Einleitung
Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs triumphierte über lange Jahre die Ideologie der Grenzenlosigkeit: Die von den staatssozialistischen Regierungen gezogenen Barrieren zum Westen waren endlich weg, innerhalb der EU-Schengen-Staaten folgte die Aufhebung der Binnengrenzen, bald würde es überhaupt keine Grenzen auf der Welt mehr geben.
Seit einigen Jahren kippt die proklamierte Grenzenlosigkeit. Sie hat dem Ruf nach Wiedererrichtung von Grenzen Platz gemacht: gegenüber den in der EU und den USA Zuflucht suchenden MigrantInnen, gegenüber chinesischen Firmenübernahmen, gegenüber einer Islamisierung der europäischen Gesellschaft u. v. a. m.
Diese Tendenzen geben Stimmungen wieder. Mit den real existierenden Grenzen haben sie rein gar nichts zu tun. Denn das Zeitalter der offenen Grenzen beruhte auf einer rigiden Abschottung gegenüber Menschen aus Drittstaaten. Die Grenze war nicht aufgehoben, sondern lediglich an die EU-Außengrenze verlagert und – mit der Verlagerung nach außen – in ihrer Wirkung potenziert worden. Umgekehrt bedeutet das aktuelle Revival der Grenzen keineswegs ein Ende der grenzenlosen westlichen Einmischung in aller Welt. Die westlich dominierten internationalen Finanzorganisationen verordnen Kapitalverkehrsfreiheit, Freihandel und Nichtdiskriminierung. Sie nehmen damit den Regierungen des globalen Südens die Instrumente aus der Hand, ihre Märkte zu schützen und ihren BürgerInnen Arbeit und Einkommen zu verschaffen. Aufkeimende Bemühungen nachholender Entwicklung und überregionaler Integration in Westasien, Afrika oder Lateinamerika wurden und werden politisch delegitimiert oder sogar militärisch destabilisiert. Mannigfaltige Interventionen produzieren immer mehr Opfer; Flüchtlinge suchen ihr Heil im reichen Norden. Dort errichtet man unter dem euphemistischen Titel eines »Migrationsmanagements« Schleusen, wo sich die Zentrumsländer unter denjenigen, die die Grenzen überwunden haben, die Gefügigsten und am besten Ausgebildeten aussuchen können, während die anderen dem illegalen Arbeitsmarkt oder der zwangsweisen Rückführung anheimfallen.
Vor diesem Hintergrund vertieft sich der Riss auch in den Wohlfahrtsgesellschaften des globalen Nordens. Quer durch alle weltanschaulichen Lager bricht ein Konflikt zwischen den zwei Fraktionen auf: »Grenzen zu«, verlangen die einen, »No border«, skandieren die anderen. Die Protagonisten stehen einander unversöhnlich und verständnislos gegenüber. Hinter den unterschiedlichen Ideologien verbergen sich handfeste Interessen: Von Unternehmerseite wird die Deregulierung des Arbeitsmarktes begrüßt; die neue Mittelschicht freut sich über die Multikulturalisierung der Gastronomie und die kostengünstige Verfügbarkeit häuslicher Dienste; die alte Arbeiterklasse, die von der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt bedroht ist, hofft, dass höhere Grenzzäune die Unerwünschten abhalten. Ob xenophob oder xenophil, die beiden Lager weisen eine Gemeinsamkeit auf: Sie instrumentalisieren die Grenze in Hinblick darauf, wie sie dem Wohlergehen der eigenen Gruppe in der Gesellschaft bzw. der jeweiligen Vision davon nutzt.
Einmal als ein Instrument, das an der Staatsgrenze, der EU-Außengrenze oder ubiquitär überall dort, wo böse Fremde vermutet werden, hochgezogen werden soll, um so soziale Errungenschaften, kulturelle Eigenheiten, die Sicherheit und das vermeintlich friedliche Zusammenleben der Einheimischen zu gewährleisten. Auf der anderen Seite wird die Grenze selbst zum Feindbild stilisiert, die die Freiheit des Austauschs, der Bewegung und des Aufenthalts bedroht, und durch das Wunschbild des freien Pulsierens von Menschen, Waren, Kulturen und Werten ersetzt, das durch Vermischung Bereicherung und Auffrischung bringt.
Es handelt sich beim Wunschbild Grenze und beim Feindbild Grenze um eine Überbewertung dessen, was Zäune, Mauerbau, Passerteilung, Visa, Einwanderungs-, Arbeitsmarkt- oder Asylquoten bzw. ihre Abschaffung bringen können. In die Grenze werden ebenso wie in die Grenzenlosigkeit Hoffnungen projiziert, die diese niemals erfüllen können. Umgekehrt stellen Grenzen tatsächlich Mechanismen bereit, mit denen Staaten und Staatenbünde wirtschaftliche und politische Weichen stellen und Vor- und Nachteile für Bürger und Arbeitskräfte erwirken können.
Wer welche Politik der Grenze als vorteilhaft erachtet, hängt stark von der sozialen Lage und der wirtschaftlichen Tätigkeit ab: Interessenvertretungen von Unternehmern, Lohnabhängigen, aber auch von bestimmten Branchen oder Regionen setzen die Regierungen unter Druck, ihre diesbezüglichen Forderungen umzusetzen. Auch MigrantInnen und Schutzsuchende bedienen sich der Grenze, um Unbill, Not oder Verfolgung durch Ortswechsel zu entgehen. Diese Akteure können die Grenzen durch ihren Gebrauch nur indirekt beeinflussen, insofern sie durch ihre Mobilität Verschärfung oder Liberalisierung hervorrufen, sich ansonsten aber dabei den Grenzregimen anpassen und den für sie günstigsten Weg wählen.
Grenzen sind kein Ausnahmezustand, sondern eine Grundkonstante im Zusammenleben von Menschen und Gemeinwesen. Dabei treten Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen in mannigfaltigen Erscheinungsformen auf. Es gibt politisch-administrative, militärische, ökonomische, soziale, kulturelle, geschlechtliche und weltanschauliche Grenzen, um nur die wichtigsten zu nennen. Sie alle haben vielerlei Ausprägungen, ob es sich um den Raum der Politik, der Wirtschaft, der Sozialordnung und der Einkommensverteilung, der kulturellen Identität und der Repräsentation handelt. All diese Bereiche verbinden sich unter unterschiedlichen historischen Umständen in ganz spezifischer Weise im Raum, wo sie uns als zusammengesetzte Grenzen gegenübertreten. Nicht immer handelt es sich dabei um geographisch festmachbare, zusammenhängende Räume. Jede physisch-geographische Grenze im Raum ist jedoch Ausdruck und Spiegel politischer Machtverhältnisse, ökonomischer Kräfteverhältnisse, sozialer Ungleichheit und kultureller Differenz.
All diese Grenzen sind Gegenstand von Interessenkonflikten, politischer Gestaltung sowie individueller und kollektiver Praxis – schon im Moment ihrer Entstehung ebenso wie in ihrer Handhabung, etwa bei der Auseinandersetzung um Nutzung und Eigentum, um staatsbürgerliche Rechte, um sozialen Aufstieg, bei den Bemühungen um nachholende Entwicklung, bei der Verteidigung kultureller Eigenheit oder bei der Akkulturation: Überall geht es um Fragen der Grenzziehung und Grenzüberschreitung. Ohne Grenzen kann nichts bewahrt und nichts überschritten werden.
Die Praxis der Grenze ist viel komplexer, als es die Wunschbilder von »Grenzen zu« und »No border« wahrhaben wollen. Grenze ist ein Instrument in der Ausgestaltung menschlicher Beziehungen und kann somit in jedem Sinne benutzt werden. Es lässt sich ebenso wenig abschaffen wie das Bedürfnis nach räumlicher Bindung und Identifikation – Territorialität –, die im Laufe der Geschichte ebenfalls ganz unterschiedliche Ausprägungen erfuhr.
Der Gebrauch der Grenze schafft Inklusion und Exklusion, er unterliegt Machtverhältnissen, Aushandlungssystemen, gesellschaftlichen Interessen und Entwürfen. Art und Ausformung von Grenzen sind also immer umstritten; ihre Form ebenso wie der Konflikt über ihre Formgebung zeigen regionale Unterschiede und ändern sich im Verlauf der Geschichte. Dabei ziehen sich Grundmuster, die aus globaler Ungleichheit und sozialen Gegensätzen vor Ort entstehen, durch den Diskurs über die Grenze. In diesem Diskurs wird Grenze zu einer zentralen Kategorie der Vorstellungswelt der Zeitgenossen. Grenze existiert nicht nur als Strukturierungselement von Raum und sozialer Ordnung, sondern auch in den Köpfen und Emotionen. Dieser Diskurs reflektiert die Spaltung in die einen, die Grenzen abschaffen und die anderen, die sie hochziehen wollen.
Das vorliegende Buch will ein verwickeltes Phänomen ordnen und durchschaubar machen. Da Grenze für viele Hoffnungen und Ängste herhalten muss, wird sie in verschiedenste Richtungen stilisiert, hochgejubelt, dämonisiert, verschleiert. Es ist geradezu paradox, wie in Zeiten, in denen schwerwiegende Fortifikationen von Grenzen vorgenommen werden – zwischen den Wohngegenden der Reichen und Armen, an Staats-, Block- und Wohlstandsgrenzen – der Mythos der Grenzenlosigkeit die herrschenden und die widerständigen Interessen gleichermaßen im Banne hält.
Die Autorin schreibt gegen die Stilisierung der Grenze zum Wunschbild oder zum Feindbild an. Sie zeigt die Entwicklung von Grenzen und deren wechselhaften Gebrauch im Laufe der Geschichte auf und lotet damit sowohl das Herrschaftspotenzial als auch das Schutz- und Befreiungspotenzial von Grenzen aus.
Last but not least zeigt das Nachdenken über Grenzen, dass Grenze nicht bloß Gegenstand, sondern auch Methode ist: Methode beim Erkennen von Ungleichheit, ihrer Durchsetzung und Verschleierung, und Methode beim Entwickeln und Umsetzen sozialer Gerechtigkeit. In diesem Sinn ist jede Politik eine Politik der Grenze. Eine zentrale Aufgabe besteht darin, Fremdbestimmung durch Grenze durch Selbstbestimmung der Grenze zu ersetzen.
Aufbau
Das Buch beginnt mit einer kurzen begriffsgeschichtlichen Einführung. Es folgen die drei Hauptabschnitte »Chronologie der Territorialität«, »Typologie der Grenzen« und »Grenzregime und Politik der Grenze« sowie ein Ausblick.
Den Ausgangspunkt bildet die...