1. Der Cowboy aus dem braven Westen
Eine Aufstiegserzählung
Nach und nach trudeln sie ein, die meisten huschen erst im letzten Moment in den Bernhardsaal. In den ungemütlichen Ecken von Nürnberg hält man sich nicht länger auf als nötig. Muggenhof ist ein einfaches Viertel, manche sagen auch: eines zum Durchfahren. Der Bernhardsaal, der hübscher klingt, als er aussieht, liegt in einem Hinterhof, in dem sich der Lärm der vierspurigen Fürther Straße fängt. An ihr entlang reihten sich einst die großen Namen des deutschen Wirtschaftswunders wie Perlen an einer Schnur: AEG, Quelle, Triumph-Adler, die Mopedwerke von Zündapp und Hercules.
Jahrzehntelang war Nürnberg ein industrielles Zentrum Süddeutschlands, und im Südwesten der Halbmillionenstadt stand eine Fabrik neben der anderen. Und mitten rein nach Muggenhof setzten Zisterzienser-Mönche in den Fünfzigerjahren den Bernhardsaal, einen schmucklosen, eingeschossigen Zweckbau mit Flachdach, für die katholische Jugendarbeit in der Pfarrei Zum Heiligen Schutzengel. Mit einer großen Fensterfront seitlich und einem mächtigen Kruzifix vorne an der Wand. Das ist der Ort, an dem eine streitbare, aber unbestreitbar große politische Karriere beginnt.
Es ist der 12. Oktober 1993, ein Dienstag. Die 77 Männer und Frauen, die sich an jenem Abend im Bernhardsaal versammeln, ahnen nicht, dass man sich einmal ihrer Zusammenkunft erinnern wird. Als Delegierte ihrer CSU-Ortsverbände sollen sie den Direktkandidaten der Partei für die Landtagswahl 1994 im Stimmkreis Nürnberg-West nominieren. Der bisherige Amtsinhaber Heinz Leschanowsky ist im Alter von 59 Jahren gestorben. Nun stehen drei Bewerbernamen für seine Nachfolge auf den Stimmzetteln: Karin Goller, 50 Jahre alt und aktiv in der Frauen-Union. Ihr wird nicht der Hauch einer Chance eingeräumt. Ganz im Gegensatz zu Franz Gebhardt, ebenfalls 50 Jahre alt, seit 15 Jahren Mitglied des Nürnberger Stadtrates und ein profilierter Kommunalpolitiker. Gebhardt ist der klare Favorit, er weiß das ganze Nürnberger CSU-Establishment hinter sich. Und dann ist da noch ein weiterer Außenseiter: Markus Söder, 27 Jahre alt, Fernsehjournalist. Er hat in der Jungen Union, der CSU-Nachwuchsorganisation, schon für einigen Wirbel gesorgt. Er gilt als ehrgeizig und fleißig, aber auch als etwas unangenehm.
Ein forscher Typ, dieser junge Söder. Ein paar Jahre zuvor, im Frühjahr 1986, hatte die Nürnberger »Abendzeitung« Abiturienten gefragt, was sie denn anfangen wollen mit ihrem Leben. Sechs junge Leute kamen zu Wort. Fünf davon sagten, was man von Menschen um die 20 erwartet. Dass sie erst einmal reisen oder jobben wollen, dass sie hoffen, einen Studienplatz oder eine Lehrstelle zu bekommen.
Nur einer fällt aus dem Rahmen. Denn er redet nicht nur von sich, sondern gleich vom großen Ganzen. Als fühle er sich irgendwie dafür zuständig. Es ist ein Teenager, für den beides untrennbar zusammengehört, der eigene Lebenslauf und der Lauf der Welt. Also diktiert der Abiturient »Markus Söder, 19 Jahre« der Reporterin in den Block: »Zuerst einmal ruft die Bundeswehr. Anschließend werde ich Jura und Geschichte studieren. Mein Berufswunsch ist es, Staatsanwalt oder Angestellter der NATO zu werden. Ich bin der Meinung, dass aufgrund unseres Gesellschaftssystems das Problem der Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen ist. Man muss nur genügend Engagement für seinen Beruf mitbringen.«
Da spricht einer, der es gar nicht erwarten kann, hineinzuwachsen ins System. 1986 ist das Jahr des Reaktorunglücks in Tschernobyl, europaweit fürchten die Menschen die nukleare Katastrophe. Bei Wackersdorf, nur 100 Kilometer von Nürnberg entfernt, protestieren gleich zweimal binnen weniger Monate mehr als 100000 Menschen gegen die geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage. Zeitweise kommt es an fast jedem Wochenende zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen meist jungen Kernkraftgegnern und der Polizei. Ökologie und Frieden sind die großen Themen, Friedensdemos sind Massenevents.
All das markiert den Mainstream unter politisch interessierten Jugendlichen Mitte der Achtzigerjahre. Wer sich politisch engagiert, tut das eher links. Jedenfalls definitiv links von der NATO und der bayerischen Justiz, wo Markus Söder seine Zukunft sieht, der Abiturient vom Albrecht-Dürer-Gymnasium in Nürnberg. Acht Jahre später wird der Journalist Jan Engelhardt im linksalternativen Nürnberger Stadtmagazin »Plärrer« im ersten nennenswerten Söder-Porträt bei dem Jungpolitiker »einen Hang zur Biederkeit« feststellen und von ihm Argumente hören »wie von einem Siebzigjährigen, dem nach einem entbehrungsreichen Leben die Welt gedanklich mehr und mehr aus dem Ruder läuft«.
Baustellen
Markus Thomas Theodor Söder wird am 5. Januar 1967 in Nürnberg geboren. Als Sohn von Max, Jahrgang 1930, und seiner acht Jahre jüngeren Frau Renate Söder. Die Familie lebt im Stadtteil Sündersbühl unweit der Stadtgrenze zu Fürth in einer Doppelhaushälfte, die sie gekauft und erweitert hat. Für Max Söder kein Problem, schließlich ist er vom Fach. Dem Maurermeister gehört eine kleine Baufirma in der Adam-Klein-Straße im Nachbarviertel Gostenhof. Fünf bis zehn Arbeiter beschäftigt er, je nach Auftragslage, und ist spezialisiert auf Abbruch- und Renovierungsarbeiten. Nach Sündersbühl war die Familie aus der Nürnberger Südstadt gezogen, nachdem Heike geboren und die vorherige Wohnung zu klein geworden war. Heike Söder, das ist Markus’ jüngere Schwester.
Das Wohngebiet, in dem die Söders nun leben, ist damals ein Kleine-Leute-Viertel. Kleine Leute allerdings, die es schon zu etwas gebracht haben und darauf stolz sind. Sie haben es nicht ganz nach oben geschafft, aber sie sind die soziale Leiter doch ein, zwei Sprossen hochgestiegen. Sie müssen nicht mehr zur Miete leben, sie haben ihr eigenes Häuschen, das sich die meisten von ihnen vom Mund abgespart haben.
Das ist das Milieu, das den Politiker Markus Söder sein Leben lang prägen wird. Das er auch dann weder vergisst noch abschüttelt, als er längst in Dienstlimousinen chauffiert und von Leibwächtern begleitet wird. Als er mit einer reichen Frau aus bestem Nürnberger Industrieadel in einem großen, schönen Haus lebt, im Osten der Stadt, in einem der sprichwörtlich besseren Viertel. Der Politiker Markus Söder macht nicht viel Aufheben um seinen sozialen Aufstieg, er protzt nicht, nicht mit Kleidung, nicht mit teuren Hobbys, nicht mit fetten Autos.
Es heißt, er gehe akribisch mit Abrechnungsbelegen um, trenne selbst bei kleinsten Beträgen penibel zwischen Ausgaben für Privates, Ministeramt und Partei. Er zahle im Zweifel lieber etwas aus eigener Tasche, als sich angreifbar zu machen. Nichts würde er sich weniger verzeihen, als über so einen Fehler zu stolpern. Und er leidet auch nicht erkennbar daran, dass die feine Gesellschaft der vormaligen Reichs- und Kaiserstadt Nürnberg lange mit ihm fremdelt. Die Arrivierten sehen in ihm den Emporkömmling und Straßenkämpfer. Aber um materiellen und sozialen Aufstieg geht es Markus Söder nicht, das ist für ihn nur ein angenehmer Nebeneffekt. Es geht ihm immer um Macht.
Dazu gehört auch die Macht über seine eigene Geschichte. Die Geschichte, die der Politiker Söder mit viel erzählerischer Freiheit Stück für Stück zusammenpuzzelt, ist die vom wundersamen Aufstieg eines Maurersohns aus Nürnberg-West. Wenn man ein wenig Zeit mit ihm verbringt, hört man von ihm vermutlich den Satz: »Der kleine Markus aus der Westvorstadt, und jetzt sitze ich hier als Finanzminister.« Mittlerweile kann man »Finanzminister« streichen und »Ministerpräsident« einfügen. »Dafür bin ich dankbar«, sagt Söder. »Das war nicht vorgesehen.« Seinen Weg in die Münchner Staatskanzlei will er besonders gewürdigt sehen, weil er im biederen Sündersbühl begann: »Hier kriegt man nichts geschenkt. Hier gibt es keinen billigen Schnaps.«
Söder tut im Wahlkampfjahr 2018 alles, um seine Version seiner Geschichte unter die Leute zu bringen. Er will sein Image als Machtmensch und Urheber von »Schmutzeleien« korrigieren, deshalb erlaubt er mehr private Einblicke als die meisten anderen deutschen Politiker. Seine Kinder hält er zwar strikt vor der Öffentlichkeit verborgen, aber er spricht über seine Eltern und seine Frau, seinen Glauben und seinen Hund. Selbst in der CSU schütteln da viele den Kopf, »infantil« sei das, er solle sich »auf Sachthemen konzentrieren«. Doch Söder hat sich sogar ein eigenes Veranstaltungsformat für seine selbstbezüglichen Plaudereien ausgedacht, »Söder persönlich«. Die CSU lädt dazu in Kinosäle zu Popcorn und Cola. Schon auf dem Plakat wird Söder inszeniert wie ein Hollywoodstar. Und der Abend folgt dann natürlich einem sehr genauen Drehbuch. Umso interessanter ist es, Söders Geschichte mal sehr nüchtern zu erzählen.
Mit Politik hat man im Hause Söder in der Manteuffelstraße wenig am Hut. Sich engagieren und einmischen bringe nur Ärger, predigt der Großvater, ein Autohändler. Geradezu demonstrativ unpolitisch ist die Familie. Es wird nicht groß debattiert, dennoch ist völlig klar, dass ein Söder niemals Sozialdemokrat oder – Gott bewahre – Kommunist sein könnte. Markus Söder erzählt die Geschichte, wie er als Bub vom Spielen einen roten Aufkleber heimbrachte, »Willy wählen« stand darauf, es lief der Bundestagswahlkampf 1972. Sein Vater, sagt Söder, habe ihn so richtig ins Gebet genommen: »Seitdem weiß ich: SPD bedeutet Ärger.« Max Söder ist überzeugter CSU-Wähler, Ehefrau Renate ist sogar Mitglied der Partei, wenn auch rein...