2.
Die schönste Kanalisation der Welt
Bei seiner Erfindung im 19. Jahrhundert glich der Tourismus jedoch keineswegs dem heutigen, auch wenn die Einstellung der Touristen von damals jener der aktuellen ganz ähnlich war. Was im 19. Jahrhundert für eine (nützliche, angenehme, lehrreiche) Sehenswürdigkeit gehalten wurde, wird heute eher übergangen oder sogar gemieden, und dennoch zeigt sich in diesem Umstand nicht nur eine Distanz, sondern auch eine Nähe. Einige Beispiele : Vor allem nach der Weltausstellung 1867 (auf die wir bei Gelegenheit noch zurückkommen werden) entwickelte sich die Kanalisation von Paris zu einer unwiderstehlichen Touristenattraktion. In einem Artikel in der Zeitschrift Illustrated London News hieß es 1870 : »Zu den Pariser Attraktionen, die Besucher aus der Provinz und dem Ausland unbedingt besichtigen möchten, zählen die riesigen Abwasserkanäle unter der Stadt.«36 Die Besichtigungstouren hatten solch starken Zuspruch, dass die Teilnehmer gebeten wurden, auf Taschendiebe zu achten. Nicht nur das, sondern in den Illustrationen zum Artikel sind die Boote, die diese Kanäle beim Schein von Petroleumlampen befahren, voll besetzt mit weiblichen Besucherinnen, als verheiße ihnen der Untergrund Zerstreuung : Die Faszination für die Unterwelt, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn, für underworld wie demi-monde, lag in der Luft, und der Roman Aufzeichnungen aus dem Untergrund von Fjodor Dostojewski war drei Jahre vor der Pariser Expo des Jahres 1867 erschienen. In seinem Buch Les odeurs de Paris von 1867 schrieb Louis Veuillot :
Leute, die alles gesehen haben, sagen, dass diese Kanalisation vielleicht den schönsten Anblick der Welt bietet : Das Licht fängt sich darin, der Schlamm sorgt für milde Temperaturen, man fährt mit Booten herum, geht auf Rattenjagd, arrangiert Begegnungen – und hat dort auch schon manche Verlobung gefeiert.37
Was uns mit unseren empfindlichen Touristennasen am meisten verwundert, ist, dass all diese vornehmen Damen mit Hütchen, die auf Booten in die Pariser Kanalisation ausschwärmen, nicht ganz benommen sind vom Gestank (aber dies würde uns zur Untersuchung eines weiteren großen Prozesses führen, der wie alle für die Moderne charakteristischen Phänomene im 19. Jahrhundert einsetzte und im 20. Jahrhundert völlig ausgereift war, nämlich der Prozess der »Deodorierung« sowohl des städtischen Raums als auch des Raums des Bürgers). Ende des 19. Jahrhunderts war der »üble Geruch« bereits ein untrügliches soziales Kennzeichen (»Arme« und »Wilde« waren längst als »übelriechend« abgestempelt), aber die Nasen waren noch nicht so heikel, als dass sie den Geruch der Kanalisation bemerkt hätten.
Die Vorstellung, ein Kanalisationssystem könne den »schönsten Anblick der Welt« bieten, mutet schon an sich bizarr an, daher habe ich es ausprobiert und den von der Stadt Paris (aber nicht den touristischen Stadtführern) recht stark beworbenen Besuch wiederholt, aber es war eine gewaltige Enttäuschung : Der Zugang ist in der Nähe des Pont de l’Alma, doch sobald man sich im Untergrund befindet, bekommt man praktisch nur noch Fototafeln mit Beschreibungen der Kanalisation zu sehen und macht einen kleinen, wenige zehn Meter langen Rundgang ; von wegen an einem unterirdischen Fluss entlanggehen !
Ein weiteres Besucherziel war das Gefängnis (erinnern wir uns an Bacons Rat, sich Hinrichtungen auf fremdem Boden möglichst nicht entgehen zu lassen). 1781 schrieb (der während der Schreckensherrschaft zwölf Jahre später guillotinierte Girondist) Jacques Pierre Brissot :
Ich möchte, daß man von Zeit zu Zeit die Geister durch eine verständige Rede über die Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung und über die Nützlichkeit der Strafen belehrt und dann die Jungen wie die Erwachsenen zu den Minen, zu den Zwangsarbeiten führt, damit sie das schreckliche Schicksal der Geächteten betrachten. Diese Wallfahrten wären nützlicher als jene, welche die Türken nach Mekka führen.38
Und Michel Foucault kommentiert :
Nachdem im 17. Jahrhundert der Gefangenenbesuch erfunden oder neu entdeckt worden ist, mit dem der Mitleidige den Schmerz des Häftlings teilen wollte, denkt man nun daran, daß Kinder im Gefängnis lernen sollen, wie die Wohltätigkeit des Gesetzes sich gegenüber dem Verbrechen auswirkt : lebende Lektion im Museum der Ordnung.
Wie sich die Verhältnisse doch geändert haben ! Heutzutage sind die einzigen Gefängnisse, die man besichtigt, die aufgelassenen, etwa die Strafanstalt von Alcatraz, Pflichtziel eines jeden San-Francisco-Touristen. In ein Gefängnis im laufenden Betrieb, voll Inhaftierter, hineinzukommen, weiter vorzudringen als bis in den Besucherraum und die Abteilungen und Zellen zu besichtigen ist heute hingegen praktisch unmöglich : Nur Parlamentariern ist der Besuch gestattet ; und im Übrigen, selbst wenn wir hineingelangten, kämen wir uns vor wie Schaulustige. So wie ein Außenstehender realistischerweise nie die Gelegenheit haben wird, eine Fabrik bei laufendem Betrieb zu besichtigen. Tatsächlich kommt einem Foucaults Bemerkung in den Sinn : »Das Gefängnis ist eine etwas strenge Kaserne, eine unnachsichtige Schule, eine düstere Werkstatt, letztlich nichts qualitativ Verschiedenes.«39
Davon abgesehen, war das 19. Jahrhundert begierig, die »wilde«, »primitive« Seite der Menschheit kennenzulernen. Seit Jahrhunderten wurden die Eingeborenen aus »gerade entdeckten« fernen Ländern als Kuriositäten nach Europa gebracht. Davon erzählt uns bereits Michel de Montaigne in »Des cannibales«, einem denkwürdigen, unseren Kulturrelativismus begründenden Kapitel seiner Essais :
Nun finde ich aber, […] daß nach dem, was mir berichtet ist, man bei der Nation [der Ureinwohner der Antillen] nichts Wildes oder Barbarisches antrifft und weiter nichts daran ist, als daß jedermann dasjenige barbarisch nennt, was nicht Sitte in seiner eigenen Heimat ist […].40
Doch nicht so, wie Montaigne Menschen aus fernen Ländern betrachtete, sondern in einem ganz anderen Sinn wurde im frühen 19. Jahrhundert die Afrikanerin Saartjie Baartman (1789-1815), ein Mädchen aus der Ethnie der Khoikhoi, in halb Europa herumgereicht. Gesäß und Schamlippen der als »Venus der Hottentotten« bezeichneten Frau erregten zwanghafte Neugier, und ihre sterblichen Überreste (ihr Skelett und zwei Formalingefäße, eines das Gehirn, das andere die weiblichen Geschlechtsteile enthaltend) wurden erst im Jahr 2002 nach Südafrika heimgeführt : Ihre Odyssee erzählt mitreißend Stephen Jay Gould in The Flamingo’s Smile : Reflections in Natural History (1985).41
In Saartjies armem Körper verband sich das Exotische mit dem Abnormen, er entzündete Abscheu zugleich mit uneingestandener Anziehung, vergleichbar dem Schauder, der uns beim Fauchen eines Raubtiers überkommt. Er weckte ähnliche Neugier wie die Schlangen, Krokodile, Raubkatzen und Elefanten, die im Zeitalter des Kolonialismus und der überseeischen Eroberungen in sämtlichen sozialen Klassen in den Köpfen Einzug hielten. Damals entstand der »Zoo« für das breite Publikum, eine Institution, die nur relativ kurz Bestand hatte. 1828 wurde den Parisern in der Ménagerie im Jardin des Plantes zum ersten Mal eine Giraffe vorgeführt. 1847 öffnete der Zoo im Londoner Regent’s Park seine Pforten für das Publikum. Ab 1858 wurden in Paris am Rand des Bois de Boulogne der Jardin d’Acclimatation eingerichtet.
Doch der erste, der das Konzept des Menschenzoos (vielmehr, nach seinem ausdrücklichen Vergleich, des »menschlichen botanischen Gartens«) ausformulierte, war Joseph-Marie de Gérando (1772-1842), der in seinen Considérations sur les diverses méthodes à suivre dans l’observation des peuples sauvages (1800) dem Wunsch Ausdruck verlieh, die Forschungsreisenden würden ganze Familien nach Europa bringen :
Vor allem wäre wünschenswert, sie könnten eine ganze Familie dazu bewegen, ihnen hierher zu folgen. Die einzelnen Familienmitglieder wären dann weniger in ihren Gewohnheiten gefangen, litten weniger unter den Entbehrungen und würden ihren natürlichen Charakter besser bewahren. Sie würden leichter einwilligen, sich bei uns niederzulassen, und die Beziehungen, die sie untereinander hätten, würden das Schauspiel ihres Lebens für uns sowohl interessanter als auch nützlicher gestalten. Wir hätten im Kleinen das Abbild der Gesellschaft, der man sie entzogen. Genauso wenig gibt sich der Naturkundler damit zufrieden, einen Zweig, eine schnell getrocknete Blüte mitzubringen ; vielmehr versucht er, die Pflanze zu transportieren, den ganzen Baum, um diesem in unserer Erde ein zweites Leben wiederzugeben.42
Die Idee wurde vom ersten Direktor des Jardin d’Acclimatation aufgegriffen. Geoffroy de Saint-Hilaire, auf der Suche nach Attraktionen zur Sanierung seiner prekären Finanzen, organisierte 1877 zwei »Völkerschauen«, in denen er den Parisern Nubier und Eskimos präsentierte :
Das Spektakel wurde ein Kassenschlager. Der Zoologische Garten konnte seine Besucherzahl verdoppeln, die im selben Jahr die Millionengrenze erreichte […] Dreißig solcher ›ethnologischer Ausstellungen‹ […] organisierte der Jardin Zoologique...