und tatsächlich! Die Erkrankungsraten an Cholera sanken dramatisch. Alles schien Pettenkofer Recht und Koch Unrecht zu geben.
Heute wissen wir, Koch hatte durchaus Recht. Mikroorganismen sind Verursacher der Cholera ebenso wie von Tuberkulose. Sie sind aber besonders gefährlich für Menschen, die durch schlechte hygienische Bedingungen und Unterernährung gesundheitlich instabil sind. Die Anderen sind zwar mit den Erregern infiziert, erkranken meist aber nicht. Wir erleben heutzutage aber auch die Ohnmacht der Antibiotika gegen die Erreger und sehen immer mehr den Zusammenhang zwischen stabilem Immunsystem und Erkrankungsrisiko. So lässt sich das Geschehen in München durch die reine Verbesserung der Umweltbedingungen erklären und soll veranschaulichen, wie erfolgreich es sein kann, eine falsche Hypothese zur Grundlage des Handelns zu machen. Eine richtige Theorie zu verfolgen, die auf Dauer in die Erfolglosigkeit führt, kann mehr schaden als nutzen.
Ich will mit diesem kleinen Ausflug in die Geschichte nicht sagen, meine dargestellten Hypothesen seien grundsätzlich falsch, nur dass sie es sein könnten. Vielmehr ist es im Grunde aber gleichgültig, ob sie richtig oder falsch sind, solange sie zu einer Verbesserung der Gesamtsituation führen. Die Verbesserung ist mein Anliegen und nicht die Aufstellung akademischer Theorien, die wissenschaftlich wertvoll sein mögen, aber in den meisten Fällen für unser alltägliches Leben irrelevant sind.
Dazu gebe ich...