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E-Book

Kursbuch 193

301 Gramm Bildung

VerlagKursbuch Kulturstiftung gGmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl184 Seiten
ISBN9783961960033
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
'Schweiß und Gummimatten ergaben eine Geruchskombination, so durchdringend, dass sie in mir als Erwachsenem zuverlässig den Proust'schen ?Madeleine?-Effekt auslöst. So riecht Grundschule.' Olaf Unverzart, heute Fotograf und Künstler, erinnert sich noch genau an seine Einschulung 1979. In Zeiten des Digitalen Bildungspaktes und Diskussionen um zu leichtes Abitur in Deutschland traut sich das Kursbuch 193 nicht nur anhand von Essays nachzuhorchen: In mehreren Bildungsbiografien wagen namhafte Intellektuelle den Blick zurück auf die eigenen Bildungsvoraussetzungen und den Werdegang. Mit Beiträgen von Konrad Paul Liessmann, Georg von Wallwitz, Heinz-Elmar Tenorth, Heiner Barz, Markus Rieger-Ladich, Armin Nassehi, Gerhard Roth, Ralph Schumacher und Elsbeth Stern.

Seit 2012 erscheint das Kursbuch unter der Herausgeberschaft von Armin Nassehi und Peter Felixberger. ARMIN NASSEHI (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem 'Mit dem Taxi durch die Gesellschaft', in der kursbuch.edition erschien 'Gab es 1968? Eine Spurensuche'. PETER FELIXBERGER (*1960) ist Programmgeschäftsführer der Murmann Publishers. Als Buch- und Medienentwickler ist er immer dort zur Stelle, wo ein Argument ans helle Licht der Aufklärung will. Seine Bücher erschienen bei Hanser, Campus, Passagen und Murmann. Dort auch sein letztes: 'Wie gerecht ist die Gerechtigkeit?'. Das Kursbuch wurde 1965 von Hans Magnus Enzensberger zusammen mit Karl Markus Michel gegründet. Als einer der wichtigsten kritischen Begleiter der bundesdeutschen Öffentlichkeit setzte die Kulturzeitschrift Themen, die sonst nicht auf der öffentlichen Agenda standen. Demgegenüber gilt es heute, im vorhandenen Themendickicht neue Schneisen zu schlagen und überraschende und ungewohnte Verbindungen herzustellen. Unter der Herausgeberschaft von Peter Felixberger und Armin Nassehi bietet das Kursbuch solche neuen unerwarteten Perspektiven an. Nicht die großen Unterschiede werden diskutiert, sondern das, was einen Unterschied macht.

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Leseprobe

Konrad Paul Liessmann
Die Bundesbildungsrepublik
Ein Streifzug durch (ver)blühende Landschaften

Es ist nun auch schon wieder zehn Jahre her, dass die Bundeskanzlerin die deutsche Bildungsrepublik ausgerufen hat. Dass Republiken von ganz oben ausgerufen werden, ist zwar eher selten, aber in Fragen der Bildung auf eine Initiative von unten zu warten, ist wahrscheinlich wirklich müßig. Bildung wird heute gewährt, nicht erkämpft. Seit ihrer Ausrufung hat sich diese Staatsform angeblich prächtig entwickelt, aus einer geistigen Wüste sollen blühende Landschaften geworden sein. All­mählich aber stellt sich die Frage, wer in dieser Republik nun eigentlich lebt. Versuchen wir eine Bestandsaufnahme der Wohnbevölkerung der Bildungsrepublik und beginnen wir, auch wenn dies wenig republi­kanisch anmuten mag, mit jenen lichten höheren Regionen, denen diese Republik ihre Existenz verdankt.

Die Bildungspolitiker

Setzen wir dort an, wo die Verantwortung für das gedeihliche Leben und Denken in der Bildungsrepublik übernommen wird, in der Politik. So leicht es ist, eine Bildungsrepublik auszurufen, so schwer ist es, diese dann mit Leben zu erfüllen. Minister und hohe Beamte stehen dabei vor keinen geringen Problemen. Von allen Seiten werden sie bedrängt, doch endlich das Richtige zu tun. Einmal ist es die Öffentlichkeit, dann sind es die Medien, einmal die Experten, dann die zahlreichen Stiftungen und Testkonsortien, einmal twitternde Gymnasiastinnen, dann wieder mäch­tige Verbände, die von der Politik die richtigen Reformen, die richtigen Initiativen, die richtigen Strukturen, die richtige Didaktik, die richtigen Universitäten, die richtigen Schulen, die richtige Ausbildung fordern – wobei sich »richtig« immer auf die eigenen, begrenzten und ideologisch gesättigten Interessen der Fordernden bezieht.

Vor allem kämpft die Bildungspolitik mit jenem Zeitgeist, den sie oft genug selbst beschworen hat und der ihren Handlungsspielraum nun empfindlich einengt. Dieser Zeitgeist artikuliert sich in den Phrasen, mit denen die Bildungspolitiker landauf, landab die Menschen versorgen: Dass Bildung die wichtigste Ressource für ein rohstoffarmes Land sei, dass Bildung niemanden ausschließen dürfe, dass Bildung zuständig für alle Formen der Integration und Inklusion sei, dass Bildung die sozialen Defizite der Gesellschaft ausgleichen könne, dass Bildung der Schlüssel für eine gedeihliche Zukunft sei, dass Bildung Wettbewerbsvorteile für alle verschaffe, dass Bildung gegen politische Vereinfacher und Verfüh­rer schütze und dass all dies gelingen könne, wenn sich die Bildung nur endlich modernisierte und auf Digitalisierung und Kompetenzen setzte. Dadurch werden die Bildungspolitiker zum Opfer ihrer eigenen Glaubenssätze. Sie versprechen einfach zu viel, was andere – die Lehrer und Schüler, die Professoren und Studenten – dann halten sollen. Das geht in der Regel nicht gut und verschärft den Druck.

Die Qualität eines Bildungspolitikers wird an den institutionellen Re­formen gemessen, die er initiiert und durchführt oder wenigstens begleitend beforschen lässt. Um der in Deutschland ja immer drohenden Bildungskatastrophe zu entgehen, setzt der Bildungspolitiker Bildung mit ihrer Reform gleich. Jede pädagogische Mode artikuliert sich deshalb gleich als Reformvorhaben, das der Bildungspolitik zur Realisierung überantwortet wird. Und da kein Bildungspolitiker als Reformverweigerer – dies wäre ein politisches Todesurteil – erscheinen möchte, jagt eine Reform die andere, werden Lehr- und Studienpläne ständig ver­än­­dert, adaptiert, neu gefasst und neu geschrieben, Unterrichtsmethoden werden einerseits dem pädagogischen Innovationsfuror, andererseits dem technischen Fortschritt gnadenlos angepasst, Schulformen und Stu­dienrichtungen werden in großer Zahl neu produziert, Unterrichtsfächer neu definiert, wild zusammengewürfelt, abgeschafft oder infrage gestellt, Lehrer werden nicht mehr für die Vermittlung von Fachwissen und Kulturtechniken, sondern für soziale Kompetenzen welcher Art auch immer ausgebildet, und alle Beteiligten werden einem ständigen Verunsicherungsprozess unterworfen. Das macht das Regieren leicht, den Erwerb von Bildung aber schwer. Dass dieser dennoch immer wie­der gelingt, hat weniger mit den Erfolgen der Bildungspolitiker zu tun, sondern wohl eher damit, dass sich viele Beteiligte und Betroffene den Vorgaben der Politik ohne große Worte stillschweigend widersetzen und das tun, was sie für richtig halten und immer getan haben.

Die Bildungsforscher

Kaum ein Wissenschaftszweig erlebte in den letzten Jahren einen solchen Aufschwung wie die empirische Bildungsforschung. Zum einen verdankt sich dieser einer einfachen Umbenennung: Aus Pädagogen und Erziehungswissenschaftlern wurden Bildungsforscher. Keine Frage, das klingt wesentlich besser. Während auch für denjenigen, der die Ety­mologie von Pädagogik nicht genau kennt, in dieser noch der Knabe, das Kind mitschwingt, das auf den rechten Weg geführt werden soll, hat Erziehung seit den 1960er-Jahren ohnehin einen schalen Beigeschmack. Nur als antiautoritäre konnte sie reüssieren, und junge Menschen heute noch erziehen zu wollen, verträgt sich weder mit dem Glauben an die kindlichen Talente und Begabungen, die nur ihrer Entfaltung harren, noch mit der Autonomie der kleinen Subjekte, die keine pädagogischen Vorgaben mehr verträgt. All diese zweideutigen und missliebigen Kon­notationen hat der Bildungsforscher abgeworfen, die Bildung zu erforschen, oder noch besser: zu beforschen, ist doch ganz etwas anderes, als sich zu fragen, wie eine junge Generation belehrt oder erzogen werden soll. Zum anderen gründet die Karriere der Bildungsforscher in einer ebenso einfachen wie bestechenden Überlegung: Man muss nicht wissen, was Bildung ist, es genügt, sie zu messen. Also wird tagaus, tagein gemessen, was irgendwie in den Verdacht gerät, dass es dabei um Bildung gehen könnte.

Messen kann man das, was ohnehin geschieht, oder das, was man in einem eigens konstruierten Testverfahren zur Messung arrangiert. Alles dient der Erhebung von Daten, die wieder der Bildungspolitik als Entscheidungshilfe offeriert werden. Und deshalb wird seit geraumer Zeit getestet und evaluiert, verglichen und erhoben, korreliert und pro­­­gno­s­ti­ziert, dass es nur so eine Freude ist. Die Lernleistungen der Dreijähri­gen werden ebenso flächendeckend getestet wie die Schlüsselkompetenzen der 15-Jährigen, die Teamkompetenzen der deutschen Jugend sind eben­so Gegenstand internationaler Vergleichsstudien wie die mathematischen Fähigkeiten von Studienanfängern, die finanziellen Aufwendungen pro Schüler werden ebenso erhoben wie die Lebens­arbeitszeiten von Lehrern mit und ohne Pausen, die Abiturnoten vor und nach der Zentralisierung von Reifeprüfungen müssen genauesten erfasst werden, ebenso die Studienzeiten vor und nach der Einführung Bologna-konformer Studienpläne.

Das Ergebnis all dieser aufwendigen und angestrengten Bildungsforschung kann sich dann auch sehen lassen. Noch nie, so können wir zusammenfassend lesen, war eine Generation – zählt man die tertiären Abschlüsse – so gebildet wie heute, noch nie war aber auch die Rate der funktionalen Analphabeten so hoch, die Abiturnoten werden immer besser, die Studierfähigkeit nimmt aber ab. Auch in der Bildungsrepublik kommt es – und für dieses Wissen sei den Bildungsforschern gedankt – zu messbaren Unterschieden zwischen den Menschen, und ir­gendwie bewegt sich Deutschland bildungsmäßig immer im Mittelfeld. Aber wenn nichts geschieht, wird es untergehen. Reformbedarf ist angesagt.

Die Bildungsexperten

In der Bildungsrepublik wimmelt es von Bildungsexperten. Noch nie verstanden so viele Menschen so viel von Bildung wie heute. Überall trei­ben sich die Bildungsexperten herum, in den Redaktionsstuben und bei Elternabenden, in den Vorzimmern der Macht und in den Feuilletons, in den Talkshows und auf dem Campus. In früheren Leben waren sie Psychologen oder Hirnforscher, Philosophen oder Unternehmer, Physiker oder Esoteriker, nun wissen sie, wie Bildung endlich gelingt. Es gibt, bei allen herkunftsbedingten Unterschieden, einige markante Grundüberzeugungen, die die Bildungsexperten teilen. Fast alle sind gute Rousseauisten, das heißt, sie sind überzeugt davon, dass Neugeborene, Babys und Kleinkinder wunderbare, umfassend kompetente, mehrfach begabte, hoch talentierte und kreative Wesen sind, die allein durch ein antiquiertes Bildungssystem korrumpiert, gebrochen und zerstört werden. Die Welt des Bildungsexperten ist eine, in der alle Menschen nur mehr in ihrer Besonderheit gleich sind. Alle sind hochbegabt, aber jeder auf seine Weise. Unter solchen Prämissen wundert es nicht, dass der pädagogische Zeitgeist, flankiert von Genetik und Hirnforschung, nichts so sehr fürchtet wie den Durchschnitt und das Mittelmaß. Normalität ist das neue Schreckgespenst einer Zeit, in der Besonderheit zur Norm geworden ist: Nur nicht in die Durchschnittsfalle tappen, nur nicht gewöhnlich sein, nur nicht Mittelmaß, da wir doch im globalen Wettbewerb nur noch mit dem Außergewöhnlichen punkten können. Wir können es uns nicht mehr leisten, Talente zu verschenken – so das Credo, das schon besser den eigentlichen Hintersinn dieser Kinderfreundlichkeit erkennen lässt.

Gemeinsam ist den Bildungsexperten eine grundsätzliche Kritik an den rezenten Bildungseinrichtungen: Diese seien antiquiert, dem Geist der Kasernenschulen des 19. Jahrhunderts verhaftet, es dominiere dort noch immer der Frontalunterricht, die einzelnen Schüler würden in ihrer Besonderheit und Individualität weder...

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