9. Einsame Wölfe und islamistischer Terrorismus
Der erste erfolgreiche islamistische Anschlag in Deutschland im Frühjahr 2011 ging von einem Einzeltäter aus. Aufgehetzt von einem Internetvideo, das angeblich die Vergewaltigung von muslimischen Frauen durch US-Soldaten zeigte, radikalisierte sich der junge Kosovare Arid Uka innerhalb von wenigen Tagen und beschaffte sich auf dem Schwarzmarkt eine Waffe. Wenig später passte er eine Gruppe von US-Soldaten auf dem Frankfurter Flughafen ab, fragte einen der GIs nach einer Zigarette und zückte dann seine Waffe. Uka erschoss zwei Soldaten, nur die Ladehemmung seiner Waffe verhinderte Schlimmeres. Das Gericht verurteilte ihn zu lebenslanger Haft. Die Anklage hatte sich überzeugt gezeigt, dass Uka mit der Tat seinen persönlichen Beitrag zum Dschihad leisten wollte. Er habe sich zum »Herrn über Leben und Tod gemacht«. Uka sei ein Einzeltäter, der sich über das Internet radikalisiert habe.
Die neue Welle an Einsamen Wölfen innerhalb des Rechtsterrorismus und des islamistischen Terrorismus hat viel mit Online-Plattformen, Websites, Blogs und Chatrooms zu tun, in denen ein Extremismus regelrecht kultiviert wird. Al-Qaida startete vor einigen Jahren im Zuge eigener Schwächung einen Rekrutierungsprozess, um junge Menschen in westlichen Staaten für Selbstmordanschläge zu gewinnen.129
Rechtsextremistisch und islamistisch motivierte Terroristen haben durchaus einige Gemeinsamkeiten:
Anerkennung einer höheren Instanz (starker Führer wie Adolf Hitler oder Gott)
Gewaltanwendung gegen ethnische Minderheiten bzw. Nichtgläubige
grundsätzliche Menschenverachtung
Anspruch eines höheren Zwecks
Es gibt Anzeichen dafür, dass derzeit rechtsextremistische und islamistische Terroranschläge stark zunehmen. Das belegen globale Datenbanken. Es spricht vieles dafür, dass eine Spirale der Gewalt in Gang gesetzt ist.130 Jeder Terrorist setzt Leib und Leben ein, muss damit rechnen, erschossen zu werden, wenn er sich nicht zuvor selbst richtet. Auch ein Rechtsterrorist kann sich selbst richten. Beim islamistischen Terrorismus trägt der Selbstmord jedoch eine religiöse Signatur, die im Jenseits Erlösung verspricht. Es gibt Leitfäden, die den Terroranschlag als spirituellen Akt begreifen. Mit anderen Worten: Der Selbstmord kann nicht ohne das Attentat gedacht werden, und umgekehrt. Der Selbstmordattentäter verwandelt sich in eine Bombe auf zwei Beinen, setzt seinen Körper in einem finalen Akt ein. Seine Religion, der Islam, gilt ihm als Ewigkeitsversprechen, der Koran als Fibel für das Selbstmordattentat.131 Oft tönt zuletzt der arabische Ruf »Allahu akbar«.
Mit dem Aufkommen des internationalen islamistischen Terrorismus herrscht die Auffassung vor, dass logistische Kompetenz, akribische Vorbereitung wie transnationale Vernetzung einer Gruppe hinter Terrorattacken stecken müssen. Besonders drastisch zeigte das der 11. September 2001. Offenbar zeichnet sich seitdem aber ein grundlegender Strategiewechsel ab. Schon seit Jahren ist immer wieder davon die Rede, dass die islamistischen Terrororganisationen, erst al-Qaida und dann der sogenannte Islamische Staat, zu Akten aufrufen, die kleine Zellen oder sogar Einzelne begehen sollen. Für al-Qaida war das einst eine Art Notlösung, nachdem die USA den Druck auf die Organisation erhöhten, etwa die Trainingslager in Afghanistan und Pakistan zerstörten. Für den IS galten Einzeltäter neben den Kämpfen in Syrien und im Irak als »willkommenes ›Extra‹«.132
Der Flüchtlingszuzug nach Europa, speziell nach Deutschland, im Rahmen einer zeitweise unkontrollierten Einwanderung bot für den IS die Gelegenheit, Terroristen als Flüchtlinge einzuschleusen. Der Bundesnachrichtendienst berichtete davon, dass gezielte Verhaltensschulungen, etwa für das Asylverfahren, unternommen wurden.133 Mittlerweile sind die Gebietsverluste des IS enorm, viele Anführer tot. Gerade deshalb scheint sich das Credo weiter durchsetzen, alleine loszuschlagen.
Nach wie vor gilt: Ob Messerattacken in Zügen oder Lkw-Anschläge – der IS schreibt derzeit ein Drehbuch des Terrors in Europa. Es geht den Terroristen um die Errichtung eines grenzüberschreitenden Kalifats, aber auch darum, den Westen zu treffen. Um ihre Organisationsstärke ranken sich zahlreiche Legenden: »Weltweit können sich ihnen Einzelpersonen oder Gruppierungen anschließen, und zwar einzig durch rhetorischen Bezug auf die jeweilige Mutterorganisation und ohne operative Anleitung durch diese.«134 Der IS ist zu einem »Mitmach-Ereignis« für einige wenige fanatisierte Muslime oder Einzeltäter geworden. Ob die Attentäter letztlich Überzeugungstäter bzw. gläubige Muslime sind – all das spielt für die IS-Führung längst keine Rolle mehr. Sie ruft zu beliebigen Anschlägen auf und schreibt sich dann die Taten zu. Verbunden mit ihrer persönlichen Kränkungsideologie schulen sich die Täter selbst, etwa über Videos. Der Arm des Terrors kann bis ins Kinderzimmer reichen.
Es lässt sich also festhalten, dass grundsätzlich zwei typologische Formen des islamistischen Terrorismus existieren:
Das terroristische Netzwerk, wie es etwa im Januar und November 2015 in Paris und nur wenige Monate später, im März 2016, in Brüssel zugeschlagen hat.
Der Einzeltäter, eben der sogenannte Einsame Wolf. Diese Erscheinung ist offenbar im Moment populär, da er zur konkreten Nachahmung anstiftet.
Wie beim Rechtsterrorismus zeichnet sich eine Tendenz zum Einzeltäter ab. Und noch eine Parallele ist augenfällig: Auch beim islamistischen Einsamer-Wolf-Terrorismus brauchen die Behörden scheinbar lange, um darauf zu reagieren. Der Terroranschlag des zum Tatzeitpunkt 24-jährigen Tunesiers Anis Amri vom 19. Dezember 2016 in Berlin markiert eine »Zäsur« für den Rechtsstaat. Zwölf Menschen starben, mehr als 60 wurden zum Teil schwer verletzt. Der Täter konnte außer Landes fliehen und wurde schließlich nach einer internationalen Fahndung bei einer Routinekontrolle durch die Polizei in Mailand erschossen. Seine perfide Attacke mit einem gekaperten Lkw wurde im IS-Hochglanzmagazin Rumyiah135 detailliert beschrieben. In der Novemberausgabe 2016, also vor dem Attentat, veröffentlichte das Magazin einen mehrseitigen Artikel mit dem symptomatischen Titel: »Just Terror Tactics«. Ob Amri davon Kenntnis nahm, ist nicht bekannt. Jedenfalls liegt ein anderer Zusammenhang angesichts der terroristischen Logik nahe, der Nachahmungseffekt: Bereits im Sommer desselben Jahres, am 14. Juli 2016, lenkte ein aus Tunesien stammender Dschihadist einen Lkw auf die Prachtmeile in Nizza und tötete 86 Menschen.
Amri war das Gegenteil eines unbeschriebenen Blatts; Tausende Seiten füllen die Ermittlungsakten, auch durch die rege Sammlung von verschiedenen Behörden. Die Bilanz ist in der Tat verheerend, eines funktionierenden Rechtsstaats unwürdig: 18 Monate hielt sich Amri in Deutschland auf, beging zahlreiche Delikte vom Erschleichen von Sozialleistungen bis hin zum gewerbsmäßigen Drogenhandel, er tauchte in die Salafistenszene an verschiedenen Orten in Deutschland ein, hatte mindestens 14 Identitäten und verbrachte dennoch nur einen Tag im Gefängnis.
Momentan wird darüber debattiert, welchen Anteil der IS an der Entstehung des Einsamer-Wolf-Terrorismus hat: leere Hülle, also lediglich Label, oder als Netzwerk Impulsgeber für die Operationalisierung? Vor allem steht die Frage der Selbstradikalisierung im Raum, wie unscharf dieser Begriff auch sein mag. Durch das Internet ist es jedenfalls möglich, dass sich jemand eigenständig zum Terroristen schult. Reicht hier ein Chat oder ein IS-Video bereits aus? Unter dem Eindruck dieser schwierigen Abgrenzungen existiert eine feinere, abgestufte Täter-Typologie – mit der Forderung, Terrorismus im digitalen Zeitalter endlich besser zu verstehen136:
»Echte« Einsame Wölfe: keinerlei Kommunikation mit dschihadistischen Netzwerken (weder online noch in Person).
»Virtuelle, lose verbundene« Einsame Wölfe: Es lassen sich Verbindungen via Chats oder anderen digitalen Kanälen nachweisen. Es erfolgt jedoch keine direkte Instruktion.
»Virtuell angeleitete« Einsame Wölfe: Ein Planer, der sich etwa im Nahen und Mittleren Osten befindet, gibt konkrete Anweisungen und Befehle, hilft damit bei der »Operationalisierung« (Anschlagsziele, technische Hilfestellung) und sorgt dafür, dass sich der Attentäter durch ein Bekennervideo »verewigt«.
Praktisch ausgebildete Einsame Wölfe: durch IS oder andere Organisationen geschult (foreign fighters), etwa als Flüchtlinge nach Europa mit Auftrag eingeschleust.
Bei Amri lassen sich zahlreiche virtuelle und reale Bezugspunkte nachweisen. Er hatte über einen längeren Zeitraum regelmäßige Chat-Kontakte zu IS-Kämpfern. Ob er mit Blick auf die konkrete Tat nur virtuell verbunden oder angeleitet war, muss offen bleiben. Vor seinem Anschlag drehte er auch...