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E-Book

Afghanistan. Deutschland. Ich

Meine Flucht in ein besseres Leben

AutorHassan Ali Djan, Veronica Frenzel
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783451814839
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Als Hassan Ali Djan 2005 nach Deutschland kam, war er minderjährig und Analphabet. Ein 'Wirtschaftsflüchtling' aus Afghanistan. Heute hat er den Hauptschulabschluss, eine abgeschlossene Lehre, eine eigene Wohnung und besitzt seit 2015 die deutsche Staatsbürgerschaft. Er ist in Deutschland angekommen und angenommen. Hassan Ali Djan erzählt seine eigene Geschichte, von seiner Flucht und seinen Anfängen in München. Aber vor allem von den positiven Reaktionen seines Umfelds, seit Hassan Ali Djan in Deutschland heimisch ist. Die Geschichte von einem, der sich durchgebissen hat. Eine Geschichte, so außergewöhnlich wie der Mensch, der sie erzählt.

Hassan Ali Djan, geb. 1989 in Almitu/Afghanistan, floh mit 16 Jahren über die Türkei und Griechenland nach München, wo er auch heute noch lebt. Seit 2015 besitzt der die deutsche Staatsbürgerschaft. Veronica Frenzel, geb. 1982, ist freie Journalistin. Sie lebt und arbeitet seit fünf Jahren in Spanien und schreibt u.a. für die 'Tageszeitung', die 'Berliner Zeitung' und die 'Westdeutsche Allgemeine Zeitung'.

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Leseprobe

1. „Tot bin ich also nicht“
Ankunft in Deutschland


Fühlt sich so der Tod an? In meinem Inneren spüre ich einen Eisklotz. Meine Muskeln gehorchen nicht, Hände und Füße sind taub.

Wenn ich nicht tot bin, denke ich, dann kehre ich jetzt heim. In die Berge von Zentralafghanistan, in mein Heimatdorf Almitu. Zu meiner Mutter, zu meinen jüngeren Geschwistern, den drei Schwestern und den drei Brüdern. Mehr als vier Jahre zuvor bin ich dort aufgebrochen, im Frühjahr 2001. Seitdem habe ich alles getan, um meiner Familie und mir ein besseres Leben zu verschaffen. Ich habe es weit geschafft. Aber alles ist anders, als ich es mir vorgestellt habe.

Ich liege im Ersatzreifen eines Lastwagens unter der Ladefläche, eingerollt wie ein Embryo, zwei Tage schon. Mehr als 48 Stunden habe ich mich nicht bewegt, habe nichts getrunken, nichts gegessen. Immer wieder wurde ein Kieselstein gegen meine Beine, meine Arme, meine Brust geschleudert, beim ersten Mal dachte ich, mich hätte eine Kugel getroffen. Immer wieder nahmen mir die Abgase den Atem, sekundenlang fürchtete ich, ich würde ersticken. Auch jetzt steigt ätzender Geruch von verbranntem Diesel in meine Nase, legt sich auf die Zunge, brennt in meiner Kehle.

Ich habe gelitten in meinem bisherigen Leben. Habe oft schrecklichen Hunger gehabt und wahnsinnigen Durst. Habe immer wieder mein Leben riskiert. Aber nie habe ich mich so schlecht gefühlt wie in diesem Moment.

Wenn sich Europa so anfühlt, denke ich, dann will ich hier nicht sein.

Der Lastwagen, in dessen Ersatzrad ich liege, ist gerade am Zielort angekommen, über mir wird der Laderaum ausgeräumt. Es ist ein Tag Mitte Oktober im Jahr 2005. Ich habe keine Ahnung, in welchem Land ich mich befinde. Erst am folgenden Tag werde ich erfahren, dass ich in Deutschland bin, in einem Industriegebiet im Nordwesten von München.

Meine letzte Station war der Hafen von Patras. Drei Wochen lang habe ich dort versucht, mich auf einen der Lastwagen zu schmuggeln, die nach Norden fahren. Zuvor hatte ich in Athen erfahren, dass es nur in Nordeuropa Arbeit für Einwanderer wie mich gibt. In Athen sagte man mir auch, dass ich in Patras in das Ersatzrad eines LKWs klettern müsste, um in den Norden zu gelangen. Dass die Lastwagen von dieser griechischen Hafenstadt auf Schiffen nach Italien übersetzten und dann weiterfuhren nach England, Frankreich, Deutschland, Skandinavien. Nur drei Wochen bevor ich Patras erreichte, war ich in Teheran aufgebrochen, mit dem Ziel, nach Europa zu gelangen. Vier Jahre zuvor hatte ich meine Heimat Afghanistan verlassen.

Patras war schlimmer als alle Stationen zuvor. Dort lebten Tausende Flüchtlinge im Wald, wie ich, aßen, was sie in Mülltonnen fanden, kämpften, auch gegeneinander, um in den Norden zu kommen.

Während der drei Wochen dort habe ich Afghanen getroffen, die lange Zeit in Deutschland verbracht hatten, manche Jahre. Das Land sei nicht gut zu Einwanderern, erzählten sie. Zwar hatten sie, während sie auf das Ende ihres Asylverfahrens warteten, ein Bett und genug zu essen, sie waren nicht eingesperrt. Und trotzdem fühlten sie sich wie in einem Gefängnis, entmündigt. Alles wurde ihnen abgenommen, das Einkaufen, das Waschen, das Putzen. Das Schlimmste: Während sie darauf warteten, zu erfahren, ob sie bleiben konnten oder nicht, durften sie nicht arbeiten, keine Schule besuchen, kein Deutsch lernen. Sie hatten die ganze Zeit überhaupt nichts zu tun. Und dann waren sie nach Monaten und Jahren des Wartens doch nach Griechenland abgeschoben worden. Einfach, weil Griechenland das erste europäische Land war, das sie erreicht hatten. Jetzt wollten sie nach England oder nach Skandinavien. Sie fürchteten, wieder nach Deutschland zu gelangen.

Jahrelang warten? Ohne Arbeit? Das kann ich nicht, dachte ich, als ich ihre Erzählungen hörte. Was soll denn aus meiner Familie werden? Sie brauchen mich doch!

Als ich im Ersatzreifen lag und auf den Asphalt blickte, der unter mir vorbeiraste und immer neue graue Muster formte wie das Bild in einem Kaleidoskop, betete ich, mein Lastwagen möge bloß nicht nach Deutschland fahren.

Der Lastwagen steht schon eine Weile, als ich höre, wie jemand von der Ladefläche springt. Wie sich Schritte entfernen. Erst mal bin ich alleine, denke ich und versuche, aus dem Reifen zu klettern. Es geht nicht, meine Muskeln sind immer noch wie gelähmt. Die kleine Wasserflasche, die ich an einem Brunnen in Patras aufgefüllt hatte, bevor ich mich auf den Weg zum Hafen machte, fällt auf den Betonboden. Sie ist voll. Ich habe nichts getrunken, ich wusste nicht, wann ich wieder auf die Toilette gehen könnte. Die Flasche rollt aus meinem Blickfeld, und während ich ihr nachblicke, kriecht Panik in mir hoch. Ich bin in diesem verdammten Reifen gefangen! Ich stecke fest! Auf meine Brust drückt plötzlich ein Gewicht, ich schnappe nach Luft. Versuche mich zu beruhigen, sage mir: „Du hast doch bisher alles gemeistert, irgendwie.“

Nach endlosen Minuten schaffe ich es, meinen Kopf aus dem Reifen zu winden, dann die Arme, dann die Beine. Ich falle auf Beton. Der Aufprall tut weh. Tot bin ich also nicht.

Auf einer Seite des Lastwagens stehen ein paar Männer, ich kann ihre Schuhe sehen, schlammige Stiefel. Langsam rolle ich in die andere Richtung, zu einer Mauer. Niemand soll mich so sehen, so hilflos.

Ich versuche aufzustehen, stütze mich auf meine Arme, will die Beine durchdrücken. Die Arme knicken weg, bevor ich die Beine bewegen kann. Sie fühlen sich an, als gehörten sie nicht zu mir, sind unendlich schwer. Ich bleibe auf dem Bauch liegen, minutenlang. Versuche es dann noch mal. Die Arme halten stand. Jetzt die Beine. Sie geben nach, sind weich wie Gummi. Ich setze mich auf die Knie, schaue an mir herab. Mein ganzer Körper zittert.

Als ich mich ein drittes Mal aufrichten will und wieder in die Knie gehe, spüre ich an meinem Bein einen warmen Luftstrahl. Ein Lüftungsschacht! Ich krabble hinauf auf das Gitter, aus dem die warme Luft strömt, rolle mich wieder ein, automatisch, mein Körper will zurück in diese Haltung. Nach ein paar Sekunden beginnen meine Arme unerträglich zu kribbeln, dann meine Beine. Das Gefühl kenne ich aus den Wintern in Afghanistan, wenn ich nach dem Schneeschippen meine Hände ans Feuer hielt. Reflexhaft will ich mich vom Gitter rollen, weg von dem Schmerz. Doch ich sage mir, halt aus, du musst den Eisklotz in deinem Inneren auftauen, und ich bleibe liegen, ganz still, als ob ich so das Kribbeln abschalten könnte. Als der schlimmste Schmerz vorüber ist, strecke ich langsam die Beine, die Arme, bewege Zehen und Finger. Vorsichtig hebe ich die Arme in die Höhe, sie haben jetzt wieder Normalgewicht. Ich blicke auf meine Finger, sie sind blau.

Endlich schaffe ich es aufzustehen. Nicht weit entfernt sehe ich ein Häuschen. Vielleicht kann man mir dort helfen? Meine Beine sind immer noch wackelig, als ich loslaufe. Hinter einer Scheibe erkenne ich einen Mann, er blickt mich erstaunt an, tritt heraus. Er sagt etwas, aber ich verstehe nichts. Es kommen andere Männer, auch sie sprechen zu mir, blicken mich mit großen Augen an. Ich spüre: Sie erwarten eine Antwort. Ich schüttele den Kopf, ich will, dass sie sehen, dass ich ihre Sprache nicht kenne. Doch die Männer verstehen mich nicht, sie sprechen einfach weiter zu mir. Auch ich beginne zu reden, auf Dari, Neupersisch, meiner Muttersprache. „Rufen Sie bitte die Polizei“, sage ich, „ich will zurück nach Hause, nach Afghanistan.“ Noch während ich spreche, merke ich, dass die Männer jetzt sehen, dass ich sie nicht verstehe, dass auch sie mich nicht verstehen. Sie blicken erst irritiert, dann lächeln sie freundlich, ein wenig hilflos. Ich lächle zurück, auch ich hilflos.

Ein Mann zieht mich in das Häuschen, wo es warm ist. Noch immer zittere ich. Er fragt, ob ich Tee will, er sagt tatsächlich „Chai“, so heißt Tee auf Dari, ich nicke, er gießt Tee in einen Becher, drückt ihn mir in die Hand. Dann nimmt er den Telefonhörer, und ich verstehe, dass er jetzt die Polizei ruft.

Auch wenn ich es mir gerade noch gewünscht habe, bekomme ich Angst. Ich habe keine guten Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Im Iran, wo ich vier Jahre gelebt habe, haben wir uns immer versteckt, wenn wir Männer in Uniformen gesehen haben, es passierte oft, dass sie uns Afghanen festhielten und schikanierten. Und in Griechenland haben mich Polizisten geschlagen.

Während wir auf die Polizei warten, frage ich den Mann, wo ich bin. Auf Persisch nenne ich die Namen von ein paar Ländern, die ich kenne. England? Frankreich? „Alman?“ Alman heißt auf Dari Deutschland. Er versteht mich nicht. Natürlich nicht. Ich zeige mit dem Finger auf den Boden, ziehe die Schultern hoch und blicke ihn fragend an. Er zieht die Augenbrauen nach oben, er versteht, dass ich wissen will, wo ich bin. Er zeigt ebenfalls auf den Boden, sagt: „Deutschland.“

Deutschland? Das deutsche Wort für dieses Land, in das ich nie wollte, kenne ich nicht. Ich muss in einem Land gelandet sein, von dem ich noch nie zuvor gehört habe, denke ich, naiv.

Was für ein Glück, freue ich mich. Hierher muss es bisher kaum jemand geschafft haben. Und von hier kann niemand, den ich auf meiner Reise kennengelernt habe, weggeschickt worden sein.

Angesichts dieser neuen Erkenntnis schwindet mein Wunsch, nach Almitu zurückzukehren.

Nur wenige Minuten später stehen zwei junge Männer vor dem Häuschen. Sie lächeln freundlich und sehen überhaupt nicht aus, als würden sie mich schlagen wollen. Trotzdem bleibt mein Unbehagen. Die Polizisten beachten mich zuerst...

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