Meine Religion.
„In unseres Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reineren, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,
Enträtselnd sich dem ewig Ungenannten;
Wir heißen’s: fromm sein!“2
„Frömmigkeit ist kein Zweck, sondern ein Mittel, um durch reinste Gemütsruhe zur höchsten Kultur zu gelangen.“3 „Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.“4 „Gott anerkennen, wo und wie er sich offenbart, das ist die eigentliche Seligkeit auf Erden.“5 „Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflichen zu halten.6 Die Handlungen des Universums zu messen, reichen seine Fähigkeiten nicht hin, und in das Weltall Vernunft bringen zu wollen, ist bei seinem kleinen Standpunkte ein sehr vergebliches Bestreben. Die Vernunft der Menschen und die Vernunft der Gottheit sind zwei sehr verschiedene Dinge.“
Wir dürfen nicht hoffen, das Göttliche unmittelbar zu erkennen. „Wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, im Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen.“7 Das Erwünschte glaubt man gern, und so vermeinen manche Leute Gott so gut zu kennen, als wären sie seine Minister im Weltregimente. „Die Leute traktieren Gott, als wäre das unbegreifliche, gar nicht auszudenkende höchste Wesen nicht viel mehr als ihresgleichen.8 Sie würden sonst nicht sagen: der Herr Gott, der liebe Gott, der gute Gott. Er wird ihnen, besonders den Geistlichen, die ihn täglich im Munde führen, zu einer Phrase, zu einem bloßen Namen, wobei sie sich auch gar nichts denken. Wären sie aber durchdrungen von seiner Größe, sie würden verstummen und ihn vor Verehrung nicht nennen mögen.“
Und was für schlechte Geschichten hängen diese kleinen Geister der Gottheit an! „Nichts gotteslästerlicheres als die alte Dogmatik, die einen zornigen, wütenden, ungerechten, parteiischen Gott vorspiegelt!“9
Ich kann auch an keinen Gott glauben, der außerhalb der Welt erhaben thronte.
„Was wär' ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in sich, sich in Natur zu hegen.
So daß, was in ihm lebt und webt und ist,
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt.“10
Suchen nach dem Göttlichen.
Ich bin gewohnt, die Welt als Naturforscher anzusehen, und als solcher suche ich Gott. Denn die bloße Naturbeschreibung und Benennung der Dinge soll uns nicht genügen. Sie sagt: das ist Tonerde und das ist Kieselerde. „Was helfen mir denn die Teile, was ihre Namen?11 Wissen will ich, was jeden einzelnen Teil im Universum so hoch begeistigt, daß er den andern aufsucht, ihm entweder dient oder ihn beherrscht, je nachdem das allen ein- und aufgeborene Vernunftgesetz in einem höheren oder geringeren Grade den zu dieser, jenen zu jener Rolle befähigt.“ „Was ist auch im Grunde aller Verkehr mit der Natur, wenn wir auf analytischem Wege bloß mit einzelnen materiellen Teilen uns zu schaffen machen und wir nicht das Atmen des Geistes empfinden, der jedem Teile die Richtung vorschreibt und jede Ausschweifung durch ein inwohnendes Gesetz bändigt oder sanktioniert?“12 „Hinter jedem Wesen steckt die höhere Idee. Das ist mein Gott, das ist der Gott, den wir alle ewig suchen und zu erschauen hoffen, aber wir können ihn nur ahnen, nicht schauen.“13 „Ich frage nicht, ob dieses höchste Wesen Verstand oder Vernunft habe, sondern ich fühle, es ist der Verstand, es ist die Vernunft selber. Alle Geschöpfe sind davon durchdrungen, und der Mensch hat davon so viel, daß er Teile des Höchsten erkennen mag.“14
Wir müssen suchen, wo er sich uns offenbaren will. Ich erwarte nicht, daß er Wunder tut, daß er seine eigenen Gesetze aufhebt. „Gott selbst kann keinen Löwen mit Hörnern schaffen, weil er die von ihm selbst für notwendig erkannten Naturgesetze nicht umstoßen kann.“15 Dagegen ist alles Große, Edle, Schaffende ein Ausdruck des Göttlichen; bei jeder Entwicklung müssen wir die Hand Gottes suchen. „Denn die Gottheit ist wirksam im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten.16 Deshalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Göttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu tun, der Verstand mit dem Gewordenen, Erstarrten, daß er es nutze.“ Deshalb habe ich bei meiner Beschäftigung mit der Natur am liebsten auf ihre Verwandlungen und Entwicklungen geachtet. „Die Natur spielt immerfort mit der Mannigfaltigkeit der einzelnen Erscheinungen,17 aber es kommt darauf an, sich dadurch nicht irren zu lassen, die allgemeine stetige Regel zu abstrahieren, nach der sie handelt. Ihr andern habt es gut! ihr geht in den Garten, in den Wald, beschaut harmlos Blumen und Bäume, während ich überall an die Metamorphosenlehre erinnert werde.“ Aber hier, in den beständigen Veränderungen, glaube ich den großen Geist am Werke zu sehen, und deshalb habe ich ihn im ,Faust‘ zu seinen getreuen Engeln sagen lassen:
„Das Werdende, das ewig wirkt und lebt,
Umfass' euch mit der Liebe holden Schranken,
Und was in schwankender Erscheinung schwebt,
Befestiget mit dauernden Gedanken!“18
Das Hohe als göttliche Offenbarung.
Ebenso sollen wir auf das Hohe und Erhabene achten, wenn wir Gott suchen. „Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, Christus anbetende Ehrfurcht zu erweisen, so sage ich: durchaus! Ich beuge mich vor ihm als der göttlichen Offenbarung des höchsten Prinzips der Sittlichkeit. Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, die Sonne zu verehren, so sage ich abermals: durchaus!19 Denn sie ist gleichfalls eine Offenbarung des Höchsten, und zwar die mächtigste, die uns Erdenkindern wahrzunehmen vergönnt ist. Ich anbete in ihr das Licht und die zeugende Kraft Gottes, wodurch allein wir leben, weben und sind.“
Da ich eben von Christus sprach: Gott hat sich nicht bloß in ihm und einigen großen Juden offenbart; wir finden ihn auch wirksam in Chinesen, Indiern, Persern und Griechen, und ebenso in unserer heutigen Welt. „Wenn man die Leute reden hört, so sollte man fast glauben, sie seien der Meinung, Gott habe sich seit jener alten Zeit ganz in die Stille zurückgezogen, und der Mensch wäre jetzt auf eigene Füße gestellt und müsse sehen, wie er ohne Gott und sein tägliches unsichtbares Anhauchen zurechtkomme.20 In religiösen und moralischen Dingen gibt man noch allenfalls eine göttliche Einwirkung zu, allein in Dingen der Wissenschaft und Künste glaubt man, es sei lauter Irdisches und nichts weiter als ein Produkt rein menschlicher Kräfte. Versuche es aber doch nur einer und bringe mit menschlichem Wollen und menschlichen Kräften etwas hervor, das den Schöpfungen, die den Namen Mozart, Rafael oder Shakespeare tragen, sich an die Seite setzen lasse. Ich weiß recht wohl, daß diese drei Edeln keineswegs die Einzigen sind, und daß in allen Gebieten der Kunst eine Unzahl trefflicher Geister gewirkt hat, die vollkommen so Gutes hervorgebracht haben wie jene Genannten. Allein, waren sie so groß als jene, so überragten sie die gewöhnliche Menschennatur in ebendem Verhältnis und waren ebenso gottbegabt als jene.
Gott hat sich nach den bekannten imaginierten sechs Schöpfungstagen keineswegs zur Ruhe begeben, vielmehr ist er noch fortwährend wirksam wie am ersten. Diese plumpe Welt aus einfachen Elementen zusammenzusetzen und sie jahraus jahrein in den Strahlen der Sonne rollen zu lassen, hätte ihm sicher wenig Spaß gemacht, wenn er nicht den Plan gehabt hätte, sich auf dieser materiellen Unterlage eine Pflanzschule für eine Welt von Geistern zu gründen. So ist er nun fortwährend in höheren Naturen wirksam, um die geringeren heranzuziehen.“
Genie und Liebe als Ausstrahlungen Gottes.
Überall, wo wir das Geniale wahrnehmen, haben wir eine göttliche Offenbarung. „Jede Produktivität höchster Art, jedes bedeutende Aperȩu, jede Erfindung, jeder große Gedanke, der Früchte bringt und Folge hat, steht in niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben.21 Dergleichen hat der Mensch als unverhoffte Geschenke von oben, als reine Kinder Gottes zu betrachten, die er mit freudigem Dank zu empfangen und zu verehren hat. In solchen Fällen ist der Mensch oftmals als ein Werkzeug einer höheren Weltregierung zu betrachten, als ein würdig befundenes Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses. Ich sage dies, indem ich erwäge, wie oft ein einziger Gedanke ganzen Jahrhunderten eine andere Gestalt gab, und wie einzelne Menschen durch das, was von ihnen ausging, ihrem Zeitalter ein Gepräge aufdrückten, das noch in nachfolgenden Geschlechtern...