Das Paradies auf Erden wäre greifbar nahe
Als Gattung (»homo sapiens«) hat es die Menschheit weit gebracht. Es leben im Jahr 2018 bereits 7,5 Milliarden Menschen auf dieser Erde, Tendenz steigend.1 Sie haben phantastische kulturelle und technologische Errungenschaften hervorgebracht, die ihnen Nahrung, Kleidung, Wohnungen, Produkte jeglicher Art, Mobilität und Information in Hülle und Fülle zur Verfügung stellen können. Mensch zu sein und als Mensch zu leben, kann lustvoll und wunderschön sein. Es steht unendlich viel Wissen zur Verfügung. Es gibt hervorragende Lehrer, Bildungseinrichtungen und Lernmethoden. Es gibt viele Menschen, die einander hingebungsvoll unterstützen. Die sich liebend gerne gegenseitig weiterhelfen. Das sehen wir immer dann, wenn z. B. durch Naturkatastrophen große Not entsteht und sofort viele Menschen mit großem Einsatz als Helfer vor Ort sind.
Ich sehe uns Menschen als einen Teil der Evolution. Da evolutionäre Prozesse stets mehr oder minder gelungene Kompromisslösungen für Probleme und Konflikte finden, sind auch wir als Homo sapiens in vielerlei Hinsicht eine Kompromissformel. Wir sind mittelgroß und mittelkräftig, wir sind mittelschnell und mittelintelligent. Auch für uns Menschen ist die Natur um uns herum kein Paradies. Hitze und Kälte ertragen wir nur in Maßen. Selbst als Allesesser ist das natürlich vorhandene Nahrungsangebot für uns begrenzt. Für die Vorteile der sexuellen Vermehrung bezahlen wir den Preis der Einseitigkeit. Die Frauen müssen die Last der Schwangerschaft und der Ernährung der Babys tragen. Männer sind hormonell bedingt dem Zwang zur Konkurrenz mit anderen Männern unbewusst ausgeliefert. Es fehlt ihnen auch die tiefe Emotionalität einer Verbindung zum eigenen Kind, welche Schwangerschaft und Geburt den Frauen von Natur aus ermöglichen. Die sexuelle Fortpflanzung bedingt zahlreiche Interessensgegensätze zwischen Männern und Frauen, zwischen Eltern und Kindern und Männern und Frauen untereinander.
Wegen solcher Herausforderungen für den Selbst- und Arterhalt hat es im Grunde kein Mensch immer leicht in seinem Leben. Selbst zu leben und neues menschliches Leben zu schaffen und zu erhalten, verlangt jedem Einzelnen viel ab. Es kann ihn an die Grenzen seiner Möglichkeiten bringen. Das wäre dann eigentlich schon genug Lebenssinn und Lebensaufgabe. Beim näheren Hinsehen kann man allerdings feststellen, dass sich die Menschen das Leben gegenseitig noch viel schwerer machen, als es für den reinen Art- und Selbsterhalt notwendig wäre. Menschen setzen sich selbst unter enormen Druck. Sie stressen andere zuweilen über alle Maßen. Dabei ist überhaupt nicht ersichtlich, was sie davon mehr an Lebensglück und Daseinsfreude haben.
Ich kann in einer technologisch immer mehr vernetzten Welt mittels Handy und Internet in Sekundenschnelle mit Freunden, Kollegen und Geschäftspartnern in Singapur, Brasilien, Los Angeles oder Moskau in Kontakt treten. Wenn ich etwas wissen will, braucht es nur ein paar Klicks auf meinem Computer, und schon habe ich Fakten und Meinungen dazu. In meinem Wohnort München habe ich ein großes Netzwerk persönlicher Beziehungen, ein enormes Angebot an Bildungseinrichtungen, gute Arbeitsmöglichkeiten, schöne kulturelle Veranstaltungen und kulinarische Köstlichkeiten in Hülle und Fülle.
Dennoch fällt es mir nicht leicht, das alles vorbehaltlos zu genießen. Z. B. Fleisch zu essen, fällt mir schwer, wenn ich an die Bedingungen bei der Hühner-, Schweine- oder Kälberzucht denke (Safran Foer 2010). Es macht mir auch kein gutes Gefühl zu wissen, wie reich ich im Vergleich zu den vielen Millionen bin, die kein Dach über dem Kopf haben, von der Hand in den Mund leben müssen oder im Kriegselend und in Flüchtlingscamps nur dahinvegetieren.2 Wenn ich die Medien nutze, wenn ich wahrnehme, was tagtäglich an Wahnsinn in dieser Welt geschieht, für welche destruktiven Ziele Menschen ihre Lebenszeit, ihre Lebensenergie, ihre Intelligenz, all das viele Geld und die Schätze der Natur verwenden, wird mir übel, und ich werde zuweilen auch ärgerlich. Ich bekomme Angst vor so viel menschlicher Dummheit, Sturheit, Verlogenheit und Gewaltgeilheit, die leider nicht nur einige wenige Menschen zeigen.
Würde auch nur ein Bruchteil der derzeitigen Aufwendungen für diktatorische Herrscher, Militärs, Geheimdienste, Waffen und sinnlose Wirtschaftskriege für Bildung, Gesundheit und regenerative Energieerzeugung ausgegeben, könnte der ganze Erdball bald eine Zone des Friedens und des Wohlstands für die meisten Menschen sein.
Materieller Wohlstand kann uns Menschen aber auch gut darüber hinwegsehen lassen, wie elend es sich in unserem Inneren anfühlen kann. Beruflicher Erfolg, eine eigene Wohnung, eine eigene Familie täuschen oft darüber hinweg, dass ein Mensch zutiefst unglücklich ist und sich einsam und verlassen auf dieser Welt fühlt. Die Bilder von den Armen und Geknechteten dieser Welt, denen es materiell wesentlich schlechter geht als einem selbst, kann vermeintlichen Wohlstandsbürgern zusätzlich den Blick auf ihre innere Not verstellen. Eigener materieller Reichtum verursacht dann Schuldgefühle und provoziert den Antrieb, helfen zu müssen. Die einen greifen ins Portemonnaie, während andere das Helfen zu ihrem Beruf erheben. Meist werden dadurch jedoch weder die Ursachen der äußeren Not armer Menschen behoben, noch wird damit das eigene innere Leid ernst genommen.
Umgekehrt erzeugen die Bilder von äußerem Wohlstand bei den Armen der Welt die Illusion, in den reichen Ländern wäre das Paradies auf Erden zu finden. Die Bilder von materiellem Überfluss ziehen sie magisch an. Unter anderem deshalb machen sie sich sogar unter Todesgefahren auf den Weg zu diesen Sehnsuchtsorten. Hier angekommen, müssen sie dann feststellen, wie viel Misstrauen, Feindseligkeit und menschliche Kälte ihnen oft entgegenschlägt. Dass sie nur willkommen sind, wenn sie sich irgendwie, z. B. als billige Arbeitskräfte, nützlich machen.
Auch ich wollte meine inneren, psychischen Probleme 50 Jahre lang überhaupt nicht wahrnehmen. Ich hatte stattdessen lieber den Blick auf andere Menschen und die gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet. Sich mit sich selbst zu beschäftigen, galt in den linken Kreisen, in denen ich mich in meiner Studentenzeit bewegte, als selbstverliebte »Nabelschau«, für die keine Zeit war im Kampf für eine gerechtere Welt gegen Kapitalismus, Imperialismus und falsches Bewusstsein – der anderen. Wie traumatisiert und beziehungsunfähig wir Aufklärer selbst waren, durfte nicht thematisiert werden.
Menschheit am Abgrund
Auf zahlreichen Schlachtfeldern herrschen derzeit brutale Kriege. In der Ökonomie tobt ein gnadenloser Wettbewerb. In vielen Ehen und Familien leben Menschen wie in einem Kriegszustand. Selbst im Internet und in den sozialen Medien, wo wir eigentlich schnell und viel voneinander lernen könnten, wütet an vielen Stellen eine Schlacht der Worte. Er werden Hass-Botschaften am laufenden Band versendet.3 Es werden die brutalsten Gewaltvideos verbreitet. Es findet ein verdeckter Kampf mit Viren und Spähsoftware statt, um in die Privatsphäre anderer Menschen einzudringen, ihre Computer zu hacken oder zu zerstören. Auch auf diesem Weg werden Existenzen vernichtet. Zahllose Menschen werden so psychisch terrorisiert.
Wer denkt, Hass, Neid und Unterdrückung seien unabänderliches menschliches Schicksal, naturgesetzlich festgelegt oder gar gottgewollt, für den gibt es keine Hoffnung auf Besserung. Er/sie kann nur darauf warten, bis sich diese Gattung Mensch eines Tages selbst auslöscht oder von den Naturgewalten, die sie in ihrer Suche nach militärischen Erfolgen und kurzfristigem Profit provoziert, wieder von diesem Globus weggefegt wird. Die Klimakatastrophe ist im vollen Gange und die Mittel für die Selbstausrottung sind längst vorhanden. Ca. 16 300 Atomsprengköpfe sind in der Lage, die gesamte Erde binnen Minuten in eine unbelebte Wüste zu verwandeln und schlagartig den Tod allen komplexeren Lebens zu bewirken. Statt diese Wahnsinnswaffen zu entschärfen und zu verschrotten, werden sie von den Nationen, die Atommächte sind, derzeit sogar noch weiter »modernisiert« – was für ein zynischer Begriff!
Warum also knechten sich Menschen gegenseitig, wenn auch gute Kooperationen möglich wären? Warum tun sie sich gegenseitig all diese...