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Sexy, aber nicht mehr so arm: mein Berlin

AutorEnrik Lauer, Klaus Wowereit
VerlagEdel Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783841906250
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Klaus Wowereit wirft einen Blick auf sein bewegtes, unkonventionelles Politikerleben - und auf »sein« Berlin, mit allen Facetten. Dabei reflektiert er die Rolle des Politikers ebenso wie die der Großstadt, deren Probleme exemplarisch sind für die großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit. Er erzählt, was es heißt, sich jahrzehntelang im Politikbetrieb aufzureiben, ohne dabei sein Privatleben und seine Menschlichkeit zu verlieren. Noch einmal in den Politikbetrieb einsteigen ist für Wowereit keine Option. Aber seine Arbeit hat er geliebt - seine Stadt liebt er noch heute. Über beides spricht er sehr offen in diesem Buch. »Wenn es etwas gibt, das ich mir wünsche, dann ist das ein gesamtdeutsches Bewusstsein dafür, dass Berlin die Hauptstadt aller ist, nicht bloß die Hauptstadt der Berlinerinnen und Berliner. Eine weltoffene, dynamische, sich ihrer bewegten Geschichte bewusste Hauptstadt, wirtschaftlich, politisch und kulturell der Zukunft zugewandt.« KLAUS WOWEREIT

Klaus Wowereit, geboren 1953 in Berlin, wurde drei Jahre nach seinem Jurastudium Berlins jüngster Stadtrat. 1995 erfolgte seine Wahl ins Abgeordnetenhaus von Berlin, 1999 die Wahl zum Vorsitzenden der SPD-Fraktin Berlin. Am 16. Juni 2001 wurde er mit den Stimmen der SPD, GRÜNEN und PDS zum Regierenden Oberbürgermeister von Berlin gewählt. Dieses Amt hatte er dreizehneinhalb Jahre bis Ende 2014 inne.

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Leseprobe

KAPITEL 2


BERLINER WIRTSCHAFT: START-UPS STATT INDUSTRIE


Wie alle großen und weniger großen Städte war auch Berlin am Beginn seiner Geschichte ein Marktflecken. Besser gesagt: zwei Marktflecken links und rechts der Spree, Cölln und Berlin.

Dass Berlin nah am Wasser gebaut ist, sieht und merkt man bis heute. Nicht allein an den Flüssen Spree und Havel, an Müggelsee, Wannsee und Tegeler See, sondern auch an den Auswirkungen seiner Lage im Urstromtal der Weichseleiszeit vor 18.000 Jahren. Diese Senke verläuft zusammen mit der Spree von Köpenick bis Spandau quer durch die Stadt. Und sie treibt bei jeder größeren und vielen kleineren Baustellen die Kosten und die Bauzeit in die Höhe. Bereits mit wenigen Spatenstichen gräbt man nämlich meistens eine sprudelnde Quelle. Weshalb zu jedem Hoch- und Tiefbau die für Berlin typischen, überirdisch verlegten Abflussrohre gehören. Und weshalb Berlin sechs seiner neun Wasserwerke nicht betreibt, um seine Bürger mit (überdurchschnittlich gutem) Trinkwasser zu versorgen, sondern um zu verhindern, dass ihre Keller volllaufen.

Bedeutendere Markt- und Handelsstädte als Berlin-Cölln gab es im Mittelalter und in der frühen Neuzeit haufenweise. Dass die Händler des Mittelalters überhaupt in Berlin Halt machten, verdankte es denn auch weniger seiner Lage am Wasser als der an einer Kreuzung alter Fernhandelswege zwischen Ost und West sowie Nord und Süd, die von Frankfurt/Oder nach Magdeburg, von Schlesien nach Hamburg sowie von Stettin nach Leipzig führten. Hier, genauer: über den im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts angelegten Mühlendamm, kam man an einer ebenso schmalen wie flachen Stelle trockenen Fußes über die Spree. An der Furt wurde zunächst eine Brücke errichtet, später ein Stauwehr, das sechs Korn-, Walk- und Schneidemühlen antrieb.

Da viele Schiffer hier ohnehin ihre Waren umladen mussten, erhielt Berlin früh das Stapelrecht. Das heißt: Durchziehende Kaufleute musste ihre Waren für einen bestimmten Zeitraum auf dem städtischen Stapelplatz anbieten oder am Hafen „umschlagen“. Von dieser zeitraubenden Pflicht konnten sie sich nur durch Entrichtung einer Gebühr befreien. Das Stapelgeld füllte den Stadtsäckel und förderte das ansässige Gewerbe.

Dennoch wuchs die Bevölkerung Berlins bis etwa 1700 nur im Schneckentempo, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dann zwar viel dynamischer, aber erst mit Beginn der Industrialisierung rasant. Das ist für Berlin ziemlich typisch, im positiven wie manchmal leider auch im negativen Sinne: Lange passiert hier gar nix, fast immer fangen wir später an als die anderen, aber einmal angestoßen, verlaufen historische Entwicklungen dann fast im Zeitraffer.

Bei ihrer Entstehung war die Doppelstadt nach heutigen Maßstäben ein Kaff mit rund 2000 Bewohnern. Als Residenzstadt der brandenburgischen Kurfürsten hatte Berlin Mitte des 15. Jahrhunderts etwa 8000, zu Beginn des 18. Jahrhunderts, nunmehr Kapitale des Königs in Preußen, um die 20.000 Einwohner. Pestepidemien, zwei Großbrände, Raubritter und der Dreißigjährige Krieg hatten die Stadt in den Jahrhunderten davor immer wieder zurückgeworfen. Seit 1747 aber war Berlin mit über 100.000 Einwohnern eine Großstadt, Ende des 18. Jahrhunderts mit 170.000 Einwohnern die Nummer sechs unter Europas Metropolen. Allein in den „Gründerjahren“ 1871 bis 1873 wuchs die Einwohnerzahl Berlins um 400.000. 1877 wurde die Millionenmarke geknackt, und mit der Bildung der Einheitsgemeinde Groß-Berlin im Jahre 1920 wurde die Stadt (hinter Los Angeles, unserer heutigen Partnerstadt) zur flächenmäßig zweitgrößten, der Einwohnerzahl nach hinter London und New York zur drittgrößten Stadt der Erde.

In die Liga der globalen Megalopolen von heute mit ihren mehr als 20 oder 30 Millionen Bewohnern wird Berlin, wie die meisten gewachsenen Großstädte Europas oder Nordamerikas, nie aufsteigen. Für deren Chancen wie Probleme werden daher – auf sehr verschiedene Weise – Städte bzw. Metropolregionen wie Tokio, Shanghai, Delhi, Sao Paulo oder Kairo die Blaupausen liefern müssen. Ob das Boot Berlin in mittlerer Zukunft mit vier, viereinhalb oder fünf Millionen Menschen „voll“ sein wird, ob sein aufstrebender „Speckgürtel“ im Süden und Südwesten eher gemächlich oder rasant wachsen wird, das wird sich zeigen.

Weder seine Größe noch seine wirtschaftliche Bedeutung hebt Berlin heute aus der Familie der europäischen Millionenstädte heraus. Was Berlin zum Labor des Lebensraums Großstadt macht, ist seine Dynamik. Die hat (und hatte immer) zweifelsohne auch ihre Schattenseiten. Aber auch wenn manche das allzu gerne so darstellen: Die Mehrzahl der Experimente im „Labor Berlin“ ging – und geht! – keineswegs in die Hose. Was Menschen hier ausprobieren, zeigt meiner Meinung nach geradezu prototypisch, an welchen Schrauben kommunale, regionale und gesamtstaatliche Akteure drehen können, um den Lebensraum Stadt positiv zu entwickeln. Wo sie nicht sehr viel mehr als Problemverwalter sein können. Und wo sie die Menschen einfach machen lassen sollten.

Historisch gesehen war noch etwas für Berlin typisch: Bis zum Beginn der Industrialisierung hing die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt nahezu vollständig an ihrem Status als Residenz und nicht zuletzt an der Armee. Wenn überhaupt, dann sollte man das Klischee des „preußischen Militarismus“ als sozioökonomische Kurzformel lesen. Jeder fünfte Preuße des friderizianischen Zeitalters war Soldat. Und mithin war auch das preußische Berlin, so Karl Schefflers Diagnose von 1910 (Berlin, ein Stadtschicksal), die längste Zeit keine Bürger-, sondern eine Beamtenstadt. Und vor allem eine „repräsentative Garnisonsstadt“. So sank während des Siebenjährigen Krieges (1756 bis 1762) die Einwohnerzahl Berlins um über 25.000, schlicht weil die Kasernen gar nicht oder nur minimal besetzt waren. Auch was sich hier an Gewerbe ansiedelte, belieferte oft mehr den Staat und die Armee als den Markt.

DAS „MANCHESTER DER MARK“


Zur Industriemetropole wurde Berlin ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Unternehmenslegenden, in denen Garagenbutzen binnen weniger Jahre zu Großkonzernen aufsteigen, hat nicht erst das Silicon Valley geschrieben. Auch im Berlin der Gründerzeit entwickelte sich die Industrie mit Hochdruck aus Handwerk und Kleingewerbe.

Das allein unterschied Berlin freilich nicht so sehr von anderen Industriestädten. Der Hauptunterschied war: Die industrielle und kulturelle Boomtown war auch damals eine Insel im Ackerland. Anders als die von Bergbau und Schwerindustrie geprägten Industrieregionen Europas, etwa das Ruhrgebiet, Oberschlesien, Lothringen oder das englische „Black Country“ rund um Birmingham, anders auch als die Agglomeration rund um die Hafenstadt Liverpool und die Textilmetropole Manchester, lag Berlin inmitten einer dünn besiedelten, landwirtschaftlich geprägten und vergleichsweise kargen und armen Region. Sieht man von Magdeburg, das im 19. Jahrhundert zu einem Zentrum des Maschinenbaus wurde, in Ansätzen von Salzgitter sowie von der Textilstadt Cottbus ab, so gab es zwischen Ostseeküste und sächsischer Industrieregion, zwischen Weser und Oder praktisch nie Industrie. Selbst die Landwirtschaft war in der Berlin umgebenden Mittelmark, der „Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches“, großteils wenig produktiv.

Objektiv wären das alles eher Hemmnisse für den Aufstieg zur führenden deutschen Industriestadt gewesen. Aber vielleicht haben sich Alt- und vor allem Neubürger damals ja eben deswegen umso beherzter in dieses Projekt gestürzt. Binnen einer Generation haben sie aus Hinterhofwerkstätten Weltkonzerne, aus Umlanddörfern Stadtteile geschaffen. Nicht umsonst enden viele Berliner Kieze auf „Dorf“ und „Hof“, auf „Feld“, „Wald“ oder „See“.

Das Pharmaunternehmen Schering etwa, 1864 gegründet, in der Zwischenkriegszeit ein internationaler Mischkonzern für Bergbau, Chemie und Pharmazie, nach 1945 ein zwar stark geschrumpfter, aber innovativer Arzneimittelhersteller, war 1851 als „Grüne Apotheke“ im Wedding gestartet. 2006 von Bayer übernommen, beschäftigt die Firma, deren Name inzwischen aus dem Firmenregister verschwunden ist, in Berlin aktuell immer noch rund 5000 Menschen.

Der Name AEG (Werbeslogan der 1960er- und 1970er-Jahre: „Aus Erfahrung gut“) existiert heute nur noch als Marke für Haushaltsgeräte, die der schwedische Konzern Electrolux überwiegend in Italien, Polen und Ungarn fertigen lässt. 1865 hatte der Maschinenbauingenieur Emil Rathenau eine kleine Fabrik für Dampfmaschinen gegründet, die acht Jahre später in der „Gründerzeitkrise“ pleiteging. 1882 erwarb er von Thomas Edison die deutschen Nutzungsrechte an dessen Glühlampen-Patent. Daraus ging im Folgejahr die „Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektricität“ hervor, die 1887 mit Beteiligung der Deutschen Bank und des Wettbewerbers Siemens in die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) umgewandelt wurde und die bis 1928 mit 80.000 Beschäftigten zu einem der größten Konzerne der Welt heranwuchs. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden, wie bei so vielen Berliner Firmen, die Konzernzentrale und ein Großteil der Produktion nach Westdeutschland verlagert. Der Vollständigkeit halber: In den 1970er-Jahren geriet AEG-Telefunken zunehmend in die Krise, 1985 wurde der Konzern von Daimler-Benz übernommen und in der folgenden Dekade komplett filetiert.

Zurück blieben in Berlin Industriedenkmäler. Etwa das ehemalige AEG-Glühlampenwerk in Moabit, seit 2005 Sitz des Jobcenters Mitte, mehrere Fabrikgebäude im Stadtteil Gesundbrunnen oder das ehemalige Telefunken-Hochhaus am...

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