Prolog: Ein ganz normaler Tag in fünf Jahren?
Unser Smartphone weckt uns morgens mit der ›To-Do-Liste‹ für die nächsten Minuten: Duschen, Zähne putzen, Toilettengang und ein paar Dehn- und Streckübungen, um die ersten Tagespunkte für unsere Versicherungsapp zu sammeln. Je mehr Punkte wir in einem Monat schaffen, desto billiger wird unser Krankenversicherungsbeitrag.
Die Wetterapp unseres Versanddienstleisters für Kleidung empfiehlt uns aus unserem Kleiderschrank die passenden Klamotten für den heutigen Tag. Natürlich wurde dabei nicht vergessen, dass wir heute noch einen wichtigen Termin mit einem neuen Kunden haben, der auf dezente Farben steht. Daher fällt unser Outfit – trotz strahlendem Sonnenschein – etwas weniger grell aus. Die elektrische Drehleiste in unserem Schrank liefert uns dann, dank der eingearbeiteten Funkchips, die von der App ausgesuchten Kleiderstücke. Eine lästige Suche im vollgefüllten Kleiderschrank ist nicht notwendig.
Wenn nicht schon längst geschehen, werden nun alle wichtigen sozialen Apps wie Facebook, Twitter etc. gecheckt und eventuell einige Kommentare abgegeben. Diese werden von diesen Firmen natürlich nicht »personalisiert« gespeichert, aber das »individuelle« Abbild von uns wird um weitere Details ergänzt, um uns in den nächsten Tagen beziehungsweise Wochen die »passende« Werbung zukommen zu lassen.
Mit unserem Smartphone schießen wir das obligatorische, erste Foto des Tages: unser Frühstück. Wir laden es auf unsere Versicherungsapp, damit wir auch nachweisen können, dass wir uns gesund ernährt haben – und zwei weitere Punkte erhalten. Der zusätzliche Check auf der Vergleichsdatenbank des Versicherers zeigt zudem an, dass wir wieder einen Platz höher in der Liste der besten Optimierer gestiegen sind. Es ermuntert uns, weiter durchzuhalten, um noch bis in die Spitzengruppe zu kommen.
Der Kühlschrank signalisiert uns, dass die Margarine vom führenden Lebensmittelkonzern ausgegangen ist. »Er« bestellt gleich – zusammen mit anderen ebenfalls knapp gewordenen Grundnahrungsmitteln – bei einem Versanddienstleister die fehlenden Artikel, die dann im Laufe des Vormittags bei uns in der Kühlbox vor dem Haus von einer Drohne automatisch eingelagert werden. Wer möchte schon seine wertvolle Zeit mit so unwichtigen Dingen wie dem lästigen Einkaufen von Nahrungsmitteln verbringen?
Dabei wird uns ganz nebenbei das neueste Fertigprodukt von unserem Lieblingsversanddienstleister empfohlen. Unsere bisherigen Wareneinkäufe und das von uns abgespeicherte Profil zeigen eindeutig, dass uns diese neueste Produktschöpfung vorzüglich munden sollte. Selbstverständlich wurde das neue Produkt vorab mit unserer Versicherungsapp abgestimmt, damit es im Einklang mit den Empfehlungen zu unserer gesunden Ernährung steht. Es reicht also allein eine kurze Bestätigung – und der Kühlschrank wird am Abend gut gefüllt sein.
Unser Hauscomputer verriegelt nicht nur automatisch die Türe beim Verlassen der Wohnung, sondern er kümmert sich auch das ganze Jahr über um Heizung und Lüftung – optimal auf unsere Bedürfnisse abgestimmt, je nach Tages- und Jahreszeit. Ein lästiger Schlüssel in der Hosen- oder Handtasche ist auch nicht mehr notwendig. Denn dank eines unauffälligen Iris-Scans und einem implantierten Funkchip wird sich die Türe automatisch für uns öffnen, wenn wir abends wieder nach Hause kommen.
Entspannt und zufrieden gehen wir zur nächsten U-Bahn oder steigen in unser selbstfahrendes Auto, das uns zur Arbeitsstelle bringt. Eine Fahrkarte für die U-Bahn ist genauso überflüssig wie Bargeld im »Geldbeutel«, da der uns implantierte Funkchip alle notwendigen Zahlungsfunktionen übernimmt und das Konto bei Bedarf automatisch belastet. So können wir »nebenbei« unser derzeitiges Lieblingsspiel auf der Spieleapp spielen.
In der Arbeit kommen unsere technisch-biologischen Implantate richtig zur Geltung. Dank ständiger Hard- und Softwareoptimierung gelingt es uns erneut, eine bessere Arbeitsleistung vorzuweisen als unser Kollege. Schließlich wissen wir, nach welchen Apps sich unser Chef orientiert, und das reicht, um neuerlich als zuverlässiger Mitarbeiter eingestuft zu werden. Dadurch behalten wir unsere Bevorzugung gegenüber unseren Kollegen, zum Beispiel bei der nächsten Gehaltsrunde.
Spätestens am Nachmittag beginnt die »Planung« für den Abend, wobei wir immerhin noch zwischen »daheim« oder »auswärts« entscheiden können. Wählen wir die Inhouse-Option, folgt der Vorschlag für das Abendessen, das bestellt und am Heimweg aus der Box beim Supermarkt abgeholt werden kann. Während das Essen in der Mikrowelle aufgewärmt wird, können wir die Zeit für einige Fitnessübungen nutzen. Nach dem Abendessen entspannen wir bei der neuesten Folge unserer Lieblingsserie, die wir rasch von einem der Anbieter herunterladen. Schließlich sollen wir fit und stressfrei bleiben, um auch die nächsten Tage, Monate und Jahre 100 Prozent arbeitsfähig zu bleiben.
Rechtzeitig fängt schließlich unser Smartphone an, uns darauf hinzuweisen, dass es demnächst Schlafenszeit ist und wir uns langsam ums Zähneputzen und die restlichen Abendrituale kümmern sollten. Zum letzten Mal checken wir unsere Mails, Apps etc. Wir können zu Bett gehen – mit unserem »treuen« Begleiter neben uns. Schließlich soll er uns ja am nächsten Morgen wecken. Von unserem technisch-biologischen Funkchip erhalten wir passende, beruhigende Elektrostimulanzien, damit sich unser Gehirn und Kreislaufsystem möglichst schnell in den Schlafmodus versetzt. Sobald wir schlafen, beginnen unsere installierten technologischen Helfer die neuesten Updates herunterzuladen, damit der nächste Tag noch optimierter verlaufen kann.
Ist dieses Szenario für Sie nur eine Fiktion oder könnte das schon in den nächsten Jahren tatsächlich Realität werden? Wenn es nach den großen Digitalunternehmen geht, ist diese Zukunft nicht mehr allzu weit entfernt.
Aber wollen Sie wirklich so leben? Geführt von Programmen und Ideen anderer Leute und Konzerne, die für Sie Ihr Leben regeln? Ein Leben ohne jegliche Individualität. Kein ›Ich habe heute keinen Bock auf Schinken, sondern lieber auf Käse‹? Kein ›Ich fühl mich gerade nicht so angenehm und bleib lieber liegen‹? Ein Leben, in dem Sie nur noch dem Takt der Apps folgen und sich dabei ständig selbst optimieren?
Was passiert, wenn Sie aus diesem Takt ausbrechen und nicht mehr der Optimierung durch alle Fremdvorgaben folgen wollen? Wie schnell werden Sie vom System als Störfaktor identifiziert, der wieder auf Gleichschaltung gebracht werden muss?
Wie schnell wird Ihre Wohnung gekündigt, wenn Sie ein schlechtes Rating vom Arbeitgeber und den Versanddienstleistern bekommen? Wie schnell landen Sie in ›Ghettos‹, weil Sie nicht mehr als passendes Zahnrad im System funktionieren?
Wer schützt Ihre Daten und Ihre Privatsphäre noch, wenn wir zum ›Schutze Ihrer Sicherheit und vor Terroranschlägen‹ total überwacht werden müssen? Inwieweit ist da noch Kreativität und Individualismus möglich?
Dann bleibt Ihnen keine Muße mehr und auch keine Möglichkeiten mehr zur Selbstreflektion. Sie sind nur noch ein von den Optimierungsapps getriebener Arbeitsteilnehmer. Freizeit, Kreativität und Lebensfreude bleiben außen vor. Alles konzentriert sich nur noch aufs Funktionieren und darum, besser zu sein als die anderen.
Und was passiert, wenn es einen längeren Stromausfall gibt? Sind Sie dann noch in der Lage, sich selber mit Essen und Trinken zu versorgen?
Über dieses Buch…
Wir hoffen, dass der Prolog Sie schon ein bisschen aufgerüttelt hat. Wir sind mitten in einer Umbruchphase, in der die Nutznießer unserer Daten uns weismachen wollen, dass sie das Beste für uns wollen. Die analoge Welt wird als chaotisch und abstoßend gebrandmarkt werden, die Bargeldscheine sind ohnehin »hochgradig bakteriell verseucht«. Die schöne neue digitale Welt verführt uns mit der Aussicht auf mehr Bequemlichkeit und maßgeschneiderten neuen Werbebotschaften. Die smarten Anwendungen schaffen einen enormen Kundennutzen, wird uns von den Datensammlern suggeriert.
Sie müssen nur ihre privaten Daten liefern…. Fehlt nicht schon das Problembewusstsein, wenn wir das leichtfertig tun? Winston Smith1 wusste, dass er laufend überwacht wurde. Die Bürger heute wissen es dagegen nicht oder verdrängen es. Das ist weit schlimmer. Wir verlieren dann wohl mehr als wir gewinnen: Was macht das mit uns, wenn wir wissen, das sowieso jeder alles von uns weiß?
Wenn die Falle zuschnappt, sind wir nicht mehr selbstbestimmt und liefer(te)n »freiwillig« unsere Daten, um uns von anderen beherrschen zu lassen. Wir leben dann das Leben, das diese uns empfehlen oder sogar...