I. Mittelalterliche Reiche und religiöse Bewegungen
Indiens Geschichte hat einen großen Tiefgang. Schon vor rund 8000 Jahren gab es in den Randgebieten des Industals sesshaften Ackerbau. Die Menschen dort domestizierten das Buckelrind (Bos indicus), das ihnen Nahrung gab und den Pflug zog. Sie konnten schließlich das gewaltige Schwemmland des Indus erobern, der doppelt so viel Wasser führt wie der Nil. Mit einem ebenfalls hier domestizierten dürrebeständigen Rundkornweizen erzielten sie reiche Ernten. Die Bevölkerung wuchs, große Städte entstanden. Gewaltige Mauern mit genormten Ziegeln, ein einheitliches System von Maßen und Gewichten und eine sich bis an den Rand der nördlichen Gangesebene und bis nach Gujarat und Maharashtra erstreckende Herrschaft zeugen von der Größe einer der frühen Kulturen der Menschheit. Da es weder Paläste noch Königsgräber, wohl aber religiös-rituelle Plätze und Siedlungen einer Elite in den Zitadellen der Städte gab, nimmt man an, dass eine Art Priesterschaft für die Normensetzung und die lange Erhaltung dieser Kultur zuständig war. Die auf vielen Siegeln befindliche Schrift dieser Kultur ist bisher nicht entziffert worden. Sie diente wohl in erster Linie der Übermittlung kommerzieller Informationen. Das Fernhandelsnetz der Induskultur war weit gespannt. Es bezog die südliche Arabische Halbinsel und Mesopotamien ein und reichte wohl bis nach Afrika. Von dort bezog man die afrikanischen Hirsearten, die es der Induskultur erlaubten, in Hochlandgebiete vorzudringen, in denen sich kein Weizen anbauen ließ. Diese Hirsearten sind bis auf den heutigen Tag für die Landwirtschaft dieser Gebiete bestimmend geblieben.
Um 1900 v. Chr. setzten klimatische Veränderungen und vermutlich auch tektonische Umbrüche der Induskultur ein Ende. Man nimmt an, dass die Niederschläge beträchtlich zurückgin gen, auch soll die Yamuna, die heute nach Osten fließt und in den Ganges mündet, früher wohl nach Südwesten geflossen sein, wo sie weite Landschaften östlich des Indus bewässerte. Als die Induskultur bereits dem Untergang geweiht war, lebten in Afghanistan, sozusagen im Vorhof Indiens, nomadische Hirten, die sich selbst «Arya» (die Edlen) nannten. Ihre Krieger zogen auf schnellen, leichten Streitwagen in den Kampf. Die Induskultur kannte das Pferd nicht und damit auch keine kriegerische Elite von der Art, die auf Streitwagen daherkam und sich Indien untertan machte. Die Trockenzeit, die die Waldungen der Gangesebene ausdörrte, ermöglichte es den Streitwagenkriegern, Brandrodungsbau zu betreiben und nach Osten vorzustoßen. In ihren mündlich überlieferten heiligen Schriften, den Veden, ist von dem Feuergott Agni die Rede, der ihnen auf dem Weg nach Osten «vorangeflammt» sei. Am Gandak (Sadanira), dem westlichen Grenzfluss des heutigen indischen Bundeslandes Bihar, machte Agni Halt. Das Land jenseits dieses Flusses galt den «Arya» lange Zeit als unreines Land. Sie konsolidierten ihre Herrschaft in der mittleren Gangesebene, wo es zu einer zweiten Urbanisierung kam. Die Städte, die hier ab ca. 550 v. Chr. entstanden, waren zwar nicht so bedeutend wie die der Induskultur, die rund 1500 Jahre zuvor erbaut worden waren, aber sie sind doch Zeugen einer eindrucksvollen urbanen Kultur mehrerer Königreiche, die jedoch bald von den Großmächten des Ostens besiegt wurden.
Der «unreine» Osten (Bihar und Bengalen) bot den dort entstehenden Großreichen eine enorme Machtbasis. In den Tiefebenen wuchs der Reis und damit auch die Bevölkerung. Im nahen südlichen Hügelland gab es Eisenerz, das von geschickten Handwerkern zu Werkzeugen und Waffen verarbeitet wurde. In den angrenzenden Wäldern konnte man Elefanten fangen und zähmen. Der Kriegselefant wurde zur Wunderwaffe der neuen Reiche. Er war dem Streitwagen in jeder Hinsicht überlegen. Dort im Osten entstanden aber auch neue religiöse Bewegungen, die die alte Religion der Veden herausforderten. Gautama begründete hier den Buddhismus, Mahavira den Jainismus. Diese Lehren fanden im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. eine rasche Verbreitung. Ashoka (268–233 v. Chr.), der dritte Herrscher der Maurya-Dynastie, war selbst ein Laienbruder des buddhistischen Ordens und verkündete in seinen Fels- und Säulenedikten, die von Afghanistan bis Ost-Bengalen und im Süden bis in die Gegend des heutigen Bangalore zu finden sind, eine Art buddhistischer Staatsethik. Sein Riesenreich war kein flächendeckender Territorialstaat. Seine Herrschaft stützte sich auf die Kontrolle der Fernhandelsstraßen und auf das fruchtbare Kerngebiet seines Reiches um die Hauptstadt Pataliputra (Patna). Bald nach seinem Tod löste sich dieses Riesenreich wieder auf. Im Osten herrschten regionale Könige, im Norden lösten sich Invasoren aus Zentralasien ab. Erst in der Zeit von 320 bis 497 n. Chr. gelang es der Gupta-Dynastie nochmals ein Großreich zu errichten, dessen Kerngebiet dasselbe war wie das des Ashoka. Ihre mächtigsten Rivalen waren die Vakatakas, die in Zentralindien herrschten. Mit ihnen gingen sie eine Heiratsallianz ein. Man spricht daher auch von der Gupta-Vakataka-Dynastie. Unter ihrer Herrschaft erlebte Indien eine kulturelle Blütezeit. Es entstand die klassische Sanskritdichtung, die Tempelskulptur zeichnete sich durch die große Schönheit ihrer lebensvollen Gestalten aus. Der Glanz dieser urbanen, höfischen Kultur strahlte auf die späteren Regionalreiche aus.
Indiens «klassisches Altertum» endete mit dem Hunneneinfall, der dem Guptareich den Todesstoß versetzte. Die Hunnenkönige Toramana und Mihirakula, die Nordwestindien von ca. 506 bis 528 beherrschten, vernichteten dort die urbane Kultur und wohl auch die buddhistischen Klöster. Lokale indische Fürsten vertrieben schließlich die Hunnen, die auch in Zentralasien Niederlagen erlebten, die ihre Macht versiegen ließen. Doch ein indisches Großreich konnte nun für lange Zeit nicht wieder entstehen. Indische Nationalisten des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich im Freiheitskampf auf die Suche nach einer brauchbaren Vergangenheit begaben und im «klassischen Altertum» das goldene Zeitalter sahen, betrachteten das Mittelalter meist als finstere Epoche des Herrschafts- und Kulturverfalls. Dagegen versuchten indische Marxisten, in dieser Epoche Spuren eines indischen Feudalismus zu finden, um die indische Geschichte in die universale Stufenfolge einzuordnen, die Marx vorgezeichnet hatte. Marx selbst sah zwar Indien in ewiger Stagnation verharrend, zu der es durch die «asiatische Produktionsweise» verdammt war; seiner Ansicht nach hatten erst die Briten durch ihre Kolonialherrschaft dieser Stagnation ein Ende gesetzt und Indien dem Kapitalismus unterworfen. Dieses Urteil des Meisters war für indische Marxisten jedoch unerträglich. Sie mussten versuchen, einen indischen Feudalismus nachzuweisen. Dabei stießen sie auf die Kritik nicht-marxistischer Historiker, die sich an den Rechtsformen des europäischen Feudalismus orientierten und auf deren Fehlen in Indien hinwiesen. Diese Debatten spornten die Erforschung des indischen Mittelalters an, das sonst «finster» geblieben wäre. Doch sowohl die Marxisten als auch ihre Kritiker sahen den Feudalismus im Grunde als ein negatives Phänomen, anstatt ihn als eine mittelalterliche Inkorporationsstrategie zu betrachten, die es auf ihre Weise ermöglichte, «Staat zu machen». Der feudale Staat war ein Personenverband. Der Herrscher musste mit den ihm zur Verfügung stehenden kulturellen Strategien diesen Verband stabilisieren und die Personen, auf die es dabei ankam, in seinen «Hofstaat» inkorporieren.
1. Feudale Herrschaft im «Kreis der Nachbarn»
Die frühen Großreiche waren noch in der Lage, ihre Ordnung sozusagen «von oben» durchzusetzen. Ihre Herrscher trafen selten auf ebenbürtige Gegner. Unzugängliche Stammesgebiete, deren Eroberung mehr gekostet als eingebracht hätte, ließen sie unbeachtet und konzentrierten sich auf die Kontrolle der Handelswege und einiger fruchtbarer Kerngebiete. Eroberungszüge großer Herrscher dienten in erster Linie der Verbreitung ihres Ruhms und der Erringung von Beute. Besiegte Gegner wurden meist wieder eingesetzt und zu Abgabenleistungen und zum Erscheinen bei Hofe des Siegers verpflichtet. Die Allahabad-Inschrift Samudraguptas (ca. 350) zeigt dies in allen Einzelheiten. Die Machtmittel (Heer und Kriegselefanten), die einem Herrscher wie Samudragupta zur Verfügung standen, waren beträchtlich. Kein Zeitgenosse konnte ihm darin gleichkommen. Doch solche Machtdemonstrationen der Guptas hatten auch eine Vorbildwirkung. Ihr Herrschaftsstil und ihre Kriegstechnik ließen sich von vielen regionalen Herrschern später nachahmen. Nur konnten diese ihren Willen nicht mehr «von oben» durchsetzen, sondern mussten durch Inkorporationsstrategien sozusagen «von unten» her ihre Herrschaft aufbauen und sichern. Von besonderer Bedeutung waren dabei die Beziehungen des Herrschers zu den Brahmanen und zu seinen fürstlichen «Kollegen». Diese Beziehungen waren auf vielfältige Weise miteinander verknüpft, sie sollen aber hier nacheinander dargestellt werden.
Könige und Brahmanen hatten schon in den vorangegangenen Epochen der indischen Geschichte ein symbiotisches Verhältnis zueinander. Der König...