Phänomenologie der Essstörung II: Das essgestörte Individuum
6. Der Suppenkasper: Hilfe, mein Kind isst nicht, was nun?
Am liebsten Spaghetti ohne Sauce, Pommes frites, Pizza oder Süßigkeiten. Auf keinen Fall Gemüse oder Salat, nur ja nichts Grünes. Vielleicht mal Erdbeeren oder Himbeeren, aber weder Apfel noch Birne. Wer kennt nicht ein Kind in seiner Umgebung, auf das diese Beschreibung zutrifft. Viele Eltern verzweifeln an den Essgewohnheiten ihrer Kinder. Sie versuchen alles, um die Kinder zu gesundem Essen zu bewegen. Weder Strenge noch Bestechung nützt wirklich. Mütter geraten in Sorge, ob ihr Kind überhaupt genug gesunde Nährstoffe zu sich nimmt, wenn es so unausgewogen isst. Bei Tisch wenden sie alle möglichen Tricks an, um ihren Sprösslingen das gesunde Essen unterzujubeln. Diese verweigern sich und essen weiterhin nur, was ihnen passt. Der Esstisch wird zum Stresstisch.
Bei diesem Verhalten von Kindern handelt es sich in aller Regel noch nicht um eine Essstörung. Es sind meist eingespielte Verhaltensmuster innerhalb der Familie, die sich gegenseitig verstärken. Diese Verhaltensauffälligkeiten sind bei Jungen und Mädchen gleich häufig, im Gegensatz zu den klassischen Essstörungen, die bei Mädchen und Frauen viel öfter vorkommen. Kinder mit stark wählerischem Essverhalten sind meist recht dünn, aber nicht wirklich untergewichtig und entwickeln sich in Größe und Gewicht entlang ihrer Alterskurve. Solange die Kinder entsprechend dieser Kurve zunehmen, gilt Entwarnung. Nur wenn sie an Gewicht abnehmen oder sich nicht altersentsprechend weiterentwickeln, muss eine körperliche Erkrankung für das Untergewicht ausgeschlossen werden. Der Kinderarzt oder die Kinderärztin sollte in diesem Fällen eine Abklärung vornehmen.
Der vierjährige Florian fährt mit seinem Spielzeugauto um den Teller herum. Der Mund ist verschlossen. Die Mutter versucht ihm noch einen Löffel Reis in den Mund zu schieben, er dreht das Gesicht zur Seite und ruft laut und deutlich «Nein». Sie wartet ein wenig, bis er den Mund wieder öffnet und widerwillig noch einen Löffel zu sich nimmt. Der Teller ist noch so gut wie voll, die anderen Familienmitglieder sind schon fertig mit der Mahlzeit. Schließlich reißt ihr der Geduldsfaden und sie droht: «Wenn du nicht aufisst, dann gehen wir nachher nicht auf den Spielplatz.» Sofort bereut sie die Äußerung, weil sie schon weiß, dass sie sich damit bei dem schönen Wetter nur selbst bestrafen würde. Die sechsjährige Lara rutscht auf dem Stuhl herum: «Kann ich aufstehen?» Der Vater nickt und Lara rennt los, sofort springt auch Florian von seinem Stuhl. «Bleib hier, du hast noch nicht fertig gegessen», sagt die Mutter streng und zieht ihn an den Tisch zurück. Nach weiteren 15 Minuten hat Florian drei weitere Löffel gegessen und darf gehen. Am Nachmittag auf dem Spielplatz hat er Hunger. Er sieht, wie die anderen Kinder ein Eis bekommen, und erbettelt sich auch eines. Florians Mutter fühlt sich schlecht, weil sie sich über ihre eigene Inkonsequenz ärgert. Wieder hat sie ihm eine Süßigkeit erlaubt, obwohl er nicht richtig zu Mittag gegessen hat.
Kinder wie Florian gibt es viele. Bis zu 20 % der Kinder sind sogenannte «selektive Esser» (Englisch: Picky Eaters), die zu einer eingeschränkten Auswahl von Nahrungsmitteln tendieren. Nur in den seltensten Fällen kommt es zu Mangelerscheinungen, meist entwickeln sich diese Kinder sehr gut und die Auffälligkeit des Essverhaltens verliert sich in der Pubertät. Einigen Familien hilft bereits diese Information. Die Eltern werden in diesen Fällen vom Kinderarzt bzw. der Kinderärztin beruhigt, dass das Kind sich normal entwickelt. Viele Familien, wie die von Florian, sind aber bereits so verstrickt in den Essenskampf, dass es weitere Maßnahmen braucht. Was sollen Florians Eltern tun? Wie können sie ihren Sohn zu einem normalen Essverhalten anleiten und die Situation am Familientisch wieder entschärfen?
Als Allererstes müssen sie sich von dem Gedanken verabschieden, dass sie ihren Sohn über Zwang oder Drohungen zum Essen bringen werden. Vielmehr ist es wichtig, dass für Florian das Essen zu einer selbständig regulierten Fähigkeit werden kann. Der wichtigste Grundsatz lautet:
Die Eltern bestimmen, welche Nahrungsmittel angeboten werden, und das Kind bestimmt, was es davon isst.
In dem ausgezeichneten Buch «Jedes Kind kann richtig Essen» von Annette Kast-Zahn und Hartmut Morgenroth wird ausführlich beschrieben, wie dieser Grundsatz funktionieren kann.[34] Eltern benötigen zunächst die Sicherheit, dass sie nichts falsch machen können, solange sie dem Kind genügend vielfältige und eine ausreichende Menge an Nahrungsmitteln zur Verfügung stellen. Kinder haben die natürliche Fähigkeit, sich aus einem Angebot verschiedener Nahrungsmittel ausreichend gesund und mit genügender Kalorienzahl zu ernähren. Als Ausnahme von diesem Prinzip ist die angeborene Vorliebe des Menschen für süße und fettige Nahrungsmittel anzusehen, die nicht bei jedem gleich ausgeprägt ist. Daher muss die Auswahl der Nahrung weitgehend durch die Eltern bestimmt werden, bis die Kinder alt genug sind, um für ihre Ernährung selbst verantwortlich zu sein. Süße und fetthaltige Nahrungsmittel sollen nicht gemieden, aber nur in beschränkter Menge angeboten werden. Bis zum Jugendalter hat sich dann in aller Regel der Geschmack bereits vielfältig genug ausgebildet. Die jungen Menschen haben durch das jahrelange Vorbild einer vielfältigen gesunden Küche in der Familie die Fähigkeit entwickelt, sich selbst ausgewogen zu ernähren.
Wie also soll die einfach klingende Regel im Alltag umgesetzt werden? Die Eltern sollten vielfältig kochen und das Essen auf den Tisch stellen. Florian kann entscheiden, wie viel er davon essen möchte. Wenn er das Essen nicht mag und nur sehr wenig davon isst, dann lassen die Eltern das zu. Sie können Brot auf den Tisch stellen, damit er sich satt essen kann. Wenn die Essenszeit herum ist, muss Florian bis zur nächsten Mahlzeit warten. Die Mutter sollte keine Drohungen im Zusammenhang mit dem Essen aussprechen und das Eis auf dem Spielplatz nicht vom Essen am Mittagstisch abhängig machen. Wenn es ein Eis für die Schwester gibt, dann auch für Florian, aber das muss nicht jeden Tag sein.
Jocelyn schiebt das Essen auf dem Teller hin und her. Die Nudeln hat sie fast alle gegessen, jedoch keinen Bissen vom Gemüse und Fleisch. Der Vater droht: «Wenn du das Gemüse nicht isst, bekommst du keinen Nachtisch.» Jocelyn liebt Vanillepudding mit Beeren über alles. Sie würgt die Bohnen schnell hinunter, um sich auf den geliebten Pudding zu stürzen, von dem sie nicht genug bekommen kann. Die Drohung hat gewirkt. An anderen Tagen lässt sie die Bohnen weiterhin liegen.
Einen Nachtisch muss es nicht jeden Tag geben. Wenn es aber einen gibt, dann sollten Eltern diesen auf keinen Fall zur «Erpressung» verwenden, damit das Kind vorher mehr von den weniger geliebten sogenannten «gesunden» Nahrungsmittel zu sich nimmt. Studien zeigen, dass durch solche Verknüpfungen die Vorliebe der Kinder für Süßigkeiten steigt und die Abwehr gegen die ungeliebten Speisen noch verstärkt wird. Der Mechanismus funktioniert so: Das Süße, der Nachtisch, ist die Belohnung. Das positive Gefühl, das damit verbunden ist, wird verstärkt. Auch die Eltern scheinen den Nachtisch positiver zu bewerten, da sie ihn ja als Belohnung einsetzen. Das Gemüse oder der Salat ist die Tortur, die Strafe, der unangenehme Teil, mit dem man sich die Belohnung verdienen kann. Das negative Gefühl dafür wird also verstärkt. Das Kind erhält den Eindruck, dass auch die Eltern das Gemüse als etwas Negatives ansehen, mit dem man sich etwas Besseres als Belohnung verdienen kann. Die Eltern erreichen also mit dieser «Erpressung» trotz kurzfristigem Erfolg das Gegenteil: Das Kind mag das Gemüse und den Salat noch weniger und die Lust auf Süßes steigt.
Eltern sollen ihren jungen Kindern nicht zu viel Verantwortung dafür übergeben, was gegessen wird. Einige Mütter oder Väter fragen viel zu viel nach: «Was soll ich heute für dich kochen?» Das Kind ist überfordert und beginnt, das Essen selektiv auszuwählen. Wenn die ganze Familie daran gewöhnt ist, dass...