1. Weiße Flecken am dunklen Kontinent: der Kolonialismus & Österreich
Das hier als Motto vorangestellte Zitat des Komparatisten Janós Riesz entstammt einem der ersten deutschsprachigen Sammelbände zum Thema Literatur und Kolonialismus aus dem Jahr 1983 – und es spricht paradigmatisch die selektive Wahrnehmung an, die das Phänomen lange umgab und teilweise immer noch umgibt. Die akademische Auseinandersetzung damit begann zwischen den 1950er und 1970er Jahren in Frankreich, Großbritannien und den USA unter dem Eindruck der weltweiten Dekolonisation – vor allem angesichts der Gräueltaten des Algerien- und Vietnam-Kriegs, aber auch durch die intellektuellen Interventionen eines Frantz Fanon, Jean-Paul Sartre, einer Hannah Arendt u.a., durch die entstehenden britischen Cultural Studies und die sich später formierenden amerikanischen Postcolonial Studies.1 Die ideengeschichtliche Folie dafür lieferte die Imperialismus-Kritik der westlichen Linken vor allem der 1968er-Generation; aus ihr heraus sollte bald – zusammen mit neuen, postmarxistischen Begrifflichkeiten – eine spezielle Sensibilität für jene Form einer entmündigenden bzw. bevormundenden Übersee-Herrschaft unter dem trügerischen Vorzeichen der europäischen Moderne entstehen. Nicht nur in den ehemaligen Mutterländern, die sich mit zunehmender politischer Bedeutungslosigkeit bei gleichzeitiger Massenimmigration konfrontiert sahen, sondern v.a. auf dem Grundgebiet der neuen Supermacht USA sowie in einigen anderen ehemaligen Kolonien etablierten sich entsprechende Forschungseinrichtungen, wie z.B. in Indien die Subaltern Studies Group oder eine lateinamerikanische Spielart der Kulturtheorie. Schließlich erfasste diese zweite Welle einer internationalen Vergangenheits(selbst)bewältigung nach dem Zweiten Weltkrieg auch kleinere ehemalige Kolonialmächte wie Belgien, Portugal oder Italien, wenn auch zögerlich: werden doch die Verbrechen und das Scheitern des Kolonialismus immer noch gleichsam als Bildstörungen der eigenen nationalen wie kontinentalen Erfolgsgeschichte angesehen.
Auf der Europakarte eines neuen postkolonialen Bewusstseins blieben indes einige weiße Flecken zurück, darunter Österreich: „Forschungsgeschichtlich“, so moniert der Wiener Historiker Walter Sauer selbst erst nach der Jahrtausendwende,
ist die Frage nach dem Verhältnis der [Habsburger] Monarchie zur Kolonialproblematik zwar nur selten gestellt, aber um so häufiger beantwortet worden: Nein, über Kolonien habe Österreich-Ungarn nie verfügt, koloniale Ambitionen habe es nur am Rande gegeben, kolonialpolitisches Desinteresse gerade sei für das Verhalten von Österreichern in außereuropäischen Gebieten charakteristisch gewesen. […] Es entsprach einer in großbürgerlichen Kreisen um die Jahrhundertwende verbreiteten Tendenz, das Scheitern früherer Ambitionen auf ein ‚Kolonialreich‘ zur bewußten Zurückhaltung, zur moralischen Überlegenheit der Monarchie zu stilisieren. […] Gegenüber sich selbst, aber auch gegenüber einer ‚Dritten Welt‘, die sich vom kolonialen Joch zunehmend emanzipierte, stellte sich [auch] das neue Österreich [= die Zweite Republik ab 1945, C.R.] als unbelastet dar.2
Die Habsburger Reich, d.h. jenes „Kaisertum Österreich“, das nach dem „Ausgleich“ von 1867 international unter dem Etikett von „k.u.k.“ (’kaiserlich-und-königlich’) bzw. als „Österreich-Ungarn“ firmierte, hatte in der Tat keine Übersee-„Schutzgebiete“ wie das benachbarte Deutsche Reich seit 1884: Aber ist nicht seine letzte territoriale Erweiterung nach Südosten hin (Bosnien-Herzegowina 1878/1908) nicht auch als Ersatzhandlung für jenes Zukurz- bzw. Zuspätkommen im internationalen Wettlauf des europäischen Kolonialismus zu verstehen – ebenso, wie vielleicht auch Galizien, die Bukowina und andere habsburgische Peripherien seit dem späten 18. Jahrhundert dafür in Betracht kämen? Und, allgemeiner gesprochen: Welche Spuren bzw. „Parallelaktionen“ hat der zeitgenössische Kolonialismus Europas im „politischen Unbewussten“ bzw. „sozialen“ Imaginären“3 der habsburgischen Kultur/en hinterlassen? Diese Fragen werden uns – unter Anderem – im Laufe dieses Buches beschäftigen.
Mit seiner Metapher vom „dark continent“,4 die unserer Monografie ihren Titel gab, meint Sigmund Freud freilich nicht jene verdrängte innere und äußere k.u.k. Kolonisierung,5 sondern „das Geschlechtsleben des erwachsenen Weibes“6 in seiner eigenen Kartografie der menschlichen Psyche – in die seine Lehre ebenso wie in das „Unbewusste“ generell mit uneingestanden kolonialen Wünschen vordrang.7 Das gendering ist evident: der Wiener Mann gibt sich als Entdeckungsreisender auf dem ‚dunklen Kontinent‘ der Frau. Wollte die Psychoanalyse hier nicht nur ihr Revier im wissenschaftlichen Wettrüsten ihrer Zeit – einer Nebenerscheinung des europäischen Imperialismus im 1900 – abstecken, sondern gleichsam auch ihre mentalen Schutzgebiete errichten (ähnlich wie der westliche Kolonialismus trachtete, nicht nur das materielle und soziale Außen der Menschen, sondern auch ihr psychisches Innen zu besetzen und zu manipulieren)?
Was uns im vorliegenden Buch beschäftigen soll, sind aber nicht die metaphorischen Expeditionen der Psychoanalyse, sondern wie gesagt ein anderer „dunkler Kontinent“ der Habsburger Monarchie. Auf einen blinden Fleck der Historiografie entrückt sind nämlich auch deren koloniale Begehrlichkeiten, bei denen die präsumptiven Kolonialherren und die von ihnen Beherrschten im selben Erdteil, ja sogar in unmittelbarer Nachbarschaft lebten, wie z.B. auf dem westlichen Balkan. Mehr oder weniger unbewusst sind auch jene kolonialen Phantasien, wie sie uns bis heute in literarischen Texten und anderen Zeugnissen der habsburgischen Kultur/en entgegentreten: manchmal implizit und verklausuliert, dann wieder erschreckend explizit, indem sie sich auf das eigene multiethnische Staatsgefüge beziehen oder dieses insgeheim in der überseeischen Projektion auf das Andere meinen.
Um dieses Verdrängte in den kulturellen Ordnungen „Kakaniens“ im langen 19. Jahrhundert wieder sichtbar zu machen, wird sich die vorliegende Monografie stichprobenhaft jenen kolonialen Vorstellungen und Praktiken in der hegemonialen österreichischen Kultur des Kaiserreichs widmen. Zunächst jedoch ist eine Bestandsaufnahme bestehender Zugänge zu unternehmen, anhand deren sich in einem weiteren Schritt unsere Forschungsfragen und methodologischen Herangehensweisen verdichten werden.
2. Kafka und kein Ende: eine Modellinterpretation (in) der Strafkolonie
„Es ist ein eigentümlicher Apparat“, sagte der Offizier zu dem Forschungsreisenden und überblickte mit einem gewissermaßen bewundernden Blick den ihm doch wohlbekannten Apparat. Der Reisende schien nur aus Höflichkeit der Einladung des Kommandanten gefolgt zu sein, der ihn aufgefordert hatte, der Exekution eines Soldaten beizuwohnen, der wegen Ungehorsam und Beleidigung des Vorgesetzten verurteilt worden war. Das Interesse für diese Exekution war wohl auch in der Strafkolonie nicht sehr groß. Wenigstens war hier in dem tiefen, sandigen, von kahlen Abhängen ringsum abgeschlossenen kleinen Tal außer dem Offizier und dem Reisenden nur der Verurteilte […].1
In der physischen Eindringlichkeit, die sie entwickelt, gehört Kafkas Erzählung In der Strafkolonie (1914) wohl zu seinen drastischsten Texten – geht sie doch buchstäblich „unter die Haut“2 (vgl. IDS 38ff.). Sie scheint prädestiniert für postmoderne und dekonstruktive Lektüren, indem sie den Körper und die Schrift thematisiert,3 respektive die grausige – und doch ästhetische4 – Inskription der einen in den anderen durch eine Tätowierungs-„Schreibmaschine“,5 die die Aufsässigkeit eines Soldaten unverhältnismäßig grausam mit einem langsamen Tod bestraft. Mit seiner ‚subkutan‘-ornamentalen6 Niederschrift durch den „Apparat“ wird das reichlich willkürliche Gerichtsurteil – „Ehre deinen Vorgesetzten!“ (IDS 35) – direkt in die archaisch...