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Bei aller Liebe

Warum die katholische Kirche den Zölibat freigeben muss

AutorAnselm Bilgri
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783492992190
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Eine enorme psychische Belastung für zahlreiche Priester und ein eklatanter Nachwuchsmangel auf Seiten der katholischen Kirche - so stellen sich die Auswirkungen des Ehelosigkeitsgebots im Jahr 2018 dar. Deshalb fordern Anselm Bilgri und Gerd Henghuber klar: Der Zölibat ist einer der wichtigsten Punkte, an denen sich die Kirche reformieren muss, wenn sie zukunftsfähig bleiben will. In diesem Buch bringen die beiden Autoren die Lebensrealitäten von zahlreichen Betroffenen sowie die Fakten rund um den Zölibat zusammen und üben so konstruktive Kirchenkritik. Denn da der Zölibat nicht von Jesus gestiftet ist, sondern sich historisch entwickelt hat, kann und muss er neu verhandelt werden. 

Anselm Bilgri, geboren 1953, war bis 2004 Benediktinermönch, Cellerar und Prior des Klosters Andechs. Heute wirkt der 'Gratwanderer zwischen Kirche und Welt' als Vortragender, Buchautor, Coach und Mediator. und ist Mitgründer der Akademie der Muße. Bei Piper erschienen seine Bücher 'Finde das rechte Maß', 'Stundenbuch eines weltlichen Mönches', 'Herzensbildung' und 'Vom Glück der Muße'.

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Leseprobe

Sexualität


Sexualität ist eine der stärksten Lebensmächte und Triebkräfte in der belebten Welt. Sie bindet durch die Fortpflanzung Individuen besonders aneinander. Beim Menschen ist die Sexualität über die Funktion der Fortpflanzung hinaus aber auch ein wichtiges Element seiner Beziehung zum Übermenschlichen und damit zur Religion. Davon geben alte Kultfiguren wie z. B. die Venus von Willendorf, der griechischer Hermes oder der römische Priapus beredtes Zeugnis.

Auch im Judentum trifft das von Anfang an zu. Schon die Schöpfungsgeschichte der Genesis, des ersten Buches Mose, betont die Gleichwertigkeit und Differenz der Geschlechter. Mann und Frau vereinigen sich zur Fortpflanzung. Sie sind ursprünglich nackt; erst durch den Sündenfall nehmen sie ihre Nacktheit wahr und empfinden darüber Scham. Und damit beginnt die niedergeschriebene Geschichte der Sexualität. So bieten denn auch die Erzählungen des Alten Testaments einen bunten Reigen sexuellen Verhaltens – auch Fehlverhaltens. Dies reicht vom Angebot des sexuellen Missbrauchs zum Schutz des Gastrechts in Sodom bis zur Tötung des Feldherrn Urija, weil König David ein Auge auf dessen Frau geworfen hatte. Onan, ein Neffe des ägyptischen Josef, hat den Sinn der Schwagerehe verkehrt, indem er seinen Samen auf die Erde fallen ließ, also Coitus interruptus vollzog. Deshalb bezeichnet man fälschlicherweise die Selbstbefriedigung als Onanie. Und Ham, der jüngste Sohn Noahs, des Überlebenden der Sintflut, wird von seinem Vater verflucht, weil er ihn im Weinrausch nackt gesehen und das weitererzählt hat.

All diesen zum Teil erschreckenden Erzählungen zum Trotz wird im Alten Testament und im Judentum bis zum heutigen Tag die Sexualität als Schöpfergabe positiv gesehen. Das gilt sowohl für die lustbetonte Sexualität ohne die Absicht der Fortpflanzung als auch für die auf Fruchtbarkeit zielende Sexualität. Ausnahmen sind Vergewaltigung, Inzest, über einen langen Zeitraum auch Homosexualität und »Sodomie«, Letzteres ein sehr unbestimmter Begriff für sexuelle Abweichungen. Im orthodoxen Judentum gilt Homosexualität auch heute noch als schwere Sünde, in liberalen Gemeinden wird dies anders gesehen, dort ist teilweise sogar eine Segnung homosexueller Paare möglich.

Im frühen Christentum und in der Kirche des Mittelalters


Die Sexualmoral des Christentums ist von Anfang an restriktiver. Dies ist bereits im Neuen Testament angelegt. Die in der Antike weitverbreitete Freizügigkeit des Mannes wird massiv eingeschränkt. Das Christentum verwarf auch den Verkehr mit Dirnen und den erzwungenen Verkehr mit Sklavinnen – beides galt in der traditionellen antiken Gesellschaft bis dahin nicht als Ehebruch. Die große Veränderung, die damit einherging, bestand darin, dass der gesellschaftliche Stand der Frau bei der Bewertung einer sexuellen Beziehung keine Rolle mehr spielte. Die Haltung war eindeutig: Erlaubte Sexualität spielte sich für Christen nur noch in der eigenen Ehe ab.

Die frühchristliche Sexualethik verbindet jüdische Traditionen mit Tendenzen griechisch-römischer Philosophie, vor allem der Stoa. Deren Position, der Geschlechtsverkehr könne unter die Herrschaft der Vernunft gezwungen werden, indem man ihn einem Zweck unterordne, leuchtete den frühen Theologen unmittelbar ein. Ihre Begründung findet die Hochschätzung der Ehe in der kompromisslosen Ablehnung der Ehescheidung durch Jesus (Markus 10,9). Diese Haltung war beispiellos, im Judentum wie im Heidentum. Tatsächlich äußert sich Jesus zum Thema Sexualität nur im Zusammenhang mit der Ehe. Als Antwort auf die berühmte Sadduzäerfrage, mit welchem ihrer Männer eine siebenfache Witwe im Himmel verheiratet sei, erklärt er die Ehe zu einer diesseitigen Institution (Markus 12,25), und an einer ebenso berühmten Stelle spricht er von einer freiwilligen Ehelosigkeit »um des Himmelreichs willen« (Matthäus 19,12).

Diese Form der freiwilligen Ehelosigkeit wird in den jungen Christengemeinden bejaht und empfohlen, wenn sie dem Gebet und der ungeteilten Hingabe an die Sache des Herrn dient. Es handelt sich also eher um eine »Ehefreiheit« als um ein Verbot. Denn eine grundsätzliche Ablehnung der Ehe gilt als Irrlehre der Gnostiker, die den Leib insgesamt als Gefängnis der Seele betrachten, ihn daher geringschätzen und Sexualität verdammen.

Trotz positiver Bewertung der Sexualität als Teil der Schöpfungsordnung betonen die frühen Gemeinden die Gefahren des Missbrauchs. Auf der einen Seite werden daher Ehe und Fortpflanzung genauso zum Wert erhoben wie auf der anderen Ehelosigkeit und Enthaltsamkeit. Die innere Einstellung des Menschen erhält ein höheres Gewicht als äußere Handlungen. Dem Geschlechtsakt wird zwar eine heilige symbolische Bedeutung verliehen, er wird aber anderen menschlichen Werten untergeordnet und man sieht in ihm letztlich doch etwas potenziell Böses. Im Neuen Testament gibt es mehrere sogenannte Lasterkataloge, in denen an erster Stelle »Unzucht« genannt wird. Darunter versteht der Apostel Paulus vor allem den Verkehr mit Prostituierten. Ein besonderes Verbot betrifft den homosexuellen Verkehr. Er gilt dem Apostel als naturwidrig.

Die weitere Entwicklung der Einstellung der Kirche zur Sexualität wird durch den Begriff der kultischen Reinheit geprägt, die gegen die Absicht Jesu auch im christlichen Kontext eine zunehmende Rolle spielt. Das Heiligkeitsgesetz des Alten Testaments dringt sozusagen durch die Hintertür in die sich formende christliche Kirche ein. So kommt es zu der Auffassung, Körperflüssigkeiten machten den Menschen kultisch unrein, d. h. unfähig, am Gottesdienst teilzunehmen. Menschen, die durch nächtlichen Samenerguss, Blutfluss und Menstruation, Inzest oder Verkehr mit Tieren unrein geworden waren, mussten sich Reinigungsritualen unterziehen.

Dabei kennt bereits das Judentum eine Gegenbewegung gegen diese Haltung: Schon die Propheten verlangten im Gegensatz zur kultischen Reinheit eine innerliche Reinheit durch ethisch korrektes Verhalten. Sie forderten ein »reines Herz« statt vieler Opfer. In dieser prophetischen Linie bewegte sich auch die Verkündigung Jesu. Nicht die Einhaltung äußerer Reinheit, wie etwa das Händewaschen der Juden vor dem Essen, macht den Menschen vor Gott wohlgefällig, sondern rechtes Verhalten dem Nächsten gegenüber. Dieses rechte Verhalten der Nächstenliebe soll auch den Umgang mit Sexualität in den jungen Christengemeinden prägen. Im Gegensatz zur heidnischen Umwelt werden Männer und Frauen als grundsätzlich gleichwertig betrachtet, was ihre Sexualität anbetrifft. Daher wird jede einseitige Bevorzugung des Mannes bewusst abgelehnt: Prostitution, Empfängnisverhütung und Abtreibung werden als Sünden wider die Nächstenliebe gebrandmarkt. Dieser disziplinierte Umgang mit der menschlichen Sexualität findet denn auch durchaus Anklang in der griechisch-römischen Gesellschaft und in der von den zeitgenössischen Philosophenschulen geprägten Kultur.

Ab dem 4. Jahrhundert macht sich in der Kirche ein askesefreundliches Klima breit. Eremiten- und Mönchtum, die Hochschätzung des Jungfrauen- und Witwenstandes und das allmähliche Aufkommen der Zölibatsforderung führen zu einer Hochschätzung der ehelosen Lebensform und parallel zu einer Geringschätzung, ja Verteufelung der Sexualität. Ein Wüstenvater – so bezeichnet man berühmte geistliche Autoritäten der Eremiten, bringt diese Einstellung mit einem Weisheitsspruch auf den Punkt: »Die Mönche sollten sich vor zwei Dingen hüten: dem Bischof und der Frau.« Der Bischof will sie zu Priestern machen, die Frau will sie verführen. Damit schleicht sich auch eine erneute Minderstellung der Frau in das Christentum ein: Die Frau gefährdet die Enthaltsamkeit der Männer. Man sieht dies schon in der Schöpfungsgeschichte vorgebildet: Eva wird als Verführerin Adams interpretiert, der Frau eignet eine bedrohliche Kraft, sie ist die Versucherin des Mannes.

Sexuelle Lust soll daher nur zwischen Mann und Frau in der Institution der Ehe praktiziert werden. Der für die christliche Ethik äußerst einflussreiche Kirchenlehrer Augustinus geht sogar noch einen Schritt weiter und fordert, dass der Geschlechtsverkehr auch innerhalb der Ehe nur zum Zweck der Fortpflanzung erfolgen dürfe. Die Ehe diene einem dreifachen Gut: dem Gut von Kindern, dem Gut der Treue und dem Gut der Unauflöslichkeit. Andere Theologen sehen – wie der Apostel Paulus – den Sinn der Ehe als Abhilfe für die Lust. Sie bietet eine Möglichkeit der tugendhaften sexuellen Vereinigung auch ohne direkten Bezug zur Fortpflanzung, für die sie aber grundsätzlich offen sein muss. Im Mittelalter – im Rahmen der Entwicklung der Ohrenbeichte – entstehen detaillierte Listen, die sündhafte und damit verbotene Formen der Sexualität aufführen, darunter Ehebruch, Unzucht, oraler und analer Sex, Masturbation und einige spezielle Stellungen für den Geschlechtsakt, von denen vermutet wird, dass sie die Fortpflanzung verhindern sollen.

Die Reformationszeit


Obwohl das Christentum im Gegensatz zu einigen philosophischen Strömungen der Antike weder gegen den Körper noch gegen die Ehe eingestellt ist, entwickelt die Tradition der Kirche eine im Großen und Ganzen negative und pessimistische Sicht der Sexualität. Und diese Einstellung setzt sich auch bei den Reformatoren des 16. Jahrhunderts fort. Sie lehnen zwar den Zölibat für Priester ab, weil sie jeden speziellen »Stand der Heiligkeit« verwerfen, setzen dem aber das Ideal der Ehe und Familie entgegen. Beide sind stark von Paulus und Augustinus und ihrer Sicht der Ehe als rechtem Ort für die Sexualität geprägt. Ehe und Familie werden quasi obligatorisch, das evangelische Pfarrhaus zum...

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