Einleitung – Alles schon mal da gewesen
Die Zukunft ist kaputt – diesen Eindruck kann man zumindest bekommen. Wir stecken zwischen den Betriebssystemen zweier ganz unterschiedlicher Kulturen. Das System des 20. Jahrhunderts hat ausgedient, doch das, was an seine Stelle getreten ist, eine angeblich für das 21. Jahrhundert aktualisierte Version, funktioniert nicht so, wie sie sollte. Die Anzeichen für das Dilemma sind überall zu erkennen: der Niedergang der Industriewirtschaft, die wachsende Ungleichheit zwischen Arm und Reich, die strukturelle Arbeitslosigkeit, das kulturelle Unbehagen, der Zerfall der internationalen Bündnisse aus der Zeit nach dem Kalten Krieg, der Niedergang der Mainstream-Medien, der Vertrauensverlust in traditionelle Institutionen, das Ende des Rechts-Links-Schemas in der Politik, eine epistemologische Krise der »Wahrheit« und eine populistische Revolte gegen das Establishment. Und während wir nur allzu gut wissen, was alles nicht mehr funktioniert, haben wir offenbar keine Ahnung, wie wir das System wieder in Ordnung bringen können.
Was ist die Ursache dieser gewaltigen Verwerfungen? Die einen nennen als Grund ein Zuviel an Globalisierung, die anderen ein Zuwenig. Die einen suchen die Schuld beim Neoliberalismus, also der Wall Street und dem Finanzkapitalismus mit seiner unersättlichen Profitgier. Wieder andere sehen die Ursache in unserer neuen, instabilen Weltordnung, allen voran dem autoritären Regime in Russland, das ihrer Ansicht nach Europa und die Vereinigten Staaten mit einer Flut der Desinformation destabilisiert. Dazu kommen der fremdenfeindliche Reality-TV-Populismus eines Donald Trump und der Erfolg des Brexit-Votums in Großbritannien, auch wenn sich nicht genau sagen lässt, ob das nun die Ursachen oder die Folgen unseres Dilemmas sind. Klar ist jedoch, dass die Eliten jeden Kontakt zur Stimmung in der Bevölkerung verloren haben. Ihre Krise erklärt nicht nur den Vertrauensverlust, der unseren modernen Demokratien so zu schaffen macht, sondern auch die populistischen Ressentiments gegen die politische Klasse. Aber es hat auch den Anschein, dass wir den Kontakt zu etwas sehr viel Wesentlicherem verlieren als nur zum Establishment des 20. Jahrhunderts – nämlich den Kontakt zu uns selbst. Wir wissen nicht mehr, was es heißt, in diesem Zeitalter des galoppierenden Umbruchs Mensch zu sein.
Wie Steve Jobs gerne sagte, um bei der Präsentation seiner neuen tollen Apple-Produkte die Spannung zu steigern: »One more thing.« Es gibt »noch etwas«, über das wir an dieser Stelle reden müssen – das größte Etwas in der Welt von heute: die Digitale Revolution, die weltumspannende Hypervernetzung durch das Internet, die hinter einem großen Teil dieser Brüche und Verwerfungen steckt.
Im Jahr 2016 nahm ich an einem zweitägigen Workshop des Weltwirtschaftsforums (WEF) teil, der die »digitale Transformation« der Welt zum Thema hatte. Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand die »Kombinationswirkung« der neuen internetgestützten Technologien, zum Beispiel Mobiltechnologie, Datenwolken, Künstliche Intelligenz, Sensoren und Big-Data-Analyse. »So wie die Dampfmaschine und die Elektrifizierung mit dem beginnenden 18. Jahrhundert ganze Wirtschaftszweige revolutionierten, so verändern die modernen Technologien die Branchen von heute bereits auf dramatische Weise«, so die Schlussfolgerung des Symposiums. 1 Bei diesen gewaltigen Umwälzungen stehen schwindelerregende wirtschaftliche Werte auf dem Spiel. Bis 2025 könne die Weltwirtschaft bis zu 100 Billionen Dollar umsetzen, wenn sie bei der Digitalen Revolution alles richtig mache, so die Verheißung des Workshops.
Aber nicht nur die Industrie wird von der digitalen Technologie auf dramatische Weise umgestaltet. So wie die Industrielle Revolution Gesellschaft, Kultur, Politik und das Bewusstsein des Einzelnen überformte, so krempelt die Digitale Revolution im 21. Jahrhundert weite Bereiche unseres Lebens um. Hier steht weit mehr auf dem Spiel als 100 Billionen Dollar. Die strukturelle Arbeitslosigkeit, die Ungleichheit, die Erosion von Normen und Werten, das Misstrauen und der populistische Zorn unserer verunsicherten Zeiten sind auf die eine oder andere Weise sämtlich eine Folge dieser zunehmend frenetischen Umwälzungen. Vernetzte Technologien – unter anderem ermöglicht durch Steve Jobs’ große Erfindung, das iPhone – im Zusammenspiel mit anderen digitalen Technologien und Geräten reißen unser politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben aus den vertrauten Bahnen. Die Digitale Revolution stellt ganze Branchen auf den Kopf, von der Bildung und dem Transportwesen über die Medien und das Finanzsystem bis hin zum Gesundheitswesen und dem Gastgewerbe. Vieles, was uns in der Industriegesellschaft selbstverständlich erschien – die Form der Arbeit, die Rechte des Einzelnen, die Legitimität von Eliten und selbst das Menschsein an sich –, wird in diesem neuen Zeitalter der kreativen Zerstörung radikal infrage gestellt. Gleichzeitig verwandelt sich Silicon Valley in eine zweite Wall Street, wenn sich die milliardenschweren Unternehmer zu Herren des Universums aufschwingen. Im Jahr 2016 schütteten Technologiekonzerne beispielsweise mehr Bonuszahlungen (in Aktienform) an ihre Mitarbeiter aus als die Wall Street. 2 Unser neues Jahrhundert wird also zu einem vernetzten Jahrhundert. Aber zumindest bislang ist es auch eine Zeit der größer werdenden wirtschaftlichen Ungleichheit, der Arbeitsplatzunsicherheit, der kulturellen Konfusion, der politischen Verwirrung und der existenziellen Angst.
Das was natürlich alles schon einmal da. Der Workshop zur »digitalen Transformation« erinnerte uns daran, dass schon zwei Jahrhunderte zuvor die Industrielle Revolution die Welt auf den Kopf stellte und Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft und Politik radikal neu erfand. Damals gab es drei große Reaktionen auf all diese verwirrenden Veränderungen: Ja, Nein oder Vielleicht.
Reaktionäre, Maschinenstürmer und Romantiker wollten die neue Technik zerstören und in die Vergangenheit zurückkehren, die ihnen wie ein goldenes Zeitalter vorkam. Idealisten – zu denen Kapitalisten ironischerweise genauso zählten wie Kommunisten – waren der Ansicht, dass die neuen industriellen Produktionsformen schließlich ein Schlaraffenland des grenzenlosen Wohlstands schaffen würden, wenn man sie nur ließe. Und daneben gab es noch die Reformer und Realisten, eine breites Spektrum aus verantwortungsbewussten Politikern aller Parteien, Unternehmern, Arbeitnehmern, Philanthropen, Staatsdienern, Gewerkschaftern und Bürgern, die versuchten, die von der neuen Technik verursachten Probleme zu lösen, indem sie an die Selbstbestimmung des Menschen appellierten.
Die Frage, ob uns der aktuelle dramatische Umbruch tatsächlich nutzt, wird wie damals mit Ja, Nein oder Vielleicht beantwortet. Romantiker und Fremdenhasser lehnen die globalisierende Technologie ab, weil sie angeblich gegen die Naturgesetze oder gar die »Menschlichkeit« selbst verstößt (im Digitalzeitalter ein so überstrapaziertes wie unterdefiniertes Wort). Technikutopisten aus Silicon Valley und einige Kritiker des Neoliberalismus sind dagegen der Ansicht, die Digitale Revolution werde sämtliche Menschheitsprobleme ein für alle Mal lösen und uns in ein postkapitalistisches Schlaraffenland katapultieren. In ihren Augen ist dieser Wandel im Grunde unvermeidlich. 3 Und dann gibt es da noch die Vertreter des Vielleicht, zu denen ich mich zähle: weder Pessimisten noch Optimisten, sondern Realisten und Reformer, die erkennen, dass unsere Gesellschaft heute vor der gewaltigen Herausforderung steht, die Probleme dieser Umwälzungen zu bewältigen, ohne die Technologie zu verdammen oder zu glorifizieren.
Dies ist also ein Vielleicht-Buch, das davon ausgeht, dass sich die Digitale Revolution, ähnlich wie die Industrielle Revolution vor ihr, erfolgreich bezähmen, regulieren und reformieren lässt. Es bringt die Hoffnung zum Ausdruck, dass die besten Aspekte dieses Umbruchs – die gesteigerte Innovationskraft, Transparenz, Kreativität und der frische Wind – zu einer Verbesserung der Welt beitragen können. Und es skizziert eine Reihe von geeigneten rechtlichen, wirtschaftlichen, politischen, ethischen und Bildungsreformen, die dabei helfen können, unsere gemeinsame Zukunft in Ordnung zu bringen. Genau wie die Digitale Revolution von der Kombinationswirkung unterschiedlicher Technologien getragen wird, wie der WEF-Workshop feststellte, so besteht die Lösung ihrer zahlreichen Probleme darin, mehrere Ansätze miteinander zu kombinieren. Ein Patentrezept für die ideale Gesellschaft, egal ob digital oder analog, gibt es nicht. Und so gibt es auch nicht die eine Lösung – sei es die entfesselte Marktwirtschaft oder die allgegenwärtige staatliche Kontrolle. Vielmehr bedarf es einer Strategie, die staatliche Aufsicht, zivilgesellschaftliche Verantwortung, Arbeitnehmer- und Verbraucherinitiativen, Innovation durch Wettbewerb und neue Bildungsansätze miteinander in Einklang bringt. Eine ähnlich vielseitige Herangehensweise war es auch, mit der man schließlich viele der gravierendsten Probleme der Industriellen Revolution in den Griff bekam.
Vielleicht können wir uns retten. Vielleicht können wir unsere Lage verbessern. Aber nur vielleicht. Mit diesem Buch möchte ich eine Landkarte skizzieren, die uns hilft, uns im unbekannten Gelände der vernetzten Gesellschaft zu orientieren. Um eine solche Karte anzufertigen, habe ich einige Hunderttausend Kilometer zurückgelegt – von Nordkalifornien, wo ich lebe, über Estland, Indien, Singapur, Russland und Westeuropa...