Neuvererbung
oder Vererbung erworbener Eigenschaften
Ererbte und erworbene Eigenschaften
Wir alle sind die Träger einer Summe von Eigenschaften, an denen wir uns als Personen, als Angehörige einer bestimmten Familie, einer bestimmten Rasse und als Menschen zu erkennen vermögen. Bei Weitem die meisten körperlichen und geistigen Eigenschaften haben wir bereits von unseren Eltern, Großeltern und noch älteren Vorfahren übernommen; nur die wenigsten Eigenschaften haben wir erst im Laufe unseres individuellen Daseins angenommen.
Nicht jener Familien-, Rassen- und allgemein menschlichen Eigenschaften, die uns allesamt bereits angeboren waren; sondern ausschließlich dieser, die durch eigene Lebensführung hinzugekommen waren, dürfen wir uns als im strengen Sinne „persönlicher“ Eigenschaften rühmen. Mögen jene anderen sich an uns in einer noch nie da gewesenen Auswahl verbunden haben: Sie sind doch Ahnenerbe und kein eigener Erwerb.
ln den berühmten Versen
Vom Vater hab 'ich die Statur, des
Lebens ernstes Führen; vom
Mütterchen die Frohnatur,
Und Lust am Fabulieren ...
führt Goethe seine glänzenden Anlagen auf die Erzeuger zurück; im wissenschaftlichen Sinne spricht er sich damit die Persönlichkeit ab. Erst wenn man würdigt, was hinzugekommen ist; dass er die überkommenen Anlagen zur höchsten Stufe der Vollendung steigerte, lässt man den; ureigensten Wesen Goethes Gerechtigkeit widerfahren.
Gesetzt, ich verdanke meinem Vater eine hohe, eigentümlich modellierte Stirne und eisernen Fleiß; meiner Mutter eine schmale, gerade Nase und musikalisches Talent; dem Großvater väterlicherseits große, leuchtende braune Augen und dunkelbraune Haare; der Großmutter die Neigung dieses Haupthaares, frühzeitig zu ergrauen. Es gesellen sich ferner den genannten und anderen Familienmerkmalen die Rassenmerkmale weißer Hautfarbe und lotrecht aufeinander passender Kiefer sowie die Menschenmerkmale des umfangreichen Hirnschädels, aufrechten Ganges, der Fähigkeit zu gegliederter Sprache und Werkzeugbenutzung: so habe ich all das ohne mein Zutun geerbt ; an alledem habe ich kein Verdienst.
Wird aber mein Antlitz von der Sonne gebräunt; stählt häufige harte Arbeit gewisse Muskelgruppen; vernarbt eine Wunde und bleibt durch die Narbe dauernd sichtbar; habe ich mein ererbtes Sprachtalent durch Erlernen einer Anzahl bestimmter Sprachen und mein musikalisches Talent durch gewandtes Spiel auf einigen Instrumenten zur Ausbildung gebracht: so darf ich darin mit Recht meinen selbst erworbenen Besitz sehen.
Ich war dann gehorsam dem Gebot: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!“ Gerade aber das Fortsetzen, wo der Vorfahr aufhören musste: die Unentbehrlichkeit des organisch Überlieferten, um Neues daraus zu gestalten; die Unmöglichkeit einer Schöpfung aus dem Nichts macht es zuweilen schwierig, zwischen ererbten und erworbenen Eigenschaften , vom alten Bau den neuen Anbau zu unterscheiden.
Zu beurteilen, dass z. B. unser Gebiss — Zahl, Anordnung und Form der Zähne — ererbt wurde, ist uns noch möglich, trotzdem wir es nicht fertig zur Welt bringen, sondern als verborgene Anlage , die sich erst später entfaltet. Wir wissen aber, dass die Zahnknospen in besonderen Höhlen (Alveolen) schon vorbereitet liegen: Obwohl der Säugling scheinbar zahnlos geboren wird, braucht er das „Zahnen“ weder zu lernen noch zu üben; von selbst durchbricht das Milchgebiss den Kiefer. Wir sind kaum in der Lage, durch Veilchenwurzeln, Beißringe u. dgl. den Vorgang zu befördern, seine Beschwerden zu mildern.
Schon an der Muttersprache ist minder leicht zu erkennen, was ererbt, und wie viel erlernt ist. Würde das Kind sprechen lernen, ohne dass wir es lehren? Nur der Unkundige wird die Frage selbstverständlich verneinen; wird ferner darauf verweisen, dass ein Kind in fremder Umgebung sich die fremde Sprache anscheinend ebenso spielend aneignet, wie diejenige, in deren Umgang seine Vorfahren und Volksgenossen aufwuchsen. Ist daher das Sprechen ganz und gar eine erworbene Eigenschaft? Oder ist nicht doch ebenfalls eine ererbte Disposition, eine angeborene Anlage vorhanden, vergleichbar den Zahnknospen, nur im jetzigen Falle nicht ohne fremde Hilfe an die Oberfläche dringend?
Die Entscheidung ist kaum mit wünschenswerter Sicherheit zu treffen, weil es nicht angeht, Kinder versuchsweise ohne Sprechunterricht aufzuziehen. So werden wir beizeiten auf die Notwendigkeit des Tierversuches hingewiesen. Von Edelfinken, Distelfinken und Grasmücken, die als hilflose Nestlinge in die Gewalt des Menschen kamen und fern von ihresgleichen groß gezogen wurden, berichtet Lloyd Morgan, dass sie trotzdem das Lied ihrer Artgenossen singen, obgleich nicht so laut und schön.
Romanes erzählt aber auch, dass in zerstörten Indianerdörfern Südamerikas und Kaliforniens zuweilen ganz kleine Kinder zurückblieben, die dank der gesegneten Tropennatur von Früchten, Beeren und Wurzeln ihr Leben fristeten: bei ihnen soll sich aus dem kindlichen Lallen eine selbst erfundene Sprache entwickelt haben; ja aus der verhältnismäßigen Häufigkeit solcher Vorkommnisse will Romanes verständlich machen, weshalb bei den Indianerstämmen so zahlreiche grundverschiedene Sprachen unabhängig nebeneinander entstehen konnten.
Eine Tatsache wenigstens wird schon durch dieses Beispiel nahe gelegt: Jeder Mensch ist ein Produkt aus angeborenen und angenommenen Eigenschaften. Keine Individualität ist denkbar, die ihren Erbschatz nicht selbsttätig und durch die Lebenslage dazu gezwungen bereichert hat. Noch eine folgenschwere Frage erhebt sich auf solchem Grunde: Können vom Individuum erworbene Eigenschaften sogleich oder später in Generationsbesitz übergehen? Können höchstpersönliche Eigenschaften — unter dafür günstigen Umständen — in Familien- und Rasseneigenschaften verwandelt werden?
Dass letztere — die angeborenen Eigenschaften —, gleichwie sie von den Vorfahren ererbt wurden, auf die Nachfahren getreulich wieder weitervererbt werden, ist nie zweifelhaft gewesen. Ja wir kennen heute mit annähernder Genauigkeit die Gesetze, nach denen diese Vererbung geschieht, und den Mechanismus, der sie zuwege bringt. Die ererbten Eigenschaften gehorchen den von Gregor Mendel entdeckten und nach ihm benannten Vererbungsregeln, von denen im gegenwärtigen Buche nicht ausführlich, aber doch noch die Rede sein soll.
Die Mendelschen Regeln finden ihren sichtbaren Ausdruck in der kaleidoskopischen Harmonie, den Spaltungen und Wiedervereinigungen eines Stoffes, der im Keimbläschen enthalten ist und nach Zusatz künstlicher Farbstoffe unter dem Mikroskop deutlich hervortritt: das „Chromatin“ der Zellkerne wird daher als. Vererbungssubstanz angesehen; die kristallartigen Stücke („Chromosomen“), in die sie bei jeder Teilung zerfällt, gelten als Träger, Gefäße oder zumindest Fahrzeuge (R. Gold schmidt) der erblichen Eigenschaften, beziehungsweise der Anlagen, die sich während der Entwicklung zu fertigen Eigenschaften ausgestalten. All das bis ins einzelne klar zu machen, fehlt hier Raum und Anlass; genaueres ist in jedem Lehrbuch der Biologie und in jeder allgemeinen Vererbungslehre zu finden.
Welches aber ist das Schicksal der persönlich erworbenen Eigenschaften? Sterben sie mit der Person oder erstrecken sie sich manchmal wenigstens — über persönliche Grenzen hinaus in das Leben nachkommender Generationen? Vieles hängt, wie wir gegen Schluss des vorliegenden Buches besser einsehen werden — von der richtigen Beantwortung ab.
Sklaven der Vergangenheit
oder Werkmeister der Zukunft?
Wenn erworbene Eigenschaften — wie eine Mehrzahl heutiger Lebensforscher annimmt — sich nicht vererben, so gibt es keinen wahren, organischen Fortschritt: der Mensch lebt und leidet vergeblich; was immer er erobert, geht mit seinem Tod verloren; Kind und Kindeskind müssen immer wieder von vorne anfangen.
Gewiss, sie stützen sich auf das äußere Erbe, auf Vermögen, mündliche und schriftliche Überlieferung: aber all das ist kein sicherer Besitz. Kein Menschenhirn vermag alle Errungenschaften vorausgegangener Geschlechter immer wieder aufs neue zu umfassen; keines behält dann — und sei es auch nur im eigenen Spezialberuf— noch Kräfte übrig, um auf den mühselig neu errungenen Gütern der Vergangenheit weiterzubauen. Gewiss, wenn endgültige wissenschaftliche Erkenntnis dergestalt unsere Entwicklungshoffnungen zerstört, so müssten wir uns der Wahrheit bei all ihrer Trostlosigkeit beugen: gegen Tatsachen gibt es keine Auflehnung, sondern nur Ergebung. Ist aber die negative Erkenntnis wirklich schon endgültig? Gibt es nie und nimmer Vererbung des Neuen?
Wenn erworbene Eigenschaften sich gelegentlich vererben, so sind wir nicht ausschließlich Sklaven der Vergangenheit, die unentrinnbar an der Kette ihres Ahnenerbes...