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E-Book

Mensch und Gesellschaft im Handlungsraum der Sozialen Arbeit

Ein Klärungsversuch

AutorThomas Schumacher
VerlagBeltz Juventa
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl280 Seiten
ISBN9783779951063
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Zur Sozialen Arbeit gibt es unterschiedliche Verständnisweisen. Das hat zum Teil historische Gründe; hauptsächlich aber geht das Verständnis mit der Vielfalt und der Gewichtung und Einordnung der Aufgaben, die mit Sozialer Arbeit verbunden werden, in die Breite. Bei aller Verschiedenheit der Ansatzpunkte ist dennoch erkennbar das Anliegen im Blick, Soziale Arbeit auf einen klaren Handlungsanspruch und auf eine klare Handlungskompetenz zu beziehen. Unschärfe dort zu beseitigen heißt auch, Zweck und Ziel beruflicher Praxis einheitlich aufzufassen. Das ist die Idee. Umgesetzt wird sie durch eine Analyse der bedingenden Faktoren, die deutlich macht, welchen Grundbezug zum Menschen der Sozialarbeitsberuf realisiert.

Thomas Schumacher, Dr. phil., Dipl.-Sozialpäd. (FH), ist Professor für Philosophie in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München.

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Leseprobe

1Vielfalt im Sozialarbeitsverständnis


1.1Das fehlende Grundverständnis


Die Wirklichkeit der Sozialen Arbeit liegt in der Vielfalt. Sie zeigt sich in breit gefächerter Zuständigkeit, vielgestaltiger Erwartung, komplexem Können und zuletzt immer in dem Anspruch, auf individuelle Lebensumstände eingehen zu können. Zur Vielfalt der Zusammenhänge kommen unterschiedliche Aktionsebenen: in der Verwaltung, nah am Menschen, in der Forschung, in der Lehre, in Planung und Steuerung, in unternehmerischer Verantwortung. Das im Ansatz unübersichtliche Bild ist vertraut. Für einen beruflichen Kontext stellt Vielschichtigkeit erst einmal auch nichts Ungewöhnliches dar. Im Fall der Sozialen Arbeit aber geht es nicht um Auffächerung zu einem geklärten Grundverständnis, sondern um Erscheinungsformen, die zu einem Grundverständnis erst noch zusammenzuführen sind.

Der Weg zu einer Basisbestimmung ist in der Sozialen Arbeit noch nicht zu Ende gegangen. Es gibt gute Ansätze, die Vielfalt zu sortieren und zu rahmen, aber auch Zweifel, ob überhaupt von einem Grundzusammenhang auszugehen ist. So stellt etwa May (2010, S. 243) im Blick auf die Suche nach dem Gegenstand Sozialer Arbeit die Frage, ob der denn „ein Gleicher ist oder ob Soziale Arbeit als Wissenschaft einen anderen Gegenstand hat als Soziale Arbeit als Praxis“. Wenn der Grundbezug offen ist, führt vielfältige Wirklichkeit zu Varianten in der Gesamtsicht. So erklärt sich, dass Soziale Arbeit unterschiedlich charakterisiert und pointiert wird.

Das Arrangement mit dieser offenen Lage sieht so aus, dass die Begriffsarbeit weitergeht und in der Spannbreite der Akzente und Perspektiven das Verbindende gesucht wird. Die ordnenden Ansätze, die es gibt (u. a. Böhnisch/Schröer 2013; Deller/Brake 2014; Erath/Balkow 2016; Borrmann/u. a. 2016), zeigen, wie sich Soziale Arbeit in einem Rahmen denken lässt. Das schließt Vielfalt ein, Beliebigkeit aber aus. Brüchig zeigt sich der Rahmen dort, wo Vielfalt zum Indiz für nicht auflösbare Ambivalenz genommen wird. Kleves Diktum (2003, S. 122) von der „Identität der Identitätslosigkeit“ Sozialer Arbeit markiert das Unfertige, freilich ohne ein Bestreben, nach Leitideen oder Programmatik zu suchen. Genau solches Bestreben braucht es allerdings, wenn in sozialarbeiterischer Aktivität ein Plan und ein Anspruch, letztlich die Haltepunkte für ein auf Zukunft gerichtetes Berufshandeln erkannt werden sollen.

Für das Vielfältige, das als Soziale Arbeit begegnet, gibt es also ein offenes und vieldeutiges Verständnis und dazu Stimmen, die das so belassen wollen, aber eben auch Ansätze, Vielfalt von einem Rahmen her zu begreifen. Ergebnisse müssen als vorläufig betrachtet werden, weil Versuche der Rahmung hinsichtlich der herangezogenen Kriterien selbst wieder Gegenstand der Diskussion sind. Das zeigt sich etwa dort, wo weiter zur Frage debattiert wird, ob und inwieweit Sozialarbeitsgeschehen mit Attributen einer Profession erfasst werden kann. Halten wir fest, dass ein Weg eingeschlagen ist, für die Soziale Arbeit nachzuliefern, was in anderen beruflichen Kontexten in der Regel vorhanden ist und Vielfalt zuordnen und handhaben lässt: ein geklärtes Grundverständnis. Halten wir weiter fest, dass dieses Ansinnen in dem Maß schwierig ist, wie erreichte Positionen sich gefestigt haben und in der Gesamtschau selber neue Vielfalt anzeigen. Nicht praktikabel wäre es, eine dieser Positionen für das Ganze zu nehmen. Das würde Vielfalt zerstören und sie nicht erklären.

Wir müssen also bei der Vielfalt der als Soziale Arbeit gefassten „Bereiche“ (Erath/Balkow 2016, S. 13) ansetzen und darin nach den besagten Haltepunkten suchen. Das kann nicht geschehen, ohne jener Vielfalt selbst, die als Konstitutivum Sozialer Arbeit begegnet, nachzuspüren und ihre Herkunft und ihr Werden zu erhellen. Wir können davon ausgehen, dass eine Grundposition, die Soziale Arbeit entstehen ließ und die sie bis heute trägt, historisch nicht greifbar ist, dass sich vielmehr Konturen, auch wenn anfängliche Impulse durchaus schon einschlägig waren, erst über die Zeit manifestierten und konkretisierten. Auf die Zeitspanne der beruflichen Entwicklung im Ganzen gesehen ist auf die Prozesse genau dieser Konkretisierung zu achten. Die Anhaltspunkte, die in ihnen deutlich werden, sind mutmaßliche Rahmenkriterien, aus denen sich ein Sozialarbeitsverständnis heute gewinnen lässt.

1.2Herkunft und Werden


1.2.1Armut vs. Pauperismus


Die Anfänge und die entscheidenden historischen Impulse der beruflichen Sozialen Arbeit werden unterschiedlich bestimmt. Tatsächlich spielt es eine große Rolle, welchen historischen Wurzeln die im 20. Jahrhundert zum Beruf gewordene „soziale Hilfsarbeit“6 zugeordnet wird. Mit Lambers (2010) kann man sie sich in der Tradition einer Art Kulturgeschichte des Helfens vorstellen und sich dem beruflichen Grundimpuls über eine „Anthropologie des Helfens“ (ebd., S. 36) annähern. Auch Schilling/Klus (2015) setzen ähnlich an („Hilfe, eine Urkategorie“; ebd., S. 17). Wird der Zugang auf diese Weise gewählt, geht der Blick in der Regel dann auf die Armenfürsorge des christlichen Hoch- und Spätmittelalters, für die Konzepte und auch konkretes Wissen vorliegen (vgl. Lambers 2010, S. 42 ff.; Schilling/Klus 2015, S. 20 ff.).

Es spricht manches dafür, dass die Wurzeln des Sozialarbeitsberufes ins christliche Mittelalter zurückreichen. Der Beruf ist dann allgemein auf das Merkmal Armut bezogen sowie darauf, dass die Hilflosigkeit von Betroffenen in der sozialen Gemeinschaft naturgemäß die Pflicht und den Willen zur Hilfe hervorruft. Systematisch gefasste Merkmale von daraus resultierender sozialer Hilfe werden als Formen – als Frühformen – von Sozialer Arbeit eingeordnet. Soziale Arbeit selbst wird in ihrer Entwicklung bis auf den heutigen Tag solchem Verständnis nach ganz auf das Hilfeanliegen und die in ihm gesehene menschliche Verpflichtung bezogen gehalten (vgl. Lambers 2010, S. 246).

Es gibt aber auch historische Zugänge, den Eintritt in soziales Berufshandeln ganz als Folge der Veränderungsprozesse sehen, die im 19. Jahrhundert in Europa soziale Probleme aufgeworfen und zugespitzt hatten (vgl. C. W. Müller 2013; Hering/Münchmeier 2014). Wenn entsprechend vormoderne Entwicklungen in der Armenfürsorge ignoriert werden, liegen die Gründe dafür in den Fakten und den konkreten Entscheidungen, die dazu geführt haben, dass es bis ins 19. Jahrhundert hinein keine institutionalisierte Sozialarbeit gab, mit Beginn des 20. Jahrhunderts eine solche aber Kontur annahm. Die historische Entwicklung der Berufwerdung lässt sich für die Zeit ab etwa 1850 aufzeigen und wird auch dort gesehen, wo der Beginn der Entwicklung weiter zurückdatiert wird. Die beiden Perspektiven unterscheiden sich demnach nicht grundsätzlich, sondern nur in diesem einen Punkt. Der allerdings macht deutlich, dass, wenn man so will, eine erste Vielfalt im Verständnis der Sozialen Arbeit begegnet. Die unterschiedliche Art der historischen Bewertung lässt sich gut einordnen und zu einem Gesamtbild verbinden, wenn man von der Gemeinsamkeit ausgeht und das Verschiedene erklärt.

Es gibt Einvernehmen darüber, dass sich eine prägnante Entwicklung ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts vollzog, als in Europa die Industrialisierung angelaufen und im Kielwasser der dynamischen Entwicklung ein neues, signifikantes und beunruhigendes Armutsphänomen entstanden war. Es entwickelte sich in zwei Stufen und betraf zunächst besitzlose Lohnarbeiter in der Landwirtschaft und die Lohnarbeiter in den Manufakturen, die durch veränderte Produktionsprozesse ihre Erwerbsgrundlage verloren. In die Stadtregionen gelangte es dann in Form einer verbreiteten Verarmung der aus diesen Gruppen generierten Klasse der Fabrikarbeiter. Der Anstoß kam durch die Umstellung der Produktion auf maschinelle Fertigung und auf den Dampfmaschinenantrieb. In der Kombination ließen sich ehemals handwerkliche Güter industriell nicht nur kostengünstiger, sondern auch standortunabhängig herstellen. Ganze Regionen verloren dadurch ihre...

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