DIE ERSTE STUNDE
zeigt uns, dass wir in den ersten drei Jahren mehr lernen als im Rest unseres Lebens, welche unserer Eigenschaften biologisch festgelegt sind und welche wir verändern können.
1. bis 3. Lebensjahr
»Es gibt kein Alter, in dem alles so irrsinnig intensiv erlebt wird wie in der Kindheit. Wir Großen sollten uns daran erinnern, wie das war.« Astrid Lindgren
Alles beginnt mit einem Geschenk. Uns wird das Leben geschenkt, und wir sind das Geschenk für unsere Eltern. Wie würden wir über unsere erste Stunde schreiben, wenn wir schon schreiben könnten? Wir werden wunderbar umsorgt. Wenn wir schreien, werden wir gefüttert, fühlen wir uns unwohl, werden wir liebevoll gestreichelt und getröstet. Und sonst schlafen wir viel. Sobald wir einigermaßen auf allen vieren krabbeln können, beginnen wir, die Welt um uns zu entdecken, zu greifen, zu begreifen, Stufen hinaufzuklettern und wieder herunterzukommen, erste Worte zu brabbeln, mit Sand zu spielen, mit Wasser zu spritzen und vieles mehr. Lernen ist lustig, deshalb lachen wir viel.
Ab dem Moment, wo wir die ersten Worte sprechen können, wollen wir die Welt auf unsere ganz eigene Art entdecken. Es muss uns niemand die Gesetze der Schwerkraft erklären, damit wir diese nach vielen Fehlversuchen überwinden und uns stolz vom Vierbeiner zum aufrecht gehenden Zweibeiner aufschwingen. Für die erste Heldentat einer Zimmerdurchquerung auf zwei Beinen werden wir von unseren Eltern wie ein Olympiasieger gefeiert.
Das erste Mal, dass wir uns als eigenständige Person erkennen, verdanken wir oft einem Spiegel. Dieser glänzende Gegenstand, an dem wir so oft achtlos vorbeigelaufen sind, erweckt in einem ganz bestimmten Moment etwas in uns zum Leben. Das Wesen, das wir dort im Spiegel sehen, hat etwas mit uns zu tun. Wir betrachten es mit großer Neugier, und es schlüpft uns ein Wort über die Lippen, dessen Bedeutung wir erst viel später erkennen werden. Es ist das Wort »ich«. In diesem Augenblick haben wir so viele Informationen über unsere Umwelt gesammelt, dass wir uns selbst als eigenes Subjekt begreifen können. Wenn uns die Eltern ein Foto zeigten und uns fragten, wer das denn ist, so erkannten wir uns, antworteten aber oft noch in der dritten Person: »Das ist Andi.« Dieses Erlebnis verstärkt unsere Lust, die Welt um uns herum zu entdecken und Beziehungen zu anderen Wesen außerhalb des gewohnten Umfelds unserer Eltern und Geschwister zu wagen.
Die Welt scheint ein großer Spielplatz zu sein. Wir wollen aber schon mehr, als wir mit unseren Kräften erreichen können. Wir wollen gehen, bevor wir dazu imstande sind, wir verlangen mehr Aufmerksamkeit, als wir bekommen können, wir kämpfen um mehr Rechte, als wir zu verkraften vermögen, und unsere Wünsche sind unersättlich. Wir wollen alles, und das sofort. Jeder unserer kleinsten Wünsche verkörpert gleich unser ganzes Ich. Damit sich dieses kleine Ich gesund entwickeln kann, braucht es ein Du, meist die Mutter und den Vater. Diese verstehen es im besten Fall, uns auf Augenhöhe zu begegnen. Wenn wir gerade etwas unbedingt wollen, dafür wie um unser Leben schreien und auf dem Boden mit den Füßen strampeln, dann wissen unsere Eltern, wie sinnlos in dieser Situation dummes Anschreien oder jede andere Form der Bestrafung ist. Auch ein geduldiges Warten, bis unser Anfall vorüber ist, kann sehr lange dauern. Legt sich unser Vater dagegen zu uns auf den Boden und fragt uns mit freundlicher Stimme: »Erzähl mir doch, was los ist«, passiert meist ein Wunder. Wir schluchzen zwar noch ein bisschen, weil wir keine Luft bekommen, aber dann können wir den aus unserer Sicht völlig logischen Grund für unseren Anfall endlich loswerden. Immerhin hat der Vater uns jetzt verstanden, auch wenn er »Das geht leider nicht« sagt, während er uns an sich drückt und streichelt. Was passiert, wenn es diese erwachsene, liebevolle Bezugsperson nicht gibt?
Die Entdeckung des Urvertrauens – was Kinder brauchen
Der Stauferkönig Friedrich II. wollte mit einem Experiment herausfinden, welche Sprache Kinder entwickeln, wenn sie ohne jede Ansprache und Zuneigung aufwachsen. Über den genauen Ablauf dieses Versuchs ist wenig bekannt, sehr wohl aber über das erschreckende Ergebnis. Alle Kinder starben innerhalb kurzer Zeit. Friedrich II. vermutete fehlende körperliche und geistige Stimulation als Ursache, wenn er schrieb: »Sie vermochten nicht zu leben ohne das Händepatschen und das fröhliche Gesichter schneiden und die Koseworte ihrer Ammen.« Jedenfalls zeigen dieses und ähnliche Experimente, dass zumindest eine soziale Beziehung für ein Kleinkind überlebensnotwendig ist.
Die Bindungsforschung hat heute mit weit weniger brutalen Methoden die Bedeutung der engen Beziehung eines Kindes zu seiner Bezugsperson nicht nur für sein Überleben, sondern auch für seine weiteren Beziehungen herausgefunden. Das Kleinkind braucht unbedingt die individuelle Zuneigung von Erwachsenen, die es beschützen, versorgen und in die Kultur einführen. Die menschliche Zuneigung, die ein Kind vom ersten bis zu seinem dritten Lebensjahr erfährt, entscheidet, ob es später mit einem Urvertrauen ausgestattet die Welt entdecken und selbst gelungene Beziehungen eingehen kann. Neuere Forschungen zeigen, dass das erste Jahr dafür besonders ausschlaggebend ist.1 So wissen wir heute, dass ein Kind, dessen erstes Lebensjahr von Liebe und Zuneigung geprägt ist und das dann die Eltern durch einen Unfall verliert und danach in einem gefühlskalten Umfeld bei Verwandten aufwächst, trotzdem bessere Chancen auf ein glückliches Leben hat als ein Kind, welches im ersten Lebensjahr mit Zurückweisung aufwächst und anschließend viel Liebe zum Beispiel bei Pflegeeltern erfährt.
John Bowlby, der Begründer der Bindungstheorie, erkannte in seinen Forschungen bei straffälligen Jugendlichen in Heimen bereits in den Fünfzigerjahren die Folgen von Trennungsproblematiken in der frühen Kindheitsphase und beschreibt sie in drastischen Worten: »Das Bild … ist das schrecklicher Qualen, multipliziert über jedes Begriffsvermögen hinaus; und es bezeugt die Leere des Lebens, das den Entbehrungen folgt, die ›Gefühlsarmut‹ jener, die am schwersten vernachlässigt wurden; sie haben die Fähigkeit eingebüßt, Bindungen einzugehen, was gleichbedeutend damit ist, jemals den Wert des Lebens selbst zu erkennen. Es dokumentiert die Qualen jener, die immer noch um das ihnen von Geburt zustehende Recht auf Liebe kämpfen, indem sie lügen, stehlen, andere Menschen brutal angreifen oder sich mit der Intensität von Blutegeln an Mutterfiguren klammern, wobei sie in infantiles Verhalten zurückfallen in der Hoffnung, endlich als das Kleinkind behandelt zu werden, das immer noch in ihnen lebt und nach seiner Erfahrung hungert. Es zeichnet aus, wie diese verzweifelten Menschen ständig fortbestehen, indem sie Kinder hervorbringen, die sie nicht lieben können, die genau wie sie aufwachsen, ihrem Selbst entgegengesetzt, der Gesellschaft feindlich gesonnen, unfähig zu geben, ewig dazu verdammt, hungrig zu sein.«2
Im Gegensatz zu diesem erschütternden Bericht wird idealerweise durch die Liebe zwischen Mutter und Kind der Urgrund für die Liebesfähigkeit des Kindes geschaffen. Jene fundamentale Erfahrung intimer Verbundenheit entsteht durch die körperliche, emotionale und psychische Nähe. Sie weckt die Sehnsucht, später eine ähnliche intime und vertrauensvolle Beziehung zu einem Liebespartner zu finden.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse dieses Buches daher gleich am Anfang: Keine andere Stunde beeinflusst unser Leben so nachhaltig wie die erste Stunde. Als Kleinkind in den ersten drei Lebensjahren entwickeln wir ein Grundgefühl, welchen Situationen und Menschen wir vertrauen können und welchen nicht. Entscheidend für die Bildung jenes Urvertrauens sind die unmittelbaren Bezugspersonen, also die Eltern, primär die Mutter nach der Geburt. Die bei der Wahrnehmung der Umwelt gewonnenen positiven Erfahrungen statten ein Kind mit hohem Grundvertrauen darin aus, dass es die Welt gut mit ihm meint und es angenommen und geliebt wird. Im Gegensatz dazu sieht das verängstigte Kind die Welt nicht als Paradies, weil es schon früh von Menschen enttäuscht, verlassen oder betrogen wurde. Es fühlt sich von seinen Eltern nicht zu hundert Prozent angenommen und verspürt daher den Drang, sich besonders anzustrengen und zu beweisen.
Die gute Botschaft für alle Eltern in der ersten Stunde lautet: Ihr könnt alles richtig machen. Wenn ihr euer Baby in Händen haltet, dann braucht ihr keine Sekunde darüber nachzudenken, wie ihr es perfektionieren könnt, damit es so schnell wie möglich sprechen und dann noch vor dem Schuleintritt lesen und schreiben kann, um nach dem Abitur mit Auszeichnung den Aufnahmetest für das Medizinstudium zu bestehen. Das ist nicht eure Aufgabe. Die Aufgabe ist zu sagen: Wir werden dir alle Zeit, Zuneigung und Zärtlichkeit geben, die du brauchst, weil du es uns wert bist.
Was wissen Sie eigentlich noch über diese so...