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Psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung

Ein integrativer Ansatz für Kinder und Erwachsene

AutorAnton Do?en
VerlagHogrefe Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl543 Seiten
ISBN9783844428285
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis42,99 EUR
Der vorliegende Band gibt einen umfassenden und mit vielen Fallbeispielen versehenen Überblick zu den besonderen diagnostischen und therapeutischen Herausforderungen bei Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen bei Kindern und Erwachsenen mit intellektueller Beeinträchtigung. Für die 2., überarbeitete Auflage wurden neue Befunde und Erkenntnisse im Bereich der emotionalen Entwicklung aufgenommen. Mehrere Kapitel wurden unter Berücksichtigung neuer Forschungsergebnisse und der Veränderungen im DSM-5 überarbeitet. Neu hinzugekommen ist zudem ein Kapitel zu Störungen der Entwicklung des Selbst. Grundlage des Buches ist auch in der 2. Auflage ein Ansatz, der neurobiologische, entwicklungspsychologische, psychiatrische, psychotherapeutische und heilpädagogische Aspekte integriert. Auf dieser Basis wird ein interdisziplinäres Konzept der integrativen Diagnostik und multimodalen Behandlung entwickelt. Das Phasenmodell der kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung erweitert die Sichtweise auf die oftmals ungewöhnlichen Verhaltensweisen, Symptome und Störungsbilder, wie z. B. aggressives Verhalten, Störungen der Impulskontrolle, aber auch auf bekannte psychiatrische Störungsbilder wie affektive Störungen, Schizophrenien, Angst- und Zwangsstörungen, Persönlichkeitsstörungen, ebenso Autismus-Spektrum-Störungen, Altersdemenzen und Epilepsien. Bei der Beschreibung der spezifischen Verhaltensweisen und Erscheinungsformen der Störungsbilder werden sowohl der Schweregrad der intellektuellen Beeinträchtigung als auch der emotionale Entwicklungsstand berücksichtigt. So werden ein differenzierter, verstehender Zugang und erweiterte diagnostische Einschätzungen möglich. Dies eröffnet neue Wege, Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung therapeutisch und pädagogisch zu unterstützen und ihre seelische Gesundheit - ganz im Sinne der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen - zu fördern. Der niederländische Autor Anton Do?en zählt zu den weltweit führenden Experten auf dem Gebiet der Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung.

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Leseprobe

|1|Einleitung


Warum dieses Buch?


Mehr als 15 Jahre sind seit der Veröffentlichung des Buches „Psychische en gedragstoornissen bej zvakzinnigen“ (Došen, 1990a)6 vergangen. Damals war beabsichtigt, die Aufmerksamkeit der in der Versorgung von Menschen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung Tätigen auf das Problem der seelischen Gesundheit dieser Bevölkerungsgruppe zu lenken. Das Buch war auch für Kolleginnen und Kollegen im allgemeinen psychiatrischen Versorgungssystem gedacht. Es verband sich mit der Hoffnung, sie würden angespornt werden, Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung mehr Beachtung zu schenken. Aufgrund der Besonderheiten psychischer Störungen bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung wählte ich damals einen Entwicklungsansatz für Diagnostik und Behandlung: das entwicklungsdynamische Modell. Dieses Denk- und Arbeitsmodell hat sich in der Praxis bewährt. Wichtig war die Erkenntnis, dass psychiatrische Diagnostik auch bei Menschen mit sehr niedrigem Entwicklungsniveau möglich ist. Die spezifischen Symptome psychischer Störungen bei Menschen mit schwerer oder schwerster intellektueller Beeinträchtigung wurden in verschiedene neue diagnostische Kategorien eingeordnet. Das Niveau der emotionalen Entwicklung wurde als wichtiger Faktor für die Entstehung psychischer Störungen eingeführt. Die auf dem entwicklungsdynamischen Modell basierenden Behandlungsstrategien führten zu guten Resultaten. Während Psychologen, Heilpädagogen, Sozialarbeiter und Pflegefachleute das Entwicklungsmodell gut akzeptieren konnten, fand es bei Psychiatern kaum Beachtung. Sie beharrten auf der klassischen, vornehmlich nosologischen und diagnostischen Denkweise, die die Basis der internationalen diagnostischen Systeme DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association, APA) und ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems der Weltgesundheitsorganisation, WHO) bildet7.

|2|Im letzten Jahrzehnt wurde der große Rückstand der psychiatrischen Diagnostik und Behandlung von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung zum Teil aufgeholt. Während damals noch vor allem betont werden musste, dass Menschen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung wie alle anderen Menschen auch psychische Störungen haben können, ist diese Tatsache heutzutage bekannt und weitgehend akzeptiert. Fachleute auf diesem Gebiet beschäftigen sich jetzt damit, die Unterschiede in der Entstehung und in der Symptomatik von psychischen Störungen bei intellektuell beeinträchtigten Menschen im Vergleich mit der Normalpopulation zu erkennen und angemessen zu interpretieren. Die Veränderungen in der psychiatrischen Versorgung sind nicht nur den neuen Denkmodellen zur seelischen Gesundheit von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung zu verdanken, sondern auch Veränderungen in den Sichtweisen der allgemeinen Psychiatrie sowie der schnellen Entwicklung innerhalb neuer Wissenschaftsdisziplinen wie Molekularbiologie, Genetik, Neuropsychiatrie, Biologische Psychiatrie und Kognitive Neurowissenschaften. Diese Entwicklungen (vgl. auch Kapitel 3) haben dazu beigetragen, psychiatrische Störungen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten zu können. Hierdurch entsteht ein tieferer Einblick auch in die pathogenetischen Prozesse, die bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung zu psychischen Erkrankungen führen. Das entwicklungsdynamische Modell konnte dadurch vertieft und verbreitert werden. Es gelang, dieses Modell im Rahmen der Entwicklungsperspektive in der Psychiatrie (als neues Erklärungsmodell in der Psychiatrie) wie auch in der aufkommenden Wissenschaft der Entwicklungspsychopathologie zu platzieren.

Im vorliegenden Buch sollen die psychiatrischen Probleme und Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung aus der Perspektive verschiedener Konzepte betrachtet werden. Das dient dem Ziel einer integrativen Sicht auf die Entstehungsmechanismen und die Symptomatik der Störungen. Dabei werden nicht nur verschiedene psychiatrische Denkmodelle, sondern auch Sichtweisen aus anderen Disziplinen (Heilpädagogik, Psychologie) in einem integrativen Konzept zusammengeführt. So verdankt dieses Buch seine Entstehung den Entwicklungen neuer Ideen und Konzepte. Es verfolgt die Absicht, durch seinen Praxisbezug zur Verbesserung der psychiatrischen Versorgung intellektuell beeinträchtigter Menschen mit zusätzlichen psychischen Störungen beizutragen.

Integrativer Ansatz


Die Psyche von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung unterscheidet sich in mancher Hinsicht von der von Personen mit einer durchschnittlichen psychischen Entwicklung (vgl. Kapitel 2). An der Entstehung psychischer Störungen sind oft andere Faktoren beteiligt. Daher reicht bei ihnen der traditionelle psychiatrische Ansatz nicht aus. In der traditionellen psychiatrischen Herangehensweise |3|sind Symptome als Ausdruck psychischer Gestörtheit der unmittelbare Weg zum Erkennen der Störung, zur Diagnose und zur Auswahl der Behandlung. Bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung ist es viel schwieriger, Symptome einer psychischen Störung zu erkennen. Zudem haben die einzelnen Symptome eine geringere diagnostische Bedeutung als bei nicht behinderten Menschen. Das rührt daher, dass bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung der Unterschied zwischen normalem und nicht normalem Verhalten wegen ihrer Entwicklungsverzögerung schwierig zu erkennen ist. Zudem ist die Symptomatik bei diesen Menschen oft weniger differenziert als bei durchschnittlich entwickelten Menschen. Für das Erkennen und Verstehen psychischer Störungen bei intellektuell behinderten Menschen ist es nötig, ihren gesamten physischen und psychischen Zustand zu betrachten. Dies wird als holistischer Zugang bezeichnet. Der Betrachter schließt biologische, soziale, psychologische und Entwicklungsaspekte der betreffenden Person ein. Sowohl pädagogische, kulturelle und Umweltbedingungen als auch die Vorgeschichte (z. B. Lebenserfahrungen) und die Zukunftsperspektive (z. B. Erwartungen) der betroffenen Personen sind wichtige Aspekte im Rahmen des ganzheitlichen Zugangs.

Die Psychopathologie bzw. die psychische Störung wird als bestimmter Aspekt des Daseins eines Menschen gesehen. Um die Bedeutung eines psychopathologischen Zustandes zu verstehen, ist das Problem aus verschiedenen Dimensionen zu beleuchten, die bereits in der Charakterisierung des holistischen Zugangs genannt wurden. Diese ganzheitliche Betrachtung der psychopathologischen Symptomatik wird integrativer Ansatz genannt. Das Ergebnis einer solchen Herangehensweise an das Problem ist die integrative Diagnose der psychischen Störung, woraus eine integrative Behandlung folgen kann.

Zusammengefasst bedeutet dies: Mit einer ganzheitlichen Herangehensweise ist die Betrachtung der betroffenen Personen in ihrer Gesamtheit gemeint, während die in diesem Buch benutzte integrative Methodik den besonderen Umgang mit der psychopathologischen Symptomatik bzw. der psychischen Störung und dem Problemverhalten der betroffenen Person meint. Dabei sind folgende Aspekte von besonderer Bedeutung:

  • die Persönlichkeitseigenschaften des Individuums,

  • die Gegebenheiten der Umwelt,

  • die Prozesse, die zu der psychopathologischen Symptomatik geführt haben.

Dabei wird auf jüngste Entwicklungen im psychiatrischen Denken zurückgegriffen. Hintergrund dieser Herangehensweise ist die klassische phänomenologische Psychopathologie von Karl Jaspers (1913)8. In den Kapiteln 3, 4 und 5 dieses Buches werden diese Themen ausführlich besprochen.

|4|Das integrative Konzept einer Psychopathologie9 bei Menschen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung umfasst mehrere Aspekte:

  1. Betrachtung der Psychopathologie aus verschiedenen Denkmodellen heraus,

  2. Verständnis einer Psychopathologie als Resultat von Störungen der physiologischen und psychosozialen Funktionen auf verschiedenen Ebenen des Zentralnervensystems,

  3. Anerkennung der Umgebung als wichtigen Faktor bei der Entstehung der Psychopathologie,

  4. Integration von Erkenntnissen verschiedener Disziplinen zu einem ganzheitlichen Bild,

  5. Planung der Interventionen auf der Grundlage von Erkenntnissen über Bedingungen und Prozesse, die zur...

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