Einleitung
Vor vielleicht 2400 Jahren – oder etwas später – entstand ein Text, den Martin Luther jemandem zuschrieb, den er »Prediger« nannte. Dieses Buch ist eine Festrolle für das Laubhüttenfest, in dem die Freude am Leben gefeiert wird. Sprache und Thematik verweisen auch auf das Buch Hiob (auf das ich später zurückkomme). Eine zentrale Aussage des Buches ist, dass der Weise genauso stirbt wie der Tor, der Tod macht uns alle gleich. Das hebräische Wort lebeh, hæbæl, wird seltsamerweise meist mit »eitel, nichtig« übersetzt, obwohl es wörtlich übersetzt Windhauch oder auch Atemzug bedeutet1.
Wenn wir uns auf unseren Atem konzentrieren, können wir Vergänglichkeit leiblich erfahren: Wir atmen ein, das geht vorbei, wir atmen aus, auch das geht vorbei. Wir können jedoch genau dadurch ebenso unsere Lebendigkeit erfahren und uns daran erfreuen. Sie können auch, wenn Sie wollen, versuchen, das Ein-bzw. Ausatmen zu verhindern. Wie lange schaffen Sie das?
Am Leben sein heißt eben immer auch vergehen, sich wandeln. Und dieses Wissen und diese Erfahrung teilen wir mit unendlich vielen Menschen seit Jahrtausenden, schon allein dadurch sind wir miteinander verbunden.
Mich begleitet seit mindestens 50 Jahren der Text Prediger 3: Ein jegliches hat seine Zeit. Und er bedeutet mir immer wieder Unterschiedliches. Es ist für mich einer der schönsten und wichtigsten Texte zur Vergänglichkeit, die ich kenne:
»3. 1 Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:
2 geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;
3 töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;
4 weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;
5 Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit;
6 suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit;
7 zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;
8 lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.«
Ein nüchtern und realistisch daherkommender Text! Ein Text, der weisen Rat geben kann, und als solchen lese ich ihn auch immer wieder. Ich erlebe diesen Text als Anstoß, als etwas, das mich erinnert: Das, was jetzt ist, wird vergehen, und wenn etwas vergangen ist, fordert er mich auf zur Einsicht: Ja, so ist es, und dieses, was war und was mir vielleicht lieb und teuer war, ist vergangen, weil das zum Leben dazugehört. Bei Lao Tse heißt es ähnlich: »Das einzig Unveränderliche ist die Veränderung.« Manchmal gelingt es mir, das gelassen zu akzeptieren, manchmal empöre ich mich. Und auch das geht vorbei . . .
Manchen PsychotherapeutInnen fällt es nicht leicht, das Prinzip Vergänglichkeit zu akzeptieren, wenn das, was in der Therapie geschieht, nicht den eigenen Vorstellungen entspricht; das könnte daran liegen, dass es zwar in vielen Therapien um »Strategien« der Veränderung oder auch um Verstehen, oft um beides, geht. So mag der Eindruck entstehen, wenn ich nur genug verstehe oder genügend verändere, dann werden die Dinge so, wie ich will. Einverstanden sein z. B. damit, dass manche PatientInnen so gut wie nichts verändern wollen oder können, kann manchmal eine große Herausforderung sein. Hier scheint es also um beinahe Gegensätzliches zu gehen: Veränderung zu akzeptieren und Geduld aufzubringen, wenn sie nicht in dem Tempo geschieht, wie wir uns das vorstellen. Manche Interventionen zeigen erst nach Jahren Wirkung! Dann nämlich, wenn die Zeit dafür gekommen ist.
Thomas Mann hat sich zur Vergänglichkeit so geäußert:
»Sie werden überrascht sein, mich auf Ihre Frage, woran ich glaube oder was ich am höchsten stelle, antworten zu hören: es ist die Vergänglichkeit. – Aber die Vergänglichkeit ist etwas sehr Trauriges, werden Sie antworten. – Nein, erwidere ich, sie ist die Seele des Seins, sie ist das, was allem Leben Wert, Würde und Interesse verleiht, denn sie schafft Zeit – und Zeit ist, wenigstens potentiell, die höchste, nutzbarste Gabe.«
Dass Vergänglichkeit Zeit schafft, kann man natürlich bezweifeln. Thomas Mann spricht aber auf seine Weise im Sinn des Prediger-Textes. Mir scheint, das Prinzip Vergänglichkeit kann uns Struktur, wenn es bejaht wird, vielleicht sogar Halt geben2.
Früher dachte und empfand ich eher, Vergänglichkeit sei ein schwieriges, schmerzhaftes Thema. Je länger ich mich damit befasse, desto mehr entdecke ich, ja, natürlich gibt es viele schmerzhafte Aspekte, denn Vergänglichkeit bedeutet ja zunächst, dass etwas vergeht, wir eingeschlossen und unsere Wünsche und Sehnsüchte und vieles mehr. Doch es wird mir auch bewusst, dass Vergänglichkeit den Aspekt hat, dass immer wieder Neues entstehen kann, genau dadurch, dass Raum geschaffen wird und wir uns mit Zeithaben, begrenzte Zeit haben, befassen können, ja sollten. Vergänglichkeit hat gewiss mit Endgültigkeit und Tod zu tun, aber eben nicht nur. Inzwischen erlebe ich intensiv beides: Die Verluste, das Nicht-festhalten-Können, Flüchtigkeit und auch Aufbruch zu neuen Ufern.
Die erste der Vorlesungen zu »Tod und Vergänglichkeit« fand am Ostermontag statt, ein Fest des Frühlings in früheren Zeiten, und auch jetzt noch, und ein Fest der Auferstehung im christlichen Kontext. Auferstehung wäre nicht möglich ohne Sterben, ohne Karfreitag.
Schmerzhafte Vergänglichkeit hat Kontrapunkte! Wie ja fast alles im Leben Kontrapunkte hat. Aufbruch zu neuen Ufern ist ein Aspekt, Dankbarkeit, Freude, kleine und große Veränderungen, dies alles und noch mehr gehört für mich zum Erfahren von Vergänglichkeit dazu. Und all diese Aspekte verbinde ich psychologisch mit dem meist eher spirituell gemeinten Begriff der Auferstehung.
Ich möchte Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in diesem Buch immer wieder dazu einladen innezuhalten und dem, was Sie lesen, nachzuspüren; vielleicht sogar in Austausch mit anderen zu treten. Das Thema der Vergänglichkeit und unserer Sterblichkeit kann bewegen und berühren, vielleicht sogar schmerzlich, und kann uns miteinander verbinden. Wir sind alle Reisende auf einem manchmal schwankenden Schiff. Wir können sogar in Stürme und Untiefen geraten, wenn wir nicht behutsam sind. Wir können so alle unsere Fragilität und Verletzlichkeit erfahren und doch auch gemeinsam Freude erleben über unser Menschsein.
Ich beziehe mich auf Psychologie und Psychotherapie sowie auf einige Anregungen aus Philosophie und Texte mit spirituellem Hintergrund. Gedanken von Sterbenskranken und von Menschen, die sich dem Tod nahe wissen bzw. wussten, werde ich einfügen. Ich werde Texte bekannter und unbekannter Menschen, die sich mit Tod und Vergänglichkeit auseinandersetzen, zurate ziehen, um die große Vielfalt der Gedanken dazu zu verdeutlichen.
Jedoch geht es mir nicht darum, »wie Alter geht, wie Sterben geht, wie man mit der Sterblichkeit umgeht«, denn wir wissen wenig und sollten bescheiden sein. Wenn ich auf meine eigenen Erfahrungen mit dem Thema in Profession und eigenem Leben zurückgreife, so nicht, weil ich weiß, wie die Dinge sind, sondern ausschließlich, um Sie einzuladen, Ihr Eigenes zu entdecken!
Schließlich erzähle ich von Musik aus verschiedenen Jahrhunderten, die nach meinem Verständnis direkt oder auch indirekt mit Vergänglichkeit und Endlichkeit zu tun hat. Musik ist in meinem Leben eine der größten Kraftquellen. Und die Biographien der KomponistInnen werde ich teilweise auch beleuchten, denn auch sie sagen mir etwas über den unterschiedlichen Umgang von Menschen mit Tod und Vergänglichkeit.
Mir sind, wie erwähnt, jeweils auch die Kontrapunkte wichtig. Seien Sie bitte nicht irritiert, wenn es manchmal so aussieht, als ginge es nicht mehr um Vergänglichkeit und Tod. Für mich gehören alle Kontrapunkte dazu. Nicht zuletzt, weil es...