Einleitung – Die Geschichte des Bank- und Börsenplatzes Essen
Die Definition einer Bank ist verhältnismäßig einfach. Nach dem Gesetz über das Kreditwesen handelt es sich um Kreditunternehmen, wenn diese «Bankgeschäfte betreiben» und «der Umfang dieser Geschäfte einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb erfordert». Zu definieren, was ein Bank-, Börsen- und Finanzplatz ist, fällt schon nicht mehr so leicht.[1] Unbestritten sind Bank-, Börsen- und Finanzplätze – oder im angloamerikanischen Sprachgebrauch «financial centres» – ein Signum der modernen Arbeitswelt. Die dort gehandelten Produkte sind vielgestaltig: Sie umfassen in einem heutzutage diversifizierten globalen Kapitalmarkt Geld, Schulden, Versicherungen, andere Finanzdienstleistungen, aber auch Gold, Silber und andere Wertmetalle. Faktoren für einen erfolgreichen Bankplatz sind das Arbeitskräftepotenzial, infrastrukturelle Gegebenheiten und Kapitalangebote bzw. Finanzierungsmöglichkeiten, die schließlich eine «Sogwirkung» ausüben.[2]
Angesichts des fortwährenden Wandels – allein in den letzten 150 Jahren von der sogenannten Ersten zur Zweiten Globalisierung – ändert sich das Verständnis dessen, was in verschiedenen historischen Perioden unter einem Bankplatz verstanden worden ist.[3] Historisch betrachtet dienten Bankplätze, einem Stufenmodell von Charles P. Kindleberger folgend, zunächst den Anforderungen der Fürsten und des Adels, anschließend beförderten sie den wachsenden Handel, dienten daraufhin zunehmend den Bedürfnissen von Regierungen sowie den Notwendigkeiten des Transportsektors, indem sie den Kanal- und Straßen- sowie den Eisenbahnbau finanzierten. Schließlich waren und sind sie, in einer bis heute andauernden Phase, auch für Hypotheken- und Verbraucherkredite zuständig. Bankzentren ermöglichen somit den Transfer von Ersparnissen und Investitionen Einzelner, aber auch den Austausch von Kapital zwischen verschiedenen Orten. Finanzzentren sind volkswirtschaftliche «Knotenpunkte» des internationalen Geld- und Kapitalverkehrs, an denen sich Institutionen konzentrieren, deren Aufgabe es ist, die Geldwirtschaft in Gang zu halten: «Banken, Börsen, Versicherungen, Treuhandfirmen, Nachrichtenagenturen, Softwareschmieden, Beratungsunternehmen und Anwaltskanzleien».[4] Diese «Knotenpunkte» umfassen auch nicht-finanzielle Institutionen wie Anwaltskanzleien, Steuerberatungsbüros und andere Dienstleistungsfirmen. Die vorliegende Studie verzichtet aus pragmatischen Gründen auf die Betrachtung dieser Finanzdienstleister, Versicherungsvermittler und Agenturen und konzentriert sich auf Kreditinstitute mit Sitz in Essen sowie die überregionalen und internationalen Großbanken, die in der Stadt mit Zweigstellen oder Niederlassungen vertreten waren oder aktuell sind.
Kurz- wie langfristiger Zahlungsverkehr lässt sich am effektivsten abwickeln, so hat sich in einer jahrhundertelangen Praxis in der westlichen und zunehmend globalisierten Welt herausgestellt,[5] wenn dies von einem oder mehreren zentralen Orten aus erfolgt.[6] Auf diese Weise kann man eine hierarchische Definition von Finanzplätzen vornehmen: 1. lokale Finanzzentren («domestic financial centres»), 2. regionale Finanzzentren («regional financial centres»), die gegebenenfalls über die nationalen Grenzen ausgreifen können, 3. sog. «offshore centres» wie die Cayman Islands, die mit niedrigen Steuern und geringer Regulierung locken, sowie 4. globale Finanzzentren, die internationalen Bedürfnissen gerecht werden.[7] Staaten, die früh eine Zentralisierung erfahren hatten, wie Frankreich und Großbritannien, verfügten mit Paris und London eher über Bankplätze überregionalen Ranges als das durch Kleinstaaterei gekennzeichnete Deutschland, wo sich über Jahrhunderte hinweg konkurrierende regionale Finanzzentren wie Düsseldorf, Hamburg, München, Stuttgart, Köln, Leipzig, Frankfurt am Main und Berlin gegenüberstanden und sich den Rang streitig machten.[8] In Deutschland entstanden wirkliche zentrale Finanzplätze erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung.[9]
Beim Bankplatz Essen handelte es sich am Beginn des 19. Jahrhunderts noch um ein rein lokales Finanzzentrum, das sich aus dem Handel heraus entwickelte und dabei zwar erste regionale Vernetzungen knüpfte, die jedoch nahezu ausschließlich zur Finanzierung Essener Unternehmen dienten. Doch spätestens mit der Reichsgründung 1871, der Entstehung mittelgroßer Privatbanken und der Etablierung der Essener Credit-Anstalt als universeller Aktienbank entwickelte sich Essen zu einem Zentrum, das in die Region wirkte und einen erheblichen Beitrag zur Finanzierung der Ruhrindustrie leistete.
Der Erfolg eines solchen Bankplatzes hing von zahlreichen Bedingungen ab: Neben der Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte wird, mit am wichtigsten, «the potential for external savings» genannt.[10] Er bedarf aber auch einer starken Währung, einer funktionierenden Infrastruktur, er benötigt politische Stabilität, möglichst niedrige Zinsen auf Finanztransaktionen, möglichst geringe Staatsinterventionen und Regulierungen sowie die weitgehend liberale Ausgestaltung des Handelsumfelds.[11] An diesen Plätzen muss aber auch differenziertes technisches Know-how für Beratungszwecke zur Verfügung stehen.[12] Nicht zu vergessen ist der Faktor Kunst, Kultur und Unterhaltung, die einen Bankplatz attraktiv machen können, denn, um den Titel einer einschlägigen Festschrift zu zitieren, «Bankiers sind auch Menschen».[13] Bezeichnenderweise spielen im Nachhall der im Jahr 2016 diskutierten Frage, welcher Finanzplatz nach der «Brexit»-Entscheidung einen adäquaten Ersatz bzw. eine Ergänzung für London bieten könne – etwa Amsterdam, Paris oder Frankfurt am Main –, auch die Lebensqualität, die Verfügbarkeit von angemessenem und bezahlbarem Wohnraum, internationale Schulen sowie die Verkehrslage als Faktoren eine Rolle. Bank- und Finanzplätze müssen ständig darauf achten, attraktiv zu bleiben, denn der Wettbewerb in einer globalisierten Welt ist hart: In historischer Sicht muss man nur an Städte wie Venedig, Genua und Florenz bzw. in der Frühen Neuzeit an Brügge und Antwerpen erinnern, um sich zu vergegenwärtigen, wie schnell sich eine mühsam aufgebaute Reputation als Geld- und Handelszentrum unwiederbringlich verflüchtigen kann. Im 20. Jahrhundert ist Detroit ein erschreckendes Beispiel, wie rasch mit dem Niedergang von Finanzfunktionen auch ein Wohlstandsverlust einhergehen kann.
In einer Untersuchung des Bankplatzes Berlin wurde vorgeschlagen, auf die Bezeichnungen «Finanzplatz» bzw. «Bankzentrum» zu verzichten, weil andernfalls eine Analyse der Geld- und Kapitalmarktverhältnisse notwendig sei. Man solle lieber von einem «Bankplatz» sprechen als einem «Ort, an dem durch Banken und Bankiers Bankgeschäfte getätigt werden»; hierzu zählten alle diejenigen Kreditinstitute, «die diesem Platz seine Charakteristik gegeben und zu seinem Bedeutungszuwachs beigetragen haben».[14] Um diesem Missstand abzuhelfen, lohnt sich eine Definition der Umstände, die ausdifferenzierte Finanzmärkte wie etwa New York oder London ausmachen: erstens ein Geldmarkt mit Segmenten für weitreichende Handelsgeschäfte wie Anleihen und Schatzanweisungen, zweitens ein sowohl staatlicher wie privater Kapitalmarkt, der sich um die Distribution der Mittel sorgt, und schließlich drittens der Handel mit Rohstoffen und Währungen. Solche Zentren entwickelten sich zunächst regional. Sie konnten historisch und können aktuell, wenn die Umstände es erlauben, nationale und sogar internationale Dimensionen annehmen.[15]
Diese Definition eines geografisch verorteten internationalen Geld- und Kapitalmarkts ist, mit geringen Variationen, inzwischen fast Gemeingut geworden. Dabei lag der Fokus der Forschung meist auf den «global playern» der Finanz- und Bankplatzarena, obwohl regionale Plätze eine notwendige Ergänzung einer zentralisierten Finanzwirtschaft sind. Die Entstehung und das Fortbestehen regionaler Finanzplätze ist wesentlich das Resultat des Informationsvorteils, den diese dezentralen Orte haben: Sie können die Vorteile ausspielen, die sie – anders als die großen zentralen und notgedrungen anonymen Finanzplätze – in der Region bei Unternehmen und Verwaltungsbehörden haben: persönliche Kenntnisse des Umfelds, persönliche Kontakte zu den Entscheidern vor Ort und allgemein ein besseres Wissen um die Geschäftskultur und die Marktchancen auf der regionalen ...