Ende eines Mythos. Vorbemerkung
Je undurchdringlicher ein Mythos, desto zäher klebt er in unseren Hirnen. Er befriedigt unser Bedürfnis, Dinge, die wir nicht durchschauen, erklären zu können. In Zeiten des Umbruchs mit all seinen Unsicherheiten wuchern die Mythen. Auch in der Euphorie der friedlichen DDR-Revolution verdichteten sich Tatsachen und Gerüchte über den Geheimbund Politbüro und seine Mitglieder zu faszinierenden, aber diffusen Vorstellungen, die eine realistische Sicht verhinderten.
Eines dieser Fabelwesen aus dem Bereich der Führung spukte zu dieser Zeit auch uns im Kopf herum: Unter den «Bonzen» im Politbüro war uns Günter Schabowski aufgefallen, der sich von den anderen Politbüromitgliedern dadurch unterschied, daß er einen Anflug von intelligenter Ausstrahlung zu haben schien und nicht so weltfremd und dogmatisch wirkte wie seine eher grauen als roten Genossen im Machtzentrum des SED-Staates. Es beeindruckte uns, wie der Mann sich nach jahrelang verordneter Distanz aus der Reihe seiner Pappkameraden löste und im November 1989 auf der Treppe des roten Rathauses in Berlin mit Bürgern diskutierte, ohne sich von Pfiffen einschüchtern zu lassen.
Nachdem der Erneuerungsversuch unter Egon Krenz im Dezember gescheitert war, wollten wir wissen, was aus Schabowski geworden ist. Wir wollten einen, der mitverantwortlich gewesen ist, kennenlernen. Auf der Suche nach seiner Adresse wurden wir von vielen Seiten, aus Ost wie West, gewarnt: Schabowski, «die graue Eminenz im Hintergrund», sei einer, der mit besonderer Vorsicht zu genießen sei: von den einen als «Medienzar der Wendehälse» apostrophiert, von den anderen als «Scherge von Krenz» oder «cleverer und rücksichtsloser Machtzyniker».
Andere wiederum schilderten ihn als «Schmalspur-Gorbatschow», der als Berliner Bezirkschef, ohne repressives Gehabe, regiert habe. Doch was für ein Mensch ist Schabowski wirklich? Welche Rolle hat er im Herrschaftsgefüge gespielt? Wir wollten wissen, wie im Politbüro Politik gemacht worden war und wie sich der Umsturz vollzogen hatte. Es interessierte uns, wie es zur Maueröffnung gekommen war, die Schabowski verkündet hatte. Dabei war keineswegs sicher, ob Schabowski uns überhaupt in seine Wohnung in einem Mietshaus am Rande des ehemaligen Todesstreifens zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz einlassen würde. Auf dem SED-Sonderparteitag Anfang Dezember hatten wir schon einmal versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen, als er nervös mit Krenz in den Wandelgängen der Dynamosporthalle auf und ab ging. Damals hatte er uns brüsk abgewiesen. Beim zweiten Anlauf sollten wir mehr Glück haben.
Der Türöffner summt. Nachdem wir unsere Namen genannt haben, werden wir eingelassen. In der achten Etage öffnet sich die Tür. Schabowski auf Socken, in Jeanshemd, Jeanshose, eine Lesebrille baumelt um den Hals, in der Hand hält er einen Schraubenzieher. Er bittet uns hinein, nachdem wir uns ein wenig mißtrauisch begrüßt haben. Der Mann hat nichts Mächtiges mehr. Er wirkt müde, wenn auch angespannt. Seine Wangen sind eingefallen. Er hat in den letzten Wochen wohl einige Kilo Gewicht verloren.
«Schrauben Sie Ihre Schränke auch so zusammen?» fragt er und zeigt mit dem Schraubenzieher in den Flur, wo die Teile eines Kleiderschrankes liegen. Wir klettern eine enge Wendeltreppe hinauf in sein Arbeitszimmer unter dem Dach. Ein Graupapagei im Käfig legt fremdelnd den Kopf schief, als wir eintreten. Die vielen Bücher fallen auf. Auf dem Sofa liegt ein Handstaubsauger.
Warum wir gerade mit ihm sprechen wollten, will er wissen. Später erfahren wir, daß wir die ersten waren, die sich nach seinem Absturz für ihn interessiert haben. Einer wie er, der im Zentrum der SED-Macht gesessen hat, ist im neuen Deutschland eine persona non grata.
Schabowski erzählt. Vieles geht ihm durch den Kopf, so daß aus Antworten Monologe werden und wir kaum Gelegenheit zum Fragen haben. Vieles geht ihm durch den Kopf. Der Einundsechzigjährige hat Zeit zum Nachdenken, denn er findet keine Arbeit mehr. Er wirbt um Verständnis, aber er jammert nicht: «Ich will kein Mitleid.» Es überrascht uns, wie offen und präzise er die Fassungslosigkeit über seine Lage ausspricht. Allmählich begreifen wir, in welch komplexen ideologischen Strukturen dieser Mann verwickelt war. Was hat einen wie ihn dazu bewogen, sich an diesem Staat zu beteiligen, der mit diktatorischen Mitteln versuchte, eine humanistische Utopie durchzusetzen? Wir vereinbaren weitere Gespräche. Aus ihnen ist dieses Buch entstanden.
Die Befragung hat in weiten Teilen nicht so stattgefunden, wie sie sich im Buch darstellt, sondern wurde aus verschiedenen Gesprächen zusammengefügt und von uns mit kurzen Einleitungstexten versehen. Fragen, die nur dazu dienten, die Handlung voranzutreiben, haben wir gestrichen. Oftmals brachten jedoch Nachfragen erstaunliche Details zutage, führten manchmal aber auch dazu, daß wir uns in Kleinigkeiten verhakten, uns festfuhren, und Schabowski uns den Spiegel vorhielt: «Stellen Sie sich vor, Sie müßten eine wichtige Redaktionskonferenz schildern, die ein Jahr zurückliegt, und würden dann gefragt: Was hat Herr Müller für ein Gesicht gemacht, während Herr Meier sprach? Warum wurde Herr Schmidt Kaffee holen geschickt?» Schabowski brauchte Zeit, um das System, dessen Teil er war, und seine Biographie, von außen betrachten zu können.
Günter Schabowski wuchs nicht in einem Kommunistenhaushalt auf. Die Eltern, der Vater Klempner, die Mutter Reinmachefrau, waren in der Tendenz unpolitische Gewerkschaftler, die eher der Sozialdemokratie zugeneigt waren, weil sie ihnen nicht so stur und dogmatisch erschien. Ihr einziges Kind kam 1929 im vorpommerschen Anklam auf die Welt. Günter war ein fleißiger Schüler und durfte deshalb das Gymnasium besuchen, obwohl die 20 Mark Schulgeld das Familienbudget belasteten. Während des Krieges kam er in ein Kinderlandverschickungsheim, gegen Ende in ein Wehrertüchtigungslager in Sachsen, aus dem er 1945 zu Fuß zurückkehrte. Noch im selben Jahr bestand er das Abitur an seiner alten Schule, dem Andreas-Realgymnasium, das als eines der ersten in Berlin den Unterricht wieder aufnahm. Damit hatte er im Gegensatz zu den meisten seiner Altersgenossen ein Jahr gewonnen. Er wurde Lokalreporter bei der «Berliner Gewerkschaftszeitung», danach Volontär, Hilfsredakteur und schließlich Redakteur.
Günter Schabowski hat im repressiven SED-Staat eine glatte unkonventionelle Karriere gemacht. Dabei profitierte er von den Folgen «sozialistischer Unglücke». 1949 trat er der «Freien Deutschen Jugend» bei, drei Jahre später wurde er SED-Mitglied. 1953 wurde er mit 24 Jahren stellvertretender Chefredakteur der Gewerkschaftszeitung «Tribüne», nach einem Revirement in der Leitung des Blattes, das einem kapitalen Druckfehler in einem Artikel über Stalins Tod folgte. Darin wurde Stalin versehentlich als «Herr des Krieges» statt als «Herr des Friedens» bezeichnet. Schabowski hatte an diesem Tag zufällig frei und wurde befördert. In dieser Position kreiste er 14 Jahre in der Karrierewarteschleife, bis er 1967 für entwicklungsfähig befunden und zu einem Studienjahr an die Moskauer Parteihochschule geschickt wurde, wie es damals für nicht mehr taufrische Genossen üblich war. Als er am 21. August 1968 als stellvertretender Chefredakteur in die Büros von «Neues Deutschland» kam, war die Redaktion gerade dabei, eine Sondernummer nach dem Einmarsch in die CSSR zu produzieren. Wiederum waren es die Folgen eines Unglückes, die seinen Aufstieg im ND beförderten. Der Sekretär des Zentralkomitees für Agitation und Propaganda Günter Lamberz kam 1978 bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben. Der bisherige Chefredakteur Joachim Herrmann übernahm dessen Geschäfte in der Partei, Schabowski wurde Chefredakteur und rückte später als Kandidat in das Politbüro, den innersten Machtzirkel, auf. 1984 wurde er Vollmitglied des Politbüros. Der Sturz eines Genossen begünstigte seinen weiteren Aufstieg. Als Honecker den skandalträchtigen Berliner Bezirkssekretär Konrad Naumann aus dem Politbüro geworfen hatte, durfte Schabowski, der im ND stets treu Bilder Honeckers gedruckt hatte, als Seiteneinsteiger 1985 den wichtigen Berliner Parteibezirk übernehmen, den er bis zur Revolution leitete.
Auch im Revolutionsgeschehen spielte Schabowski eine zentrale Rolle. Während bei den meisten seiner Politbürogenossen, die sich auf der richtigen Seite der Geschichte wähnten, noch Fassungslosigkeit angesichts der Massenflucht vorherrschte, war er der erste, der im erstarrten Politbüro Veränderungen forderte. Eigensinn statt Einheit: Zusammen mit Egon Krenz stürzte der Mann mit der glatten Karriere Erich Honecker und seine Hardliner und versuchte, Reformen einzuleiten.
Ist er also ein besonders schlauer Wendehals gewesen, der noch rechtzeitig umzuschwenken versuchte, um die eigene Haut zu retten? Ist Schabowski überhaupt glaubwürdig?
Was Schabowski dazu drängt, bei der Wahrheit zu bleiben, ist nicht nur die Irritation über seinen Absturz. Es ist auch die Scham, die die Erinnerung an den Genuß von Privilegien wachruft, die den Bürgern seines Staates verweigert wurden. Und es ist vor allem das Gefühl der Schuld, Unrecht mitgetragen und die sozialistische Vision von Humanität und Gerechtigkeit verraten zu haben. Die Annäherung an die Wahrheit ist sein wichtigstes Kapital, um neuen Boden unter den Füßen zu finden.
Wir haben Schabowski im Laufe dieser Gespräche schätzen gelernt. Seine Selbstironie, sein kritischer Umgang mit der Vergangenheit, seine Neugier und Offenheit gegenüber Menschen, denen er begegnet, aber auch sein Stolz und sein...