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E-Book

Lotta Schultüte

Mit dem Rollstuhl ins Klassenzimmer

AutorSandra Roth
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783462314656
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
»Ich weiß, Lotta ist bereit für die Welt. Ich weiß nur nicht, ob die Welt auch bereit ist für Lotta.« Lotta sechs Jahre alt, kann nicht laufen, sehen oder sprechen. Sie kann hören, verstehen - und auch ohne greifen zu können, hat sie ihre Familie fest im Griff. Was ist eine gute Schule für ein Kind wie Lotta? »Gewickelt wird hier nicht«, sagt der Rektor einer inklusiven Schule. »Für solche Fälle haben wir ein wunderbares Internat«, sagt jemand von der Stadt. »Du wirst mal eine gute Schülerin«, sagt Lottas großer Bruder Ben. »Du kannst so gut zuhören.« Lotta freut sich schon sehr auf die Schule. Doch während Lottas Kita ihren Eltern täglich zeigt, wie gut das Zusammensein von Kindern mit und ohne Behinderung gelingen kann, stößt Sandra Roth bei der Schulsuche für ihre Tochter auf Ablehnung. »Ich mag Lotta, doch ich hätte Angst, sie bei mir im Klassenzimmer zu haben«, sagt eine befreundete Lehrerin und steht mit dieser Meinung nicht alleine da. Zu volle Klassenzimmer, nicht genügend Sonderpädagogen, fehlende Mittel - Sandra Roth trifft auf Rektoren, die beim Tag der offenen Tür die Arme verschränken.Nicht nur bei der Schulsuche, auch in vielen Alltagssituationen merken Lottas Eltern, wie viel noch fehlt zu einer wirklich inklusiven Gesellschaft. Wie müsste eine Welt aussehen, die Lotta mehr sein lässt als nur behindert? Die sie sehen könnte, wie sie ist - schön, unbekümmert, behindert, fröhlich und charmant? Nach ihrem Bestseller »Lotta Wundertüte« erzählt Sandra Roth in »Lotta Schultüte« erneut zutiefst berührend und humorvoll von dem Leben mit ihrer schwer mehrfachbehinderten Tochter - und leistet einen wichtigen Beitrag zu der aufgeheizten Debatte um die Inklusion.

Sandra Roth, geboren 1977, studierte Politikwissenschaften und Medienberatung in Bonn, Berlin und den USA. Nach ihrem Diplom absolvierte sie die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg und arbeitet seitdem als freie Autorin, u.a. für Die Zeit, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und Brigitte. 2013 erschien ihr erstes Buch »Lotta Wundertüte« bei Kiepenheuer & Witsch. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Köln.

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Leseprobe

Prolog


Was steckt man einem Kind in die Schultüte, das nicht kauen, greifen oder sehen kann? Lottas erstes Gummibärchen wäre auch ihr letztes. Selbst etwas so Kleines könnte zu viel sein, denn Lotta schluckt alles einfach runter. Als ihr großer Bruder Ben vor drei Jahren in die Schule kam, war er der einzige Erstklässler, der von seinen Eltern ständig ermahnt wurde, seiner kleinen Schwester ja nichts von seinen Süßigkeiten abzugeben.

In Bens Schultüte waren damals auch Stifte, ein Spitzer und eine Armbanduhr. Alles nichts für Lotta. Und so stehe ich an diesem Mittwochmorgen in der Küche und starre in eine weiße Plastikschüssel. Darin dreht sich eine kleine Metallschale um sich selbst und beginnt, rotgelb zu glühen.

Die Terrassentür habe ich geöffnet, um kühle Luft reinzulassen, draußen zwitschern die Vögel. Ihr Gesang hallt wie in einem riesigen Innenhof. Die Reihe von kleinen Häusern, von denen wir eines bewohnen, steht einer geschlossenen Front von Mietshäusern gegenüber, getrennt durch Gärten und riesige alte Bäume, die einen glauben machen können, man wäre im Grünen. Von ferne höre ich das Brummen der erwachenden Stadt.

Es ist viel zu früh. Jahrelang habe ich darauf gewartet, dass die Kinder länger schlafen – jetzt, wo sie es endlich tun, kann ich es nicht mehr. Doch es gibt Schlimmeres. Jahrelang hat Harry darauf gewartet, dass die Kinder länger schlafen, jetzt, wo sie es tun, steht seine Frau unerklärlich früh auf und lässt die Treppenstufen knarren. Ich blicke zur Tür zum Flur, sie ist geschlossen, hoffentlich war ich leise genug. Wenigstens habe ich heute eine gute Ausrede.

Unter meinen Füßen sind die Holzdielen angenehm kühl. Mit dem rechten großen Zeh kratze ich an einem Mückenstich an meinem linken Knöchel, ich sollte aufhören, sonst blute ich noch aufs Parkett, aber ich kratze weiter, auf einem Bein balancierend, starre in die Plastikschüssel und warte. Heute sollen es 34 Grad werden.

»Was ist das?«

Ich zucke zusammen. Ben steht auf einmal hinter mir, im Schlafanzug, die Ohren noch rot vom Schlaf, seine blonden Haare stehen hinten am Kopf zu Berge, als wollten sie von alleine wieder zurück in sein Bett im ersten Stock.

»Nicht reinfassen, Ben, das ist heiß!«

Ich nehme einen langen hölzernen Schaschlikspieß und halte ihn in die Schale, in der nun weiße Fäden wirbeln.

»Was machst du da?«

»Zuckerwatte.«

Bens Jubel hallt durch die morgendliche Stille.

»Psst! Nicht Lotta verraten.«

Lottas Behinderungen haben eine Menge Geräte ins Haus gebracht, von denen ich als Schwangere nie gedacht hätte, dass wir sie mal brauchen würden. Einen Kinder-Rollstuhl, einen Stehtrainer, der im Grunde ein großes Brett ist, auf dem man sein Kind fixiert und es dann gerade hinstellt – es erinnert mich immer an die Drehscheiben, auf die Messerwerfer im Zirkus ihre Opfer schnallen –, Lagerungselemente, die Lottas Knie auseinanderhalten, während sie schläft, um ihre Hüfte zu schonen. Orthesen, so ähnlich wie die Schienen von Forrest Gump, nur mit pink-grün-lila Herzen darauf, die Lottas abgeknickte Füße gerade rücken sollen. Viele Dinge, die ich mir früher noch nicht mal hätte vorstellen können. Und nun eine Zuckerwattemaschine, bestellt im Internet. Denn Zuckerwatte kann auch genießen, wer nicht kauen kann, sie schmilzt im Mund.

»Das ist unser Geheimnis, Ben, ja?«

Ben grinst verschwörerisch. »Wenn ich was abhaben darf?«

»Vor dem Frühstück?« Ich drehe den Schaschlikspieß und die weißen Fäden wickeln sich auf.

Ben tanzt von einem Bein aufs andere. »Ich teste nur für Lotta. Nicht, dass der Zucker schlecht geworden ist.«

In Lottas große pinke Schultüte packe ich neben der Zuckerwatte, die ich in durchsichtige Folie hülle, noch Haarspangen, Glöckchen, eine Hörspiel auf CD und Wachsmalkreiden, die in dicken Knubbeln enden, sodass man sie auch in einer Faust halten kann. Ab sechs Monate steht auf der Packung, Lotta ist sechs Jahre alt. Am Ende hat sie dasselbe in der Schultüte wie alle Kinder: zu viel.

Als ich die blaue Schleife um das weiße Krepp-Papier binde, frage ich mich, ob Lotta die Tüte lang genug alleine halten kann, um ein Foto von ihr damit zu machen. Neulich hat eine Mutter auf Facebook ein Bild von etwas gezeigt, das ich jetzt auch gerne hätte: einen Schultütenhalter aus Metall, befestigt am Rollstuhl ihres Kindes. Ihr Mann hat ihn selbst zusammengeschweißt. Mein Mann Harry ist Redakteur beim Fernsehen und kann ein Püree machen, so fluffig, dass selbst Lotta sich nicht daran verschluckt, und die Spülmaschine, auf die – laut ihm – einzig richtige Art einräumen. Schweißen, Dübeln oder Sägen gehören nicht zu Harrys Talenten und leider sind wir uns in dem Punkt zu ähnlich.

»Na, du Schulkind!«, ruft Ben mit dem Mund voller Zuckerwatte die Treppe hoch. »Bist du schon wach?«

Ein quiekendes Lachen aus dem ersten Stock antwortet ihm.

»Freust du dich etwa auf die Schule? Das wird sich ändern, glaub mir!«

Ben ist neun Jahre alt und kommt morgen in die vierte Klasse. Bald geht er mir bis zur Schulter, er ist so viel gewachsen in letzter Zeit, dass seine Arme und Beine wirken, als hätte jemand zu stark daran gezogen. Ständig stößt er irgendwo an, er ist wie ein junger Welpe, der noch nicht weiß, wie groß und stark er ist, und der aus Versehen das Wohnzimmer verwüstet, ohne dass ihm jemand lange böse sein kann.

»Wisst ihr schon, auf welches Gymnasium er geht?«, hat meine Freundin Melanie mich schon vor einem Jahr gefragt, als Ben und ihr Sohn Luca noch nicht mal in der dritten Klasse waren.

»Habt ihr schon eine Empfehlung der Lehrerin, dass Luca aufs Gymnasium soll?«, habe ich geantwortet. »Ich dachte, diese Gespräche gibt es erst im Herbst der vierten Klasse und die Infoveranstaltungen sind danach.«

»Das entscheidet doch nicht die Lehrerin, ich gehe jetzt schon zu allen Tagen der offenen Tür. Ich tendiere zum Katholischen.«

Was ist eine gute Schule? Und wie entscheidet man das für ein Kind wie Lotta? »Sie ist so richtig behindert«, hat Ben sie mal jemandem vorgestellt. »Nicht nur ein bisschen.« Es klang fast stolz. »Schwer mehrfachbehindert« ist ein anderer Ausdruck dafür, falls man nicht »so richtig behindert« sagen möchte. 7,5 Millionen Menschen in Deutschland sind schwerbehindert, das heißt fast jeder Zehnte, doch nur etwa zwei Prozent davon sind Kinder. Das Leben mit ihnen erscheint vielen Menschen unvorstellbar. »Das könnte ich nicht«, sagen mir manchmal Leute, und bevor ich Lotta bekam, hätte ich wahrscheinlich dasselbe gesagt.

Lotta ist blind, was aber nicht heißt, dass sie im Dunkeln lebt. Sie sieht wie andere bei undurchdringlichem Nebel, nur harte Kontraste dringen durch, Schwarz-Weiß, Glitzerndes, Neon. Sie ist körperlich so stark eingeschränkt, dass sie im Rollstuhl sitzt und wir ihn schieben müssen. Sie kann nicht kauen, daher stecke ich alles in den Mixer: Pizza, Käsebrote, Geburtstagskuchen. Nur Pommes schmecken püriert nicht, genauso wenig wie Salat. Lotta kann nicht sprechen, frei sitzen, sich an der Nase kratzen oder ihren Kopf über lange Zeit selbst halten. Sie kann sehr gut hören und riechen. Welche Schule ist die richtige für so ein Kind?

In unserer Küche hängt an einer Kreidetafel noch die Einladung von Lottas Kindergartenfreundin Nelly zu ihrem sechsten Geburtstag, daneben ein Zettel mit einem kleinen Herz, den Lottas Freund Jakob ihr in den Rucksack gesteckt hat. Die beiden kommen ebenfalls heute in die Schule.

Seit 2009, dem Jahr, in dem Lotta geboren wurde, gilt in Deutschland die UN-Behindertenrechtkonvention. Seitdem soll hierzulande ein »integratives Bildungssystem auf allen Ebenen« gewährleistet werden, sodass »Menschen mit Behinderung nicht aufgrund von einer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden«. Die 2006 beschlossene Konvention konkretisiert die universellen Menschenrechte, wie sie 1948 von den Vereinten Nationen beschlossen wurden, für Menschen mit Behinderung und folgt dem Leitbild der inklusiven Gesellschaft: Nicht der Einzelne soll sich integrieren, die Gesellschaft als Ganzes soll ihn inkludieren, nicht der Einzelne muss sich ändern, sondern die Gesellschaft. 158 von 193 Mitgliedern der UN haben dieses Übereinkommen unterzeichnet, nur die UN-Kinderrechtskonvention haben mehr Staaten unterzeichnet. Alle vier Jahre müssen sie über die Umsetzung des Vertrags berichten, beim letzten Mal, 2015, wurde Deutschland gerügt, weil es in fast allen Bereichen zu wenige Fortschritte gab. Im März 2019 muss Deutschland zum nächsten Mal einen Bericht einreichen.

Schule ist nur eines der vielen Themen der Behindertenrechtskonvention, nicht nur dort sollen Menschen mit Behinderung teilhaben können: auch auf dem Arbeitsmarkt oder im Internet, politisch, gesellschaftlich oder kulturell. Und doch bestimmt der Aspekt Schule die Debatte. Wie hierzulande schulische Inklusion konkret umgesetzt wird, ist weitgehend den Ländern überlassen. Inklusion in Hamburg ist nicht gleich Inklusion in Bayern, auch von Stadt zu Stadt oder Landkreis zu Landkreis können sich die konkreten Umsetzungen stark unterscheiden. Bundesweit geht etwa ein Drittel der Kinder mit Förderbedarf gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung zur Schule, in Bremen sind es laut der Kultusministerkonferenz über 77 Prozent, in Hessen etwa 23 Prozent. In Nordrhein-Westfalen, wo wir leben, hat jedes Kind mit Förderbedarf seit dem Schuljahr 2014/15 einen Rechtsanspruch auf einen Platz an einer inklusiven Schule.

In Lottas Zimmer...

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