Wie so oft …
Kennen Sie auch diese eine Kollegin, die jeden Morgen voller Energie und Euphorie an die Arbeit geht? Der nichts schwerfällt, die neben der Patientenversorgung immer auch noch ein offenes Ohr für Probleme anderer hat? Die mal wieder am Wochenende einspringt, wenn die Not groß ist? Die sich auf die Weihnachtsfeier freut, weil sie sich dort mit Kolleginnen und Kollegen auch außerhalb der Arbeitszeit treffen kann? Und die jeden Morgen um Viertel vor sechs bei der Übergabe mit einem Lächeln dasitzt, weil sie sich auf die tollen Erlebnisse und Begegnungen mit den Menschen und den Herausforderungen in der Frühschicht freut? Ich war auch mal eine dieser Krankenschwestern.
Gerade zu Hause angekommen, geschafft vom Frühdienst, habe ich schon wieder dieses komische Gefühl im Bauch. Ich weiß nicht so genau, wie ich das erklären soll. Irgendwie habe ich das Gefühl, etwas verändern zu müssen. Liegt es vielleicht daran, dass ich heute meinen zwölften Tag am Stück gearbeitet habe? Vielleicht hat es aber auch etwas damit zu tun, dass heute Chefarztvisite war und das den ganzen Arbeitsablauf verschoben hat. Oder könnte es sein, dass ich dieses Bauchgefühl habe, weil ich es schon wieder nicht geschafft habe, im Dienst etwas Vernünftiges zu essen?
Ich werde vom Klingeln des Telefons aus meinen Gedanken gerissen. Stationsschwester Gaby ist am Telefon. Sie erklärt mir, dass Karin gerade angerufen hat, um sich krank zu melden, und fragt, ob ich am Wochenende die beiden Frühdienste übernehmen könnte. Sie würde auch dafür sorgen, dass ich dann am darauffolgenden Wochenende frei bekäme. Was soll ich machen? Natürlich sage ich zu, auch wenn ich mich schon auf das freie Wochenende gefreut habe. Zum Glück habe ich ja am Montag noch frei. Es kommt mir vor, als würden ich, und vielleicht noch die eine oder andere Kollegin, alleine auf der Station arbeiten. Wenn ich auf meinen Dienstplan schaue, dann habe ich jetzt schon, Mitte des Monats, 65 Überstunden. Ich weiß, ich weiß, ich bin ja selber schuld. Aber irgendwie kann ich auch nicht nein sagen, wenn ich angerufen werde, um im Krankheitsfall eine Kollegin oder einen Kollegen zu vertreten. Schon oft haben mir Freunde gesagt, ich soll beim nächsten Anruf einfach sagen, sie sollen jemanden anderen anrufen, da ich ansonsten immer diejenige sein werde, die einspringt. Aber ich bekomme es irgendwie nicht hin. Ich meine, ich bin ja nicht die einzige, die Überstunden hat. Wenn ich jedoch darüber nachdenke und in mich hineinhorche, dann merke ich, dass ich einfach mal froh wäre, in einem Monat keine Überstunden zu machen.
Naja, ich lege mich jetzt erst mal kurz auf die Couch, um mich etwas vom Frühdienst zu erholen. Gemütlich auf der Couch liegend blättere ich gedankenverloren in der Zeitung und lese die Überschrift: „Müssen Pflegende bald selbst gepflegt werden?“. Noch in der Ausbildung scherzte ich mit meiner Freundin Franzi über diese Vorstellung. Wir machten uns darüber lustig: „Wir werden wohl steinalt sein, bis wir in Rente gehen können.“ Und Franzi fügte hinzu: „Dann kommen wir morgens zum Frühdienst und bevor wir anfangen, die ersten Patienten zu waschen, müssen wir uns erst mal gegenseitig eincremen, um die Gelenke zu ölen. Die Pflegewägen werden gleichzeitig als Rollatoren genutzt, damit wir uns überhaupt bewegen können.“ Sie hatte dann immer einen regelrechten Lachflash. Wir fanden das irre komisch, obwohl es eigentlich gar nicht zum Lachen ist.
In dem Artikel steht, dass Pflegeberufe im deutschsprachigen Raum sehr angesehene Berufe sind und dass sie in der Gunst der potentiellen Berufseinsteiger auf Platz zwei, direkt hinter Feuerwehrmann, liegen. Kranken- oder Altenpflege ist in vielen Köpfen mit diversen spannenden Erlebnissen verknüpft – Notfällen, lebensrettenden Maßnahmen, Betreuung, Beistand, helfenden Händen, einfühlsamen Gesprächen, medizinischem Interesse oder traurigen, aber auch glücklichen Momenten. Schon immer gab es Menschen, die anderen in schwierigen Situationen oder Zeiten der Krankheit zur Seite standen und ihnen geholfen haben. Dennoch ist immer wieder und zunehmend die Rede vom Pflegenotstand. Als Pflegenotstand wird der aktuelle Personalmangel im Pflegebereich bezeichnet, der in Zukunft noch ein weitaus größeres Ausmaß annehmen wird. Egal ob im Internet oder in Fachzeitschriften, von „Pflegenotstand“ ist momentan überall zu lesen. Durch den demographischen Wandel werden immer mehr Menschen auf Pflege angewiesen sein. Im Jahr 2013 lag die Zahl der 65-Jährigen und noch Älteren in Deutschland bei 17 Millionen Personen. Das sind ungefähr 21 Prozent der deutschen Bevölkerung. Eine Hochrechnung ergab, dass die Zahl bis 2060 auf 34 Prozent ansteigen wird (vgl. Statistisches Bundesamt, 2009). Damit wäre jeder vierzehnte Einwohner potentiell pflegebedürftig. Eine weitere Berechnung ergab, dass bereits im Jahr 2030 zirka 3,4 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig sein werden (vgl. Paff, 2008). Derzeit werden zirka 2,9 Millionen Menschen gepflegt (vgl. Rottländer, 2017).
Ich schlucke und merke, dass ich einen Kloß im Hals habe. Jetzt, wo ich darüber nachdenke: Es ist mir schon aufgefallen, dass sich die allgemeine Situation im Krankenhaus verändert hat. Aber dass es wirklich so schlimm werden könnte, damit habe ich beim besten Willen nicht gerechnet. Bereits jetzt berichten mehr als die Hälfte der Pflegeunternehmen von einem spürbaren Fachkräftemangel. Der nächste Absatz des Zeitungsartikels beruhigt mich ein wenig: „Es lässt sich vermuten, dass die Pflegeberufe nicht aussterben oder in Zukunft Rationalisierungen zum Opfer fallen werden und auch nicht von Robotern ersetzt werden können, denn Pflege bedarf menschlicher Ansprache. Natürlich bleibt dieser Beruf immer noch ein angesehener. Die Berufe in der Pflege (ob Kranken-, Alten- oder Kinderkrankenpflege etc.) sind wertvolle Tätigkeiten, vielleicht sogar die wertvollste Tätigkeit, die ein Mensch einem ihm meist unbekannten anderen Menschen zukommen lassen kann.“
Ich lege die Zeitung zur Seite und schließe meine Augen, um mich etwas auszuruhen. Aber meine Gedanken drehen sich weiter um diesen Artikel in der Zeitung, und ich merke, dass dieses komische Bauchgefühl immer noch da ist.
Mir geht gerade einiges durch den Kopf. Wie wird das wohl noch werden mit dem Pflegenotstand? Wieso habe ich eigentlich so ein komisches Bauchgefühl, wenn ich an die Arbeit denke? Wann wird sich endlich etwas ändern? Und warum schaffe ich es eigentlich nicht, nein zu sagen?
Warum mache ich nicht einfach das, was ich möchte? – Weil es für mich gar nicht so einfach ist, das zu tun, was ich wirklich möchte. Und es ist noch schwieriger, zwischen dem zu unterscheiden, was ich wirklich möchte, und dem, was andere meinen, was gut für mich sei. Eigentlich glaube ich, dass dieses Bauchgefühl, das ich habe, nur vorübergehend ist. Aber irgendwie verschwindet es nicht. Selbst jetzt, wo ich doch entspannt auf der Couch liege, frage ich mich, warum ich nicht mehr so glücklich mit meiner Arbeit bin, wie ich es noch am Anfang meiner Berufstätigkeit war.
So sehen die Gedanken von Sabine aus.
Es ist Freitagmittag. Sabines Freund Chris kommt gerade zur Tür herein und setzt sich zu ihr auf die Couch. Er erzählt ihr, dass ihre gemeinsamen Freunde Thomas und Anja heute Abend mit ihnen essen gehen möchten und sie danach noch für einen Cocktail in die Stadt fahren wollen. Abende mit Chris und Thomas dauern meist länger, denkt sich Sabine. Sie erklärt Chris, dass sie morgen wieder mal Frühdienst hat, weil sie diejenige sein wird, die für Karin einspringt. Zum Abendessen würde sie mitkommen, sagt sie, aber danach am liebsten wieder heimfahren, um rechtzeitig im Bett zu sein. Chris hat schon länger kein Verständnis mehr, wenn Sabine mal wieder für ihre Kollegen einspringt. Er wirft ihr vor, keine Zeit mehr für ihn zu haben, dass sie sich durch den Schichtdienst nur noch selten sehen würden, dass er unglücklich sei und merke, dass es auch ihr mit der Situation nicht gut gehe. Mit genau solch einer Reaktion von Chris hat Sabine gerechnet. Traurig und etwas eingeschüchtert beschließt Sabine, heute Nachmittag nichts mehr zu unternehmen und stattdessen gemütlich auf der Couch TV zu schauen, obwohl noch die Wäsche zu machen wäre und sie eigentlich auch noch einkaufen müsste. Sie liegt auf der Couch, müde vom Frühdienst, genervt von Chris’ Reaktion und mit schlechtem Gewissen, die häuslichen Aufgaben liegengelassen zu haben. Und alles nur wegen der Krankheitsvertretung und der Tatsache, dass sie am Telefon nicht nein gesagt hat. Der Abend verläuft schließlich für Sabine wie geplant. Sie geht mit zum Abendessen, fährt dann aber relativ früh nach Hause, geht ins Bett und schläft sich aus für den nächsten Frühdienst.
Nach dem Frühdienst am Samstag telefoniert Sabine mit ihrer Freundin Maren. Sie fängt an, vom vorangegangenen Tag zu erzählen. Sie erzählt von ihrem schwer einzuschätzenden Bauchgefühl, ihrer aktuellen Situation und dass sie nicht weiß, was sie machen soll. Maren berichtet ihr daraufhin von einem Seminar an der Uni, dass sie die Woche zuvor besucht hat und in dem es um ein Selbstmanagement-Training ging. Es heißt Zürcher Ressourcen Modell (ZRM®). Was sie in der Informationsveranstaltung erfahren habe, sagt Maren, höre sich so an, als könne es Sabines Situation positiv verändern. Wenn sie interessiert sei, solle sie sich mal auf der Internetseite www.zrm.ch informieren. Maren berichtet, dass es um Situationen ging, in denen wir anders reagieren oder handeln, als wir es uns eigentlich vorgenommen haben. Dabei würden wir, so habe es der...