Die vier Elemente-Riesen des germanischen Mythos
Karl Weinhold
Seit etwa zwölf Jahren entwickelte sich für die germanische Mythologie ein wahrer Sammeleifer, so dass unsere Sagen und Märchen schon eine kleine Bibliothek bilden können. Indessen ist das Zusammentragen leichter als das Aufgehäufte wissenschaftlich ordnen und ausarbeiten. Der Mythologie ist es dabei gleich wie der Archäologie ergangen; mag es Antikes oder Mittelalterliches betreffen, an beiden beteiligte sich ein Dilettantismus, der seine Grenzen überschritt. So geschah es auch bei der Forschung über unsern germanischen Glauben und Gottesdienst. Ich will nur auf ein paar Auswüchse hindeuten. Ein sehr ausgebildeter ist die Verwechselung von Mythe und Allegorie, worauf ich im Einzelnen während dieser Abhandlung eingehen will. Ein zweiter ist die Vermischung des zeitlich Geschehenen. Man trennt nicht das Germanische nach älterer und jüngerer Entstehung und mengt zum Überfluss noch entschieden Christliches hinein. So lebt gewiss vieles aus unserem ältesten Brauchtum noch in heutiger Sage und Sitte unverändert weiter, ebenso sicher treiben aus dem natürlichen volkstümlichen Keime fortwährend frische Sprossen, die anders als jene beurteilt werden müssen, weil Luft und Licht ihnen andere Bedingungen gaben. Wer in dem Teufel und den Hexen und den verschiedenen gespenstischen Wesen einzig und allein gestürzte Gottheiten und heidnische Unholde sieht, wer aus diesem oder jenem kirchlichen Heiligen nur einen verkappten Wuotan oder Donar oder Zio herausschält, handelt unüberlegt. Auch nicht alle Gebräuche haben eine mythische Grundlage: der Volksgeist ward nicht zu ein und denselben Bewegungen und gleichmäßigen Handgriffen gedrillt, sondern ist frei und veränderlich. Gottesdienstliches mischte sich mit Weltlichem, Bedeutendes mit Inhaltslosem. Darin sind große Lächerlichkeiten verübt worden; man hat in Bettelversen altheidnische Hymnen erblickt und zotenhafte Gassenhauer in religiöse Symbolik umgesetzt. Phantasie allein erzeugt ebenso wenig ein Gedicht als einen Mythos.
Ich kann den vielfach verdienten J. W. Wolf von dem Vorwurfe nicht frei sprechen, dass seine Behandlungsart der mythischen Überlieferung zu solchen Übertreibungen fahren musste. In seinem Eifer wollte er, wie es Sammlern und Auslegern der eigenen Schätze oft geht, in allem Gefundenen Wertvolles aufweisen. Man stimmte ihm von vielen Seiten zu und andere Sammler ahmten ihm bereitwillig nach. Er hat gute alte Schätze zu Tage gebracht, aber auch viele unechte Stücke und wertlose Blechspäne, die wir ausstoßen müssen.
Für die deutsche Mythologie liegen übrigens derartige Übertreibungen sehr nahe, weil wir bei den sehr geringen alten Bestandteilen auf Durchsuchung spät mittelalterlicher und heutiger Trümmer verwiesen sind. Das Skandinavische ruht auf zahlreicheren Stützen, ohne jedoch dadurch vor allerlei Misshandlungen ihrer Verehrer geschützt zu sein. Mir scheint auch hier eine genauere Scheidung des Stoffes nach den Zeiten erforderlich, soll Ordnung und Licht hinein kommen. Viel zu wenig wird beachtet, dass die Menge der göttlichen Wesen nicht zugleich entstanden sein kann, dass auf verschiedenen Bildungsstufen des Volkes und in verschiedenen Stämmen an ihnen gearbeitet wurde. Gewöhnlich betrachtet man die gesamte Masse am Anfange als beendet, gleich als ob unser Germanentum ein geoffenbartes orthodoxes Religionssystem gehabt hätte. Geht man dann an die Bearbeitung, so werden Grundsatze aufgestellt, die, wenn überhaupt anwendbar, nur für die letzte Zeit des germanischen Götterglaubens gelten können. Man bedenkt dabei nicht, dass die Beweise aus einer schon jungen und teilweise christlichen Darstellung des heidnischen Systems entlehnt werden und bemüht sich keineswegs, Art und Geschichte der einzelnen Gottheiten und göttlichen Geschlechter aus ihnen selbst zu erforschen. So entstanden nicht wenige falsche Auffassungen, die sich treulich von Buch zu Buch fortpflanzten.
Die hier geäußerte Ansicht hegte ich bereits 1845, als ich an meiner Dissertation zum Doktorrat arbeitete. Ich habe sie dann in meinen Untersuchungen über Loki vor nunmehr zehn Jahren auf einen einzelnen Gott angewandt und bin jetzt nach mehrmaliger Durchforschung des ganzen Stoffes darin bestärkt. Für diesmal will ich nach diesen Grundsätzen die Riesen des germanischen Mythos darstellen, teils weil sie eine höchst wichtige Gruppe bilden, teils um meine Meinung gegen einen Einwurf Konrad Maurer´s zu verteidigen. In seinem tüchtigen Buche „Die Bekehrung des norwegischen Stammes zum Christentum“ sucht derselbe bei Darlegung der religiösen Zustände des nordischen Germanentums zu beweisen, dass der Dualismus schon in der ersten Anlage des germanischen Götterglaubens begründet liege und dass die Riesen das böse Prinzip vertreten. Ganz folgerecht erklärte sich Maurer deshalb gegen meinen Satz, dass die Riesen das älteste Geschlecht der Götter seien.
Ich finde es sehr begreiflich, dass mein geehrter Gegner, indem er sich mit den Ausgängen des Heidentums und mit der ersten christlichen Zeit so gründlich beschäftigte, zu jener Meinung gelangte, da die Riesen in dieser Periode böse und unförmig erscheinen. Indessen ist die letzte Zeit nicht das Abbild des gesamten Lebens des germanischen Heidentums. Ich hoffe durch eingehende Darlegung des gesamten Stoffes die Waagschale auf meine Seite zu ziehen. Dass ich dabei die Namen der riesischen Wesen als sehr wichtig betrachte, wird auch anderen sehr von Nutzen sein. Denn es ist an ihnen vielfach gesündigt worden.
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Wie alle natürlichen Religionen beginnt der germanische Mythos mit der Annahme eines gestalt- und teillosen Urzustandes, eines gähnenden Schlundes (ginunga gap = Akasha), worin sich der phantastische Gedanke an ein allenthaltendes Nichts ausdrückt. „Im Anfang der Zeiten war nicht Sand noch See noch kühle Wogen. Erde war weder noch Gras; nur der gähnende Schlund war“, singt Völuspa. Alles das war vorhanden und doch war nichts vorhanden, denn es bedurfte zum Leben der Scheidung. Dieselbe beginnt durch Hervortreten des positiven Lichtes und der Wärme aus der negativen Finsternis und Kälte; im Norden bildet sich Niflheim. die kalte Nebelwelt, im Süden Muspellheim, die lichte Feuerwelt. Aus der Mitte der Nebelwelt entspringt ein rauschender Ur-Quell (Hvergelmir) dem zwölf Ströme (Elivagar) entrinnen, die aber durch die Kälte vereisen und ein mächtiges Schnee- und Eislager gegen Norden aufschichten. Die Funken, welche aus Muspellheim herumflogen, erreichten dasselbe und es begann zu schmelzen. Ein lebendiges Wesen erhob sich aus dem tropfenden Wasser: Ymir, die erste Belebung der elementaren Gewalt, der Urvater der Riesen.
Die Frage liegt nahe, wie dieser Mythos in jener Zeit lautete, als die Germanen mit der hochnordischen Winterwelt noch nicht bekannt waren, die sich in Niflheim´s Vereisung abbildet. Jedenfalls bestand der Grundgedanke der Entstehung eines Urwesens aus dem Zusammenwirken der ersten deutlich heraustretenden polaren Kräfte schon lange vor der Einwanderung der Germanen in das nördliche Europa. Die Vergleichung aller Mythologien bestätigt dies, denn auch in diesen ist die geistige Materie das erste und aus deren eigener Kraft erhebt sich die zur Ordnung bringende Scheidung und mit ihr die Zeugung.
Die Sage fährt also fort: Ymir sank in Schlaf, und in fruchtbarem Schweiße wuchs ihm ein Sohn und eine Tochter unter den Armen hervor und einer seiner Füße zeugte mit dem andern einen sechsköpfigen Sohn. So ward das Geschlecht der Riesen in der Welt. Ein jüngerer Berichterstatter fügt hinzu, dieselben würden auch die Reifriesen (hrimpursar) genannt, weil Ymir aus Reif hervorging,
In Ymir sind die Geschlechter noch verbunden; deshalb muss er sich aus sich selbst fortpflanzen, wie auch andere Religionen von dem Zwittertum ihrer ältesten Gottheiten reden. Dieser Teil des Berichts ist alt; weniger gilt das von der Anknüpfung einer bedeutungslosen Schar der Riesen. Denn ursprünglich muss sich die Fortentwicklung durch bedeutende Kinder an den Urriesen unmittelbar geknüpft haben, ganz wie der griechische Mythos, um nur diesen zu vergleichen, aus Chaos (Akasha) gewaltige Urwesen hervortreten lässt. Will man zur richtigen Erkenntnis dieses Teils unserer heidnischen Vorstellungen kommen, so muss ferner die Gegenschöpfung durch Burs (Adam Kadmon) erstes Geschlecht vorläufig ganz bei Seite gestellt werden. Sie ist in einer jüngeren Zeit erzählt worden, in welcher die Empörung gegen die ältesten göttlichen Wesen durch den Glauben an die jüngeren geheiligt war und die gestürzten mit ihrer Geschichte schon im Dunkel standen. Wir müssen das noch Vorhandene nur richtig auffassen, um die Wiederherstellung glücklich auszuführen.
Ymir ist nach der Wortbedeutung der Schallende, Rauschende, also das Wesen eines tosenden Elementes, wozu bei seiner Entstehung aus dem Eise der Elivagar nur das Wasser gewählt werden kann. Das bestätigt sowohl das Vorkommen eines Meerweibes Namens Yma als sein in der Völuspa überlieferter anderer Name Brimir, Mann der Brandung, des rauschenden Meeres. Sein dritter Name ist...