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E-Book

Das gekränkte ICH

Was Kränkungen anrichten und wie Anerkennung glücklich macht

AutorBarbara Strohschein
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783641229597
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Die (un)heimliche Macht der Werte
Barbara Strohschein untersucht ein Phänomen, das wir täglich beobachten: die kränkende Erfahrung von Nichtachtung und Herabwürdigung, die in der Folge zu Aggression und Gewalt führt. In jahrelanger Recherche hat die Autorin erforscht, wie Entwertung den Menschen zu schaffen macht: in der Selbstwahrnehmung, in der Familie, am Arbeitsplatz, beim Sex, in der Wissenschaft und im Glauben. Wir fühlen uns »falsch« und sinnen zugleich nach Rache und Anerkennung. Die Philosophin zeigt Auswege aus dem Dilemma: Indem wir Anerkennung als Lebensprinzip entdecken, Selbsterkenntnis fördern und Empathie für unser Gegenüber entwickeln, können wir zu einem gelingenden Miteinander finden.

Als gebundene Ausgabe unter dem Titel »Die gekränkte Gesellschaft« im Riemann Verlag erschienen.

Barbara Strohschein ist promovierte Philosophin. Sie arbeitete als Lektorin und Redakteurin für Verlage und Zeitschriften, für den Rundfunk und das Fernsehen wurde sie als Moderatorin und Interviewpartnerin engagiert. Sie veröffentlichte Sachbücher zu wissenschaftlichen Themen, Erzählungen und Theaterstücke. Heute ist sie als Expertin für Werte-Philosophie in eigener Praxis als Coach, Beraterin und Autorin tätig.

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Leseprobe

1 Entwertungen – wirksam und unbewusst

Wir brauchen, wie schon gesagt, nicht die große Weltpolitik zu bemühen, um diese Kreisläufe von Entwertung, Kränkung und Gegenwehr zu verstehen. Ein Blick auf alltägliche Situationen zeigt es.

In einem Café gesteht Frau F. ihrer Freundin: »Ich bin einfach zu dick. Ich hasse mich! Ich mag mich kaum noch im Spiegel angucken.« Die Freundin beteuert: »Du bist nicht dick. Du hast doch nur Größe 40.« Frau F. empört sich: »Und das findest du normal? Ich finde es scheußlich!« Die Freundin schweigt. Es hat keinen Zweck, über dieses Thema weiterzureden.

In einer Talkshow berichtet ein bekannter Schlagerstar mit belegter Stimme, wie er seine Kindheit erlebt hat: »Mein Vater hat mich wegen jeder Kleinigkeit geschlagen. Er drehte schon durch, wenn ich nur ›falsch‹ guckte. Ich hatte keine Ahnung, was an mir nicht richtig war. Ich war als Junge kurz davor, Selbstmord zu begehen. Ich kämpfte um Vaters Liebe, aber es war vergeblich.« Kein Talkshowgast verzieht die Miene, die Moderatorin tut so, als würde er erzählen, wie er mit seinem Vater einen Kaninchenstall baut.

Ein Polizist aus einer Kleinstadt in Sachsen berichtet auf einem Kongress zum Thema Rechtsradikalismus: »Ich habe mit arbeitslosen Jugendlichen aus der rechtsradikalen Szene zu tun. Allerdings sind viele aus dieser Szene gar nicht politisch. Sie haben von Politik keine Ahnung. Sie hocken zusammen, betrinken sich und fühlen sich dann stark. Kürzlich passierte es, dass einige Jugendliche halb betrunken auf der Straße herumlungerten, als ihnen ein alter Mann über den Weg lief. Möglicherweise hat er irgendetwas über die schlecht erzogene Jugend von heute gemurmelt. Sie haben ihn niedergeschlagen, auf ihm herumgetrampelt, bis er tot war. Kurz danach wurden sie festgenommen und eingesperrt. Als sie am nächsten Morgen ihren Rausch ausgeschlafen hatten, kam die große Zerknirschung. Es fehlten ihnen die Worte. Sie waren es nicht gewohnt, ihre Motive zu erkennen und über ihre Gefühle zu sprechen. Gemeinsam und enthemmt durch den Alkohol hatten sie sich mächtig gefühlt. Es war ein Machtkick, auf diesen alten Mann einzuschlagen. Sie bewirkten etwas! Wo sie sonst überhaupt nichts bewirken. Diese Jugendlichen fühlen sich wertlos und überflüssig und sind ohne jede Lebensperspektive.«

In der Kantine sitzen Frau G. und ihr Kollege Herr T. beim Mittagessen. Durch die Tür kommt Frau P., eine attraktive Mitarbeiterin aus der PR-Abteilung. Frau G. sagt leise zu Herrn T.: »Die Frau P. ist wirklich unangenehm. Schon allein, wie die mit ihrem Minirock in den Raum hereinstiefelt und ihre Nase oben trägt. Dabei bringt sie nichts zustande. Vielleicht fällt das endlich auch mal dem Chef auf!« Herr T. sagt nichts dazu. Er weiß, dass der Chef Frau P. schätzt, weil sie gute Arbeit leistet. Herr T. widerspricht Frau G. nicht, weil er keine Lust hat, sich mit ihr anzulegen.

Ein Professor aus Nigeria lehrt Soziologie an einer Großstadtuniversität. Er ist bei den Studenten sehr beliebt. Seine Vorlesungen sind theoretisch gut fundiert und lebendig. Eines Tages hört ein Student unfreiwillig zu, wie sich zwei Professoren halblaut über den Kollegen aus Nigeria unterhalten: »Ich verstehe nicht, warum er die Gastprofessur bekommen hat. Kann er nicht in Afrika bleiben? Außerdem sind seine wissenschaftlichen Beiträge nicht auf unserem Niveau.« »Da kann ich Ihnen nur beipflichten, Herr Kollege.«

Der Student ist entsetzt, wie sein Lieblingsprofessor hier abgewertet wird. Kurz danach erfährt er, dass der Professor nach Afrika zurückkehren wird und seine Gastprofessur nicht verlängert werden soll. Der Professor ist nicht nur von seinen Kollegen unfair behandelt worden. Er wurde mehrfach auf der Straße und in der U-Bahn angepöbelt, ohne dass ihm jemand zu Hilfe kam.

Im ersten Fall wertet sich eine Frau ab, indem sie ihren Körper abwertet. Sie hat ein Körperideal – eine Wertvorstellung im Kopf, der sie nicht gerecht zu werden meint. Der Schlagersänger wurde durch Missachtung und Schläge von seinem Vater so entwertet, dass die seelischen Verletzungen jahrelang nicht heilten. Jugendliche, die sich selbst nichts wert sind, töten einen alten Mann um eines Machtkicks willen. Eine Kollegin, die attraktiv ist, wird von denen abgewertet, die sich nicht so viel wert fühlen. Ein afrikanischer Professor wird wegen seiner Hautfarbe und seines Könnens diffamiert und aus der Universität ausgeschlossen.

Hinter diesen Entwertungen stehen Wertmaßstäbe, nach denen etwas oder jemand beurteilt respektive abgeurteilt wird. Durch diese Maßstäbe wird bestimmt, wie »man« auszusehen hat, wie »man« sich zu verhalten hat, wer welche Rechte hat, wer dazugehört und wer nicht. Wenn irgendjemand einem dieser Maßstäbe nicht entspricht oder eine Erwartung nicht erfüllt, wird er abgewertet oder als Bedrohung wahrgenommen.

Ein positives Beispiel zeigt, wie Werte auch Grundlage dafür sein können, jemanden wertzuschätzen.

Herr L. hat zu einem Dinner eingeladen. Er hält eine Rede auf seinen Geschäftsfreund Herrn G. H.: »Mein lieber Georg, seit mehr als zehn Jahren kooperieren wir, und noch nie gab es Probleme. Du reagierst sofort, wenn ich eine Bitte habe. Du bist noch nie zu einem Meeting zu spät gekommen. Ich habe mich immer auf dich verlassen können. Und als ich mich neulich Frau F. gegenüber unmöglich verhalten habe, hast du mich aufmerksam gemacht, dass ich mit Menschen so nicht umgehen darf. Lieber Georg, dir zu Ehren habe ich heute dich und unsere Freunde eingeladen. Für diese zehn Jahre erfolgreicher Zusammenarbeit will ich dir danken. Denn genau heute vor zehn Jahren haben wir beschlossen zusammenzuarbeiten.« Georg H. scheint Lob nicht gewöhnt zu sein. Er nickt verlegen und murmelt: »Ist schon gut!« Dann steht er auf und umarmt Herrn L. Das hat er vorher noch nie getan. An diesem Abend herrscht eine angenehme und heitere Atmosphäre, und es wird angeregt diskutiert.

Werte wie Zuverlässigkeit, Anständigkeit, Loyalität wie auch fair geäußerte Kritik sind hier der Grund für eine ausgesprochene Anerkennung. Auf diese Weise werden Beziehungen gefestigt, das Vertrauen wächst. Eine Stimmung von Wohlbefinden und Kreativität entsteht.

Die weitaus häufiger stattfindenden Entwertungen durch beleidigende Äußerungen, herabsetzendes Handeln werden zwar absichtlich ausgesprochen und werden konkret, sind aber sehr oft nicht mit der Absicht verbunden, jemanden gezielt abzuwerten oder zu entwerten. Auf die Betroffenen jedoch wirkt diese »Abwertung«, ganz gleich, ob sie absichtlich oder unabsichtlich geschehen ist.

Diese Vorgänge spielen sich in einer »Grauzone« zwischen bewusst und unbewusst ab: Man will jemandem eins auswischen, ihn aber nicht unbedingt abwerten. Die, die kränken, ahnen oft nicht, wie weit und tief die Kränkungen bei den Gekränkten nachwirken. Diejenigen, die gekränkt werden, spüren es und schieben es sogleich beiseite, um nicht dauernd darunter zu leiden.

Und sehr oft ist der, der kränkt, selbst ein Betroffener von Kränkungen.

Diese Wechselwirkungen bleiben nicht ohne Folgen. Die meisten Menschen machen sich trotz allem den Inhalt der Kränkung »zu eigen«, auch wenn sie ihre Betroffenheit verbergen. Der giftige Pfeil hat ins Innere getroffen und hinterlässt eine Wunde, ob man will oder nicht, ob man es wahrnimmt oder nicht.

Fassen wir zusammen: Entwertungen geschehen oft spontan. Sie finden immer in Beziehung statt. Sie sind sowohl beabsichtigt wie auch nicht beabsichtigt. Sie geschehen sowohl bewusst als auch unbewusst. Die Motive dafür sind sehr unterschiedlich. Wertschätzung hingegen ist Ausdruck von Akzeptanz und erzeugt Akzeptanz. Die Ab- und Entwertungen hingegen kränken nachhaltig. Kaum einer der Betroffenen wehrt sich dagegen in dem Moment, in dem ihm dies geschieht. Die Gegenreaktion folgt meist viel später. Bei einer nächsten Gelegenheit kränkt der Gekränkte einen anderen.

Und so entstehen Teufelskreise. Eine »ungute« Stimmung macht sich breit, Misstrauen wächst, man ist lustlos und vermeidet Kontakte. Diese Konflikte sind teuer. Sie kosten Kraft und Zeit und machen müde, mutlos und krank.

Wertungen und Entwertungen sind Ausdruck von Beziehungen

Leben heißt: aufeinander bezogen sein. Jeder, jede von uns lebt in Beziehungen. Damit meine ich nicht nur im engen Sinne Partnerschaften, sondern alle sozialen Gemeinschaften, die Gesellschaft und den globalen Zusammenhang.

Menschen sind per se soziale Wesen. Sie können ohne andere Menschen und ohne die Natur nicht überleben. Selbst wer dies nicht wahrhaben will, wird sich trotzdem damit abfinden, dass er das Brot vom Bäcker kaufen muss – oder das Mehl, um Brot zu backen. Jeder Mensch hat Eltern und Bezugspersonen, lebt und arbeitet in Gruppen und Gemeinschaften. Jeder Mensch braucht Essen, Wärme, frische Luft, Wasser, ein Zuhause und vieles mehr. All das kann er nicht durchweg selbst herstellen oder herbeischaffen. Dazu braucht er andere.

Doch es geht nicht nur ums Überleben, sondern auch um das soziale Leben und das Miteinander.

Wir erleben uns erst durch den anderen. Wir wachsen und spiegeln uns in den Beziehungen. Durch das Bewusstsein – eine bemerkenswerte menschliche Fähigkeit – können wir zwischen uns und dem »anderen« unterscheiden. Durch das Differenzerlebnis: »Hier...

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