Das Elternhaus
Leopold I., König der Belgier
Das Gebiet des heutigen Belgien blickt auf eine lange, wechselvolle Geschichte zurück. In der Römerzeit war es eine Provinz namens Gallia Belgica, später gehörte es teils zu Frankreich, teils zum Heiligen Römischen Reich, schließlich zum Herzogtum Burgund. Durch die Heirat des späteren Kaisers Maximilian I. mit Maria von Burgund wurden die blühenden Provinzen zu einem wertvollen Teil des habsburgischen Besitzes.
»Kriege mögen die anderen führen, du, glückliches Österreich, heirate!« wurde zur Devise, nach der die Habsburger handelten. So verheiratete Kaiser Maximilian seinen einzigen Sohn Philipp mit Johanna, der Tochter des spanischen Königspaares Ferdinand von Aragonien und Isabella von Kastilien. Etliche Todesfälle sollten sich zudem als hilfreich erweisen. Johanna, die als »die Wahnsinnige« in die Geschichte einging, wurde schließlich zur Alleinerbin Spaniens. Inzwischen zählten auch die Entdeckungen von Kolumbus und die Eroberungen der anderen Konquistadoren dazu, die zum Ruhm ihres Vaterlandes, vor allem aber zum eigenen Nutzen, in die Welt hinauszogen. Johannas ältester Sohn, der spätere deutsche Kaiser Karl V., wurde also Herrscher über ein Reich, in dem, wie es treffend hieß, »die Sonne nicht unterging«. Nach seiner Abdankung im Jahre 1556 erhielt Karls Bruder Ferdinand (Kaiser Ferdinand I.) die österreichischen und sein Sohn Philipp (König Philipp II.) alle spanischen Besitzungen, zu denen auch die Niederlande und das spätere Belgien zählten. Letzteres verblieb bei Spanien, auch als die nördlichen Niederlande 1648 ihre Unabhängigkeit erlangten.
Die südlichen Niederlande, die eine Zeitlang wieder österreichisch waren, wurden durch den Wiener Kongreß 1815 zwar den nördlichen Niederlanden zugeschlagen, wurden aber im Jahre 1830 ebenfalls unabhängig. Somit war der Staat Belgien entstanden, dessen Grundlagen in London von den Großmächten festgelegt wurden.
Die Selbständigkeit des kleinen Landes war ein Kompromiß zwischen dem französischen Wunsch, die Vereinigung der nördlichen und südlichen Niederlande zu verhindern, und den britischen und deutschen Bemühungen, eine spätere Annexion durch Frankreich zu vereiteln.
Am 4. Juni 1831 wurde Leopold von Sachsen-Coburg-Gotha, einer Seitenlinie des nordthüringischen Adelsgeschlechts der Wettiner, zum »König der Belgier« gewählt und legte einen guten Monat später den Eid auf die sehr liberale Verfassung des Landes ab.
Was zeichnete also den im Jahre 1790 als achtes Kind von Herzog Franz von Sachsen-Coburg-Saalfeld, einem jener zahlreichen deutschen Landesfürsten, geborenen Leopold aus, daß er die Würde eines souveränen Königs erlangte?
Leopold, der zunächst in russischen Diensten stand, war aber auch am französischen Hof ein gern gesehener Gast. Dann allerdings schien er die Seiten gewechselt zu haben, denn im Jahre 1813 befand er sich beim Generalstab des russischen Gardekorps, kämpfte erfolgreich in der Schlacht bei Kulm und ritt ein Jahr später an der Spitze der russischen Gardekürassiere in Paris ein. Bald darauf finden wir ihn in England wieder, wo ihm ein märchenhafter Aufstieg gelang. 1816 heiratete er nämlich die künftige Thronerbin Prinzessin Charlotte, Tochter von König Georg IV. von England und Hannover. Als englischer Staatsbürger, der er inzwischen geworden war, verschaffte er sich mit Tüchtigkeit, Energie und Takt bald großes Ansehen, was ihm, außer seinem Landsitz Claremont bei London, auch die Würde eines Generals und Herzogs von Kendall einbrachte. Bedauerlicherweise währte seine Ehe nur kurz. Schon ein Jahr später starb Prinzessin Charlotte bei der Geburt eines toten Sohnes. Leopold hat sie ein Leben lang betrauert. »Nie habe er das Gefühl des Glücks, mit dem sein erstes kurzes Eheleben gesegnet war, wiedererlangt«,[1] sagte er noch im Alter von 72 Jahren.
Nach dem Tod seiner Frau ging Leopold auf Reisen. Als ihm im Jahre 1830 der griechische Thron angeboten wurde, schlug er ihn jedoch ebenso aus wie den eines Kaisers von Mexiko. Die Aussicht, größeren Einfluß auf die neue Thronerbin Victoria, die Nichte des Königs, nehmen zu können, war ihm anscheinend wichtiger.
Inzwischen hatte das Tauziehen um das unabhängig gewordene Belgien begonnen, das nun einen Herrscher brauchte. Eine andere Regierungsform konnte man sich damals noch nicht vorstellen. Der Wiener Kongreß hatte die Restauration, die Abkehr von allen revolutionären Ideen, gebracht und, so weit das möglich war, die Verhältnisse vor der Französischen Revolution wiederhergestellt.
Als künftigen Herrscher Belgiens zog man zuerst einen Sohn des französischen Königs Louis-Philippe in Betracht, der 1830 als »der Bürgerkönig« den Thron bestiegen hatte. Aber da legte England sein Veto ein. Ein König aus dem Hause Orléans hätte die Macht Frankreichs zu sehr gestärkt. Die nächste Wahl fiel auf Leopold von Sachsen-Coburg und Gotha, wie dessen Familie sich nun nannte. Da dies aufgrund der früheren Ehe des Prätendenten mit der britischen Thronerbin eine Stärkung des englischen Einflusses bedeutete, versuchte Frankreich diese Einwirkung auf andere Weise wettzumachen. Es betrieb eine Heirat zwischen dem Witwer Leopold und der Tochter des französischen Königs. Das »europäische Gleichgewicht« sollte schließlich gewahrt bleiben. Dieser politische Grundsatz war im 16. Jahrhundert gefaßt worden und beruhte auf dem angestrebten Gleichgewicht der fünf europäischen Großmächte. Demnach sollte kein Staat so viel Macht erlangen dürfen, daß ihm nicht alle übrigen Nationen zusammen das Gegengewicht halten könnten. Er wurde besonders zur Richtschnur der englischen Politik.
Am 21. Juli 1831 zog Leopold in Brüssel als »König der Belgier« ein. Durch Zurückhaltung in den Kämpfen der belgischen Parteien gewann er bald großen Einfluß im Land und galt als das Vorbild eines konstitutionellen Herrschers.
Marie-Louise, Prinzessin von Orléans
Nicht Liebe, sondern nur politisches Interesse verband den damals Zweiundvierzigjährigen mit der gerade zwanzigjährigen französischen Prinzessin. Aber das war in Herrscherhäusern die Regel. Prinzessinnen waren hauptsächlich eine Art Ware, von der man sich politische Vorteile erhoffte. Nach ihrer Meinung gefragt wurden sie nur selten.
Auch Prinzessin Marie-Louise wurde nicht gefragt. Doch wie die meisten ihrer Standesgenossinnen fügte sie sich dem Wunsch ihrer Eltern, als sie am 9. August 1832 mit König Leopold vermählt wurde. Glücklich wurde die Ehe nicht. Aber dieses Los teilte die junge Königin mit dem Schicksal ihrer meisten Standesgenossinnen.
In einem Brief, den sie knapp zwei Wochen nach ihrer Hochzeit an ihre Eltern richtete, äußert sie sich erstaunlich offen. »Ich liebe ihn jetzt nicht mehr als vorher. Ich fühle nichts bei seinen Zärtlichkeiten. Ich ertrage sie und lasse sie über mich ergehen, aber ich finde dabei mehr Widerwillen als Vergnügen …«[2] Dennoch bemühte sie sich wohl, ihre Pflicht zu erfüllen. Das hieß, dem König und seiner jungen Dynastie möglichst bald Kinder zu schenken.
Der erste Sohn, Louis-Philippe, starb im Alter von neun Monaten, doch am 9. April 1835 wurde der Erbe, Leopold, geboren; zwei Jahre später folgte ein zweiter Junge, der den Namen Philipp erhielt, und am 7. Juni 1840 ein Mädchen, das auf die Namen Marie-Charlotte, Amélie, Victoire, Clémentine, Léopoldine getauft wurde, ein gesundes, auffallend hübsches Kind. Dennoch war König Leopold enttäuscht. Er hätte einen weiteren Sohn vorgezogen.
Die kleine Prinzessin entwickelte sich prächtig. Auch ihr Vater konnte ihren großen, dunklen Augen und ihrer zärtlichen, lebhaften und vergnügten Art nicht lange widerstehen. Sie war ein wißbegieriges, ungewöhnlich begabtes Kind. Schon im Alter von nicht einmal drei Jahren hatte sie den Wunsch, lesen zu lernen, und mit dreizehn vertiefte sie sich in die Schriften Plutarchs! An ihrem vierten Geburtstag schrieb die Königin an ihre Mutter: »Charlotte ist, wie Sie vorausgesagt haben, der ganze Liebling ihres Vaters geworden … Heute speist sie mit uns, umgeben von ihren Geschenken und mit Rosen gekrönt.«[3]
Königin Marie-Louise, eine junge Frau voller Herzensgüte, ging auf in der Fürsorge für ihre Kinder und widmete sich mit Hingabe allen Hilfsbedürftigen. Ihre besondere Liebe galt jedoch ihrer kleinen Tochter.
Das Verhältnis zu ihrem Gemahl verbesserte sich nicht. Im Gegenteil! König Leopold war oft auf Reisen, wie seine Standesgenossen liebte er die Jagd, und mit der ehelichen Treue nahm er es nicht sehr genau, auch wenn er dabei um größtmögliche Diskretion bemüht war. Bis zu dem Tag, an dem Arcadie Claret de Viescourt, eine üppige Schönheit, ihn in ihren Bann zog. Leopold verheiratete sie mit einem Angehörigen seines Hofstaats, der aber bald nach Deutschland abgeschoben wurde. Die nunmehrige Madame Meyer von Eppinghoven hatte jedoch nicht die Absicht, zurückgezogen in einer verschwiegenen Villa einzig der Liebe zu leben. Sie wollte ihre Macht demonstrieren – in einem vornehmen Stadthaus und in einer eleganten Karosse mit Lakaien und Vorreitern. Stolz zeigte sie die beiden Söhne, die sie dem König geboren hatte. Das Volk war empört und bewarf sogar ihr Haus mit Steinen. Es liebte seine »gute, kleine Königin«, der eine solche Schmach angetan wurde. Leopold ließ sich jedoch nicht beirren.
Auch wenn Marie-Louise keine große Liebe für ihren Gatten empfand, so litt sie doch unter der offen zur Schau getragenen Taktlosigkeit. »Was könnte ich auf Erden mehr verlangen, als Ihre Freundin zu sein«, schrieb sie Ende 1849 dem König. »Ich gebe mir an allem, was mich bekümmert, selbst die Schuld. Wenn ich nicht mehr jung bin, wenn es mir nicht geglückt ist,...