Keine Heimat mehr
Ende der Siebzigerjahre befand sich die Welt noch mitten im Kalten Krieg. Die Türkei, der Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches, galt – und gilt immer noch – als geopolitische Pufferzone zwischen Kleinasien, dem Nahen Osten und Europa. Ebenfalls sollte, zumindest bis weit in die Nullerjahre des neuen Jahrtausends hinein, der stabilisierende Faktor der einst laizistisch-kemalistischen Republik nicht außer Acht gelassen werden. Heute verabschiedet sich der Laizismus aus der vorher modernen Türkei, der politische Islam hat Einzug gehalten, und was zunächst wie eine funktionierende Versöhnung und Harmonisierung zwischen Islam und Demokratie betrachtet wurde, sieht heute ganz anders aus. Die Türkei ist gespalten zwischen einem immer noch westlich orientierten Teil und einem religiös erwachten Südostanatolien, in dem eine Art Bürgerkrieg mit den Kurden aufgeflammt ist, der bereits Ende der 70er meine Familie dazu zwang, die angestammte Heimat zu verlassen.
Die Stadt Nusaybin liegt an der syrischen Grenze und klebt fast förmlich an Qamishli, ihrer Schwesterstadt, von der sie nur durch einen Zaun getrennt ist. Noch vor dem Syrienkrieg passierten Syrer und Türken diese Grenze, die eigentlich nur ein einfaches Tor ist, um direkt von einer Stadt in die andere zu kommen. Laut der Erzählungen meiner Eltern gab es früher noch nicht einmal einen Grenzzaun. Der moderne Nationalstaat, so wie er für uns als selbstverständlich erscheint, ist eine recht junge Entwicklung. Und manche Großeltern erinnern sich noch an die alte Zeit, in der sie sich in ihrer Jugend frei und ohne Hindernisse bewegen konnten, in der Schafhirten ein riesiges Territorium ohne künstliche Grenzen durchschreiten konnten, so wie es ihr Clan seit Jahrhunderten gewohnt war. Im Laufe meiner Erzählungen wird man verstehen, warum gerade diese Freiheit so wichtig ist und ihr Beschneiden für so viele Konflikte sorgt und weiter sorgen wird. Wer die Clans nicht versteht, versteht die Konflikte nicht.
Ich selbst stamme aus einem Clan, der dort seit Jahrhunderten lebt. Ich kam 1978 in Nusaybin, in eben jener alten Königsstadt, deren Wurzeln bis in das Zeitalter der Assyrer zurückreichen und die eine der ältesten Universitäten der damals bekannten Welt beherbergte, zur Welt. Der heilige Ephrem, Schüler des heiligen Jakobs und einer der großen Kirchenlehrer der christlichen Welt, wurde um 306 n. Chr. hier geboren. Heute ist die Stadt leider zu einem umkämpften Ort verkommen, in der sich junge Kurden und das türkische Militär Scharmützel liefern; der letzte Christ hat die Stadt 2015 verlassen, kurz nachdem ich ihn noch besucht und ein letztes Mal die Ausgrabungen der alten Universität und die uralten Gemäuer der Kirchen des Heiligen Jakob, im Westaramäischen Mor Jakob genannt, besichtigt hatte.
Die Geburt war für meine Mutter eine Tortur, wie vieles damals. Es hatte bei der Schwangerschaft Komplikationen gegeben. In einer Zeit, in der man in Europa religiöse Konflikte als überwunden ansah, wurde meiner Mutter die Behandlung im örtlichen Krankenhaus verweigert. Als »Urchristen« betrachtete man uns damals als Menschen zweiter Klasse. Teilweise ist das heute noch so. Und als Mensch zweiter Klasse wurde auch meine Mutter behandelt, mit dem ungeborenen Kind im Leib. Ich wurde im Haus der Großeltern geboren, meine Mutter kämpfte um ihr Leben, ich auch. Schließlich brachte mein Vater mich in eine nahegelegene Kirche und legte mich am Altar ab. Am nächsten Tag kam er zurück und ich hatte die Augen geöffnet, so erzählt er es.
1980 entzündete sich der Konflikt zwischen der kurdischen Guerilla und dem türkischen Militär immer mehr. Dazwischen wurden die Suryoye oder auch Suryanis, so bezeichnet man die Christen heute noch in der Türkei, aufgerieben. Nachts verlangten die kurdischen Partisanen Unterschlupf und Versorgung. Tagsüber kam das Militär und bezichtigte die Christen der Kollaboration mit den kurdischen Revolutionären. Hinzu kamen Erniedrigungen durch feudale Stammesführer, die sich mal als Beschützer eines christlichen Dorfes betrachteten, dann dieses wiederum attackierten. Die vermeintlichen Beschützer erhielten, wie als Selbstverständlichkeit, einen Teil der Ernte als Bezahlung für die Gewährleistung, in Sicherheit leben zu dürfen. Denn der türkische Staat vermochte es nicht, den Schutz der christlichen Bevölkerung, deren Population durch den Genozid von 1915 von 20 Prozent auf 0,1 Prozent dramatisch geschrumpft war, sicherzustellen. Und so wählten auch meine jungen Eltern, wie viele andere Familien, die aus dem Tur Abdin kamen (Tur Abdin heißt aus dem Westaramäischen übersetzt »Berg der Knechte Gottes« und bezieht sich auf die Stammesregion der syrischen-orthodoxen Christen im südostanatolischen Raum), die Migration.
Das Ziel war Deutschland, oder besser gesagt »Alemanya«, so der im Türkischen verwendete Begriff. Ich sage das bewusst, weil sich meine ersten Erinnerungen daran knüpfen, dass in dem Viertel, in dem wir die ersten Jahre verbrachten, kaum ein Wort Deutsch gesprochen wurde. Das Aramäische war meine Basissprache und ansonsten hörte man auf dem Spielplatz alles Mögliche. Jedenfalls klebte ich bis zu meinem vierten Lebensjahr immer an den Lippen meiner älteren Schwester, die bereits eingeschult war. Ich glaube, die ersten Worte, die ich erlernte, waren »Eis« und »Saure Zunge«. Beides gab es für ein paar Pfennige, die ich ab und zu von Helmut, unserem Nachbarn, bekam, in der Bäckerei um die Ecke. Helmut, der Sohn polnischer Einwanderer, war ein liebenswerter Kerl, der dem Bier nicht abgeneigt war. Und soweit ich mich erinnern kann, bekam man für eine Flasche Bier im nächsten Wirtshaus zehn Pfennig Pfand. So gingen wir mit Helmut die perfekte Symbiose ein. In einer kleinen Gang mit Halbwüchsigen entschieden wir, Helmuts Bierflaschen untereinander aufzuteilen, die seiner Besucher kamen später noch dazu, um uns vom hart verdienten Pfandgeld mit Süßigkeiten einzudecken, eben mit Eis und »Sauren Zungen«. Natürlich galt es für die uns Kindern überlassenen Pfandflaschen eine Gegenleistung zu erbringen. Helmut drückte uns die Geldmünzen in die Hand, für die wir ihm neues Bier holen sollten. Wir Kinder hatten damit unsere Süßigkeiten und Helmut einen günstigen Bierlieferservice. Damit waren wir alle glücklich.
Allerdings selbst in Alemanya spürten wir auf dem Spielplatz mit türkischen Kindern die Differenzen zwischen uns. Misstrauisch beäugten wir uns gegenseitig, und Freundschaften waren damals nur schwer möglich. Hinzu kam, dass wir ohnehin eine kritische Haltung gegenüber allem einnahmen, was muslimisch war. Heutzutage sehe ich viele Dinge natürlich anders. Doch muss man bedenken, aus welcher konfliktreichen Region wir damals kamen, in der bis zum heutigen Zeitpunkt, inzwischen sogar wieder verstärkt, Christen und andere religiöse Minderheiten in ihren Rechten beschnitten werden. Das prägt und wurde auch von Generation zu Generation weitervermittelt.
Deutschland leben, Deutschland verstehen
Als ich vier Jahre alt war, schaffte es mein Vater, und er kämpfte hart dafür, bei der nächstgelegenen katholischen Gemeinde, in der wir auch unseren Gottesdienst zelebrieren durften, einen Kindergartenplatz für mich zu sichern. Immer wieder, selbst jetzt, da ich nahe der Vierziger bin, erklärt mir mein Vater, wie wichtig dieser Schritt für ihn war. Wir konnten uns theoretisch keinen Kindergartenplatz leisten. Doch die Gemeinde stellte Migrantenkindern einige Plätze kostenlos zur Verfügung, und ich war einer der Glücklichen. Da mein Vater nichts annehmen wollte, ohne dafür auch eine Gegenleistung zu erbringen, begann er, kostenlos den Rasen der Gemeinde zu mähen und den Garten instand zu halten. Vieles erschien mir damals so seltsam. Mein Vater zwang mich anfangs förmlich, in den Kindergarten zu gehen. Ich weigerte mich zunächst und weinte die ersten Tage, weil ich einfach niemanden verstand. Außer Bierflaschen, Pfand und die Bezeichnung einiger Süßigkeiten kannte ich kein anderes deutsches Wort. Nun, bald erlernte ich dank meiner Erzieherinnen mein nächstes: »Pudding«.
Eines Tages, es war Sommer, spielte ich mit anderen Kindern im Innenraum des Kindergartens, an den der Garten angrenzte. Vom Garten selbst waren wir durch eine große Panoramascheibe getrennt. Und an diesem Tag sah ich draußen einen Mann, stark schwitzend, den Rasen mähen. Es war mein Vater. Als mein Vater sah, wie ich ihn durch die Scheibe beobachtete, blieb er kurz stehen, lächelte mich für ein paar Sekunden an und setzte seine Arbeit fort. An diesen Tag holte er mich selbst vom Kindergarten ab (inzwischen konnte ich eigentlich eigenständig den Weg zur Einrichtung gehen) und sagte mir etwas, was ich damals, kurz vor der Einschulung, nicht verstand. Er sagte zu mir, dass ich einer der Wenigen sei, der in den Genuss käme, einen Kindergarten zu besuchen. Und dass es ihm sehr wichtig sei, dass ich Deutsch lerne und mit anderen Kindern, mit deutschen Kindern, zusammenkomme.
Heute denke ich sehr oft nach über die vorausschauende Tat dieses Mannes, der in der Türkei nicht zur Schule gehen konnte, weil er als Ältester für die Familie verantwortlich gewesen war. Der als junger Schafhirte tagelang in der Natur seine Zeit verbracht und sich durch das Studieren von Zeitungen das Lesen und Schreiben selbst beigebracht hatte.
Mit sechs Jahren wurde ich eingeschult. Kurz darauf ereignete sich etwas, was mein späteres Leben definitiv prägte und weiterhin prägt. Ich weiß nicht, was geschehen war. Jedoch sagte mein Vater zu mir, dass wir nun in einem freien Land leben würden. Hier dürfte...