Der Teufel
Das Kloster ist ein stattliches Haus mit einem dunklen Innenhof. Sie hat ihren Teddybär dabei, den sie immer fest an sich drückt. Zum Spielen darf sie ihn nicht mit in den Hof nehmen, also bleibt sie im Haus. Ein schwerer, dunkler Holztisch steht in einem großen Saal, an dem die Nonnen essen. Eine Treppe führt auf die Dachterrasse des Hauses. Kleine Käfige hängen dort mit vielen bunten Vögeln. Die Nonnen reden oft mit den Vögeln, um ihnen das Sprechen beizubringen, immer dieselben Wörter. Sie darf nicht mit den Vögeln reden, da sie das spanische R, dieses Rollen mit der Zunge, nicht beherrscht. Sie fühlt sich aber von den Vögeln sehr angezogen und redet mit ihnen auf ihre lautlose Art. So ist das Heimweh erträglich.
Von dem großen Saal führt eine Holztür mit einem darüberhängenden, aus dem Herzen blutenden Jesus in Räume, die sie und ihre Schwester auf keinen Fall betreten dürfen. Neben dem Eingang hängt ein wandhohes Bild. Drei große Wesen, die Köpfe ziegenähnlich mit geraden Hörnern und einem Klumpfuß, flößen ihr Angst ein. Jeder von diesen Ziegenmenschen hält eine übergroße Gabel und ein Messer in den Händen, mit denen sie den am Boden liegenden zerlumpten Menschen zerstückeln. Nur die Nonnen gehen dort ein und aus. Ihr und ihrer Schwester erklären sie mit erhobenem Zeigefinger: »Wenn ihr durch diese Tür geht, zerschneiden euch die Teufel genau so wie auf dem Bild und essen euch auf, verstanden?«
Sie versprechen den Nonnen hoch und heilig, es niemals zu tun.
Mitten unter all den schwarz-weiß gekleideten Nonnen fällt eine grau gekleidete, sehr alte Frau aus dem Rahmen. Sie schlurft gebückt, auf einen Stock gestützt, durch die Gänge oder um den großen Tisch herum. Dann wieder sitzt sie regungslos auf einem Stuhl neben dem Bild wie eine Wächterin.
Ihre Schwester und sie besuchen morgens die Nonnenschule. Nach dem Mittagessen müssen sie sich an den Tisch setzen und lernen. Sie gibt sich große Mühe, etwas in ihr Heft zu schreiben. Von hinten nähert sich die alte Frau, stützt sich auf ihre Stuhllehne und murmelt ihr aus dem zahnlosen Mund etwas ins Ohr. Ihr stockt der Atem und ihr wird übel von dem beißenden Geruch, den die alte Frau ausströmt. Um dem Geruch und der Nähe zu entkommen, beugt sie sich ganz tief über das Heft. Die alte Frau folgt ihrer Bewegung, bis sie fast auf ihr liegt. Sie deutet mit ihren knochigen Fingern auf das Heft und murmelt immer lauter. Benebelt von den Ausdünstungen und der unangenehmen Bedrängnis, versucht sie, ihren Stuhl nach hinten zu rücken und aufzustehen. Sie hebt ihren rechten Arm, um sich Platz zu verschaffen, trifft die Greisin, die das Gleichgewicht verliert, der Länge nach auf den Steinboden fällt und sich die Seele aus dem Leib schreit.
Aus allen Winkeln des Hauses kommen Nonnen angerannt, helfen der kreischenden Alten auf, die mit ihrem Zeigefinger immer wieder auf sie deutet. Sie weicht wie ein verängstigtes Tier zurück, Schritt für Schritt, bis sie mit dem Rücken zur Wand steht. Zwei Nonnen stürzen sich wild gestikulierend auf sie und zerren sie auf die Dachterrasse zu den Vögeln. Dort setzen sie sie auf einen Hocker und stellen sich im Halbkreis um sie auf. Gemeinsam beginnen die Nonnen das Kind zu beschimpfen. Fast im Takt wiederholen sie unaufhörlich:
»Eres una niña mala, eres el diabolo. Du bist ein böses Kind, du bist der Teufel, du bist ein böses Kind, du bist der Teufel.«
Erst weint sie laut, dann wimmert sie nur noch verzweifelt. Jetzt fangen die Nonnen an, sich einen Spaß daraus zu machen:
»Schaut mal, jetzt wachsen ihr schon Hörner, schaut mal, auf ihren Kopf, da kann man sie schon sehen.«
Sie fasst sich an den Kopf, kann aber keine Hörner ertasten. Das belustigt die Nonnen noch mehr, und erheitert schlagen sie sich auf die Oberschenkel und drehen sich im Kreis vor Vergnügen. Je öfter sich das Kind den Kopf abtastet, umso heiterer wird die Stimmung.
»Du bist der Teufel, dir wachsen Hörner«, hallt es in ihren Ohren, ihr wird schwarz vor Augen und sie erkennt nur noch undeutlich, dass eine ältere Nonne, Theresa, die anderen zum Schweigen bringt, sie auf den Arm nimmt und ins Bett bringt.
Abends hat sie hohes Fieber und fällt in einen Dämmerzustand, aus dem sie erst am nächsten Morgen schweißgebadet aufwacht. Sie spürt ein tiefes Loch in ihrem Inneren, ein Loch, in das ihre Kraft fließt und sie als leere Hülle zurücklässt. Das Erlebte vom Vortag erscheint nur blitzartig, wie aneinandergereihte Fotografien. Sie fühlt sich allein und schmutzig. Ein Drang zu fliehen überkommt sie.
Schlafwandlerisch steigt sie aus dem Bett, verlässt das Zimmer und findet ihren Weg zur Terrasse auf dem Dach. Theresa, die Nonne, die sie gestern ins Bett gebracht hat, hängt auf der anderen Seite der Terrasse Wäsche auf. Von ihr unbemerkt, schlüpft sie zwischen den aufgehängten Laken hindurch, erreicht die Mauer, die die Terrasse umgibt, und erklimmt sie.
Sie schaut erst weit über die Dächer bis zu den Bergen auf der einen Seite und dann zum glänzend blauen Meer auf der anderen und fühlt sich etwas erleichtert. Dann fällt der Blick nach unten. Sie ist sofort gefesselt von dem Hochbetrieb, der dort herrscht. Mopeds hupen Eselskarren zur Seite, Frauen ziehen Kinder laut gestikulierend hinter sich her, Männer stehen am Straßenrand mit Zigaretten in den Mundwinkeln und schauen ernst. Sie spürt einen unbändigen Sog, hinunterzuspringen, um in das geschäftige Leben einzutauchen.
Zwei Arme umschlingen ihren kleinen Körper und heben sie sanft von der Mauer. Theresa nimmt sie wie ein Baby auf ihre beiden Arme. Sie lehnt ihren Kopf an Theresas Brust und spürt, wie sie sich entspannt, und lässt erlöst den Tränen freien Lauf. Theresa bringt sie zurück in ihr Bett, wo sie in einen tiefen Schlaf fällt. Nachts bekommt sie wieder hohes Fieber und die Nonnen erlauben ihr, ins Bett der Schwester zu schlüpfen. Immer wieder wacht sie im Fieberwahn auf und schreit so gotterbärmlich, dass die Nonnen aus ihrer Klausur kommen, um sie zu beruhigen. Nur Theresa gelingt das. Überfordert von ihren nächtlichen Ausflügen, drückt sie sie fest an sich und nimmt sie kurzerhand mit auf den Weg in die Klausur. Dabei singt sie ihr ein spanisches Wiegenlied vor. Als sie die verbotene Tür erreichen, fängt das kranke Kind an zu kreischen und wild zu strampeln.
»Nein, nein, der Teufel frisst mich, halt, da darf ich nicht rein, nein!«
Ihre Schwester läuft hinter der Nonne her und möchte sie vor der Hölle retten. Entschieden schickt die Nonne die Schwester wieder zurück ins Bett und trägt ihr schreiendes und zappelndes Bündel durch die Tür in ihre Klause.
Keine Teufel empfangen sie. Theresa hält sie fest in ihren Armen und legt sich mit ihr ins Bett. Sie wiegt sie noch lange im Rhythmus des Wiegenlieds, und mit der Wärme ihres Körpers besänftigt sie das verängstigte Kind.
Der Spuk hatte ein Ende. Meine Mutter holte uns wieder ab. Gracias a Dios. Sie war erschüttert über meinen Zustand. Ich sei verstört und lange Zeit sehr schüchtern und körperlich schwach gewesen. Noch heute gibt es Momente in meinem Leben, da überkommt mich eine Angst, erkannt zu werden, in Verbindung mit etwas Bösem, das tief in mir schlummert. Das Böse, das nicht sichtbar ist, aber sichtbar werden kann für den Betrachter. Die Angst vor dem Abgrund, der sich auftut, wenn mein Gegenüber das Böse sieht.
Wir bestiegen eine große Fähre, die uns über das blaue Meer nach Alicante brachte. Dort nahmen wir den Zug nach Málaga. Wir reisten mit wenig Gepäck, kein Besitz, nur ein paar Bücher, leichte Anziehsachen und immer unsere geliebten Teddybären im Arm.
Tante Iffis hohe Gestalt überragte auf dem Bahngleis die wuselnde Menschenmenge. Wir sahen sie schon von Weitem mit ihren langen Armen winken und hörten sie laut »Mähggi, Mähggi« rufen. Und ab ging es in ihrem großen Auto nach El Alamillo.
Wir Kinder setzten gleich am ersten Tag das Gästehaus in Brand. Aus Angst, beim Kokeln erwischt zu werden, hatten wir uns eingeschlossen. Der Bettvorleger fing Feuer, dessen Flammen die schwere spanische Holzkommode erreichten. Aus dem angrenzenden Bad schütteten wir Wasser aus Zahnputzgläsern vergeblich auf die Flammen. Alarmiert, trat Goggi die Tür ein, löschte das Feuer mit einer Decke und es gab ein Donnerwetter. Von meiner Mutter auch eine gehörige Tracht Prügel.
Onkel Goggi war aber gar nicht nachtragend. Er liebte uns Kinder, warf uns ständig in die Luft oder fasste uns an einer Hand und an einem Bein und spielte Flugzeug mit uns, indem er sich ganz schnell um sich selbst drehte.
Zum großen Leidwesen meiner Mutter animierte er uns beim Essen zu Schlimmerem. Weil wir den ganzen Tag den riesigen Besitz durchstreiften, hatten wir zu den Mahlzeiten immer großen Appetit und schaufelten die Köstlichkeiten nur so in uns herein. Wenn wir den Mund besonders voll hatten, sagte Goggi:
»Stopp, nicht kauen, nicht schlucken, wenn ihr laut puuhhh sagt, bekommt ihr einen Duro!«
Wie aus einem Mund machten wir laut puuhhh. Das schrille Nein meiner Mutter fand kein Gehör. Die Schweinerei, die dabei entstand, nahm Goggi gern in Kauf, er amüsierte sich prächtig, schlug sich immer herzlich lachend auf die Oberschenkel und gab jeder von uns wie versprochen ihren Duro, der fünf Peseten wert war und gleich im Dorf in Eis umgesetzt wurde. Onkel Goggi, obgleich Militärmensch, war etwas verrückt und mit uns Kindern immer zu Scherzen aufgelegt. Wir liebten ihn. Er war ein Anhänger Francos, aber von Gesinnungen wussten wir Kinder damals noch nichts.
Die für uns geeignete Bleibe in...