Einleitung
Einen längeren Text für den Druck über das Internet zu schreiben eröffnet eine paradoxe Perspektive. Während die Schrift in Büchern Beständigkeit, langfristige Erreichbarkeit, Haltbarkeit und auch Unabhängigkeit gegenüber technischen Entwicklungen bedeutet, ist der Gegenstand eines solchen Textes ein durchaus flüchtiges Phänomen: Kaum wäre die Druckerschwärze getrocknet, müsste eine neue Auflage heraus, weil sich inzwischen schon so vieles geändert hat. Schaut man in gängigen technisch orientierten Handbüchern nach, entdeckt man Erläuterungen zu Diensten des Internet, die heute kaum noch jemand kennt: Telnet, Mailboxes, Gopher, WhoIs, … Ein Schlager des einen Jahres, etwa Second Life, ist im nächsten schon vergessen. Phänomene und Anwendungen, die niemand planerisch vorbereitet hat, tauchen auf, etwa die E-Mail, erweisen sich in kürzester Zeit als »killer applications« und nehmen dann Ressourcen in erheblichem Umfang in Anspruch.
Es kann also bei einer Darstellung des Internet, die ein wenig Haltbarkeit beansprucht, nicht um eine aktuelle Bestandsaufnahme gehen. Sie wäre das sprichwörtliche Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt wäre, und man sollte derlei Momentaufnahmen dem Internet selbst überlassen. Es könnte aber, und das wäre die Herausforderung, darum gehen, das erwähnte Paradoxon selbst zu bedenken: Was macht den Kern des Internet aus, den es trotz seiner ungeheuren Dynamik gibt, der diese Dynamik offenbar vorbereitet hat, sie ermöglicht und vorantreibt? Welche sind die Invarianten des Internet, die Möglichkeitsbedingungen seiner seit einem halben Jahrhundert anhaltenden Blüte? Ließe sich dazu gar eine Theorie formulieren in dem Sinne, dass es abstrakte Wesenszüge zu beschreiben gäbe, die die Beständigkeit des Wandels ausmachen? Als welches wäre demnach das Medium des Internet zu bestimmen, dessen Formen wir in schillernder Raschheit aufsteigen und zerplatzen sehen, wie Seifenblasen von Kinderhand?
Will man die Beständigkeit des Wandels beobachten, bietet sich zunächst der historische Rückblick an. Wie alle Felder, die wir in diesem Buch betreten, ist dieses von Spezialistinnen und Spezialisten bereits auf das Gründlichste beackert worden. Es ist durchaus nicht zu erwarten, dass hier bedeutende Funde zu machen sind, die ein speziell vorgebildetes Publikum noch überraschen könnten. Auch wird hier keine Theorie der Internetgeschichtsschreibung zu leisten sein, die problematisiert, wie man über das Entstehen und Werden unseres Gegenstandes angemessen zu berichten hätte. Das Anliegen auch der historischen Darstellung ist es vielmehr, die bereits erwähnten Invarianten zu beschreiben. Was lehrt uns die Geschichte über die Gegenwart, so dass sich daraus auf Dauerhafteres schließen lässt? Welche Details haben einen nachhaltig wirksamen Einfluss auf den Gang der Dinge genommen? Welche Weichenstellungen, Emergenzen, Zufälle, vielleicht sogar Unfälle haben Spuren im Jetzt hinterlassen? Und was war in diesem Sinne essenziell?
Das Kapitel zur Geschichte des Internet hat Berichtscharakter, kann und will keine notwendigen Verläufe etwa im Sinne einer Geschichtstheorie des Internet behaupten. Von allgemeinerem Anspruch allerdings ist die Auswahl der historischen Ereignisse im Hinblick auf ihre Wirkmächtigkeit, wie sie sich uns heute darstellt. Da der Autor kein Anhänger teleologischer Konstruktionen ist, soll bereits an dieser Stelle vor den Irrtümern gewarnt werden, als die sich jede an einem kontingenten Jetzt orientierte Geschichtsschreibung in der Zukunft erweisen kann. Che sarà, sarà. Whatever will be, will be.1
Das Internet ist trotz aller seiner weiteren Dimensionen ein vor allem technisch fundiertes Phänomen. Das Funktionieren seiner Technik entscheidet über seine Existenz und Entwicklung, die Technik ist unerschöpfliche Quelle von Launen der Entwicklung, und wer hier wen treibt, ob die Technik den Menschen, die Akteure die Entwicklung oder der blinde Zufall alles zusammen, wird noch lange Thema des Streits bleiben. Bei der Frage nach der Erklärbarkeit von Rasanz und Kontinuität des Netzes der Netze müssen wir im Kapitel zur Technik des Internet ebenfalls auswählen. Was muss man strukturell verstehen, um das Phänomen Internet nicht mehr als Wunder, sondern als Sammlung von Elementen und Versatzstücken zu begreifen, dem sich seine ständig wandelnde Existenz verdankt?
Der Leser möge hier keine Techniktheorie erwarten, sondern eher eine Auswahl technischer Sachverhalte, die das Gewebe des Internet als Großphänomen ausmachen, zumindest nach Ansicht des Autors. Und das ist ja wenigstens eine These, die, wenn nützlich, vielleicht einmal eine Theorie werden könnte.
Hieb- und Stichfestes allerdings weiß mittlerweile die Theorie der Netze zu berichten. Es handelt sich um eine Theorie der Komplexität, die nicht sprachlos bleiben muss vor der überwältigenden Fülle des Internet, sondern tatsächlich auf den Begriff zu bringen imstande ist, welches bei hochkomplexen Wachstumsprozessen die Invarianten und die Parameter sind.
Was ohne erkennbare Grenze wächst, kennt kein Maß, und genau das ist die schlichte Eigenschaft eines skalenfreien Netzes, von denen das Internet auch eines ist. Aus dem Fehlen dieser ansonsten für die Verhältnismäßigkeit eines Phänomens so wichtigen Eigenschaft können allerdings rational Parameter geschlussfolgert werden, die das jeweilige Netz von anderen unterscheiden. So kann man präzise angeben, wie groß ein wachsendes Netz ist, wie stark es an seinen wichtigen Knoten klumpt und wie hoch seine Verletzungsanfälligkeit einzuschätzen ist. Was man dabei lernen kann, betrifft nicht nur das Internet, sondern viele andere Phänomene auch, die offenbar eine netzförmige Organisation haben. Die Theorie der skalenfreien Netze bietet starke Beschreibungsmittel: Endlich ist es möglich, das Überkomplexe wenigstens in Teilen präzise zu fassen.
Wie kaum eine andere Medientechnik hat das Internet die Ökonomie affiziert. Die Kapitalströme rasen um den Globus, Börsentransaktionen, rechnergetriggert, entscheiden über astronomische Finanzwerte; traditionelles Gewerbe, allen voran die Medienwirtschaft selbst, wird geschüttelt von einer Internet-Krise unvorhergesehenen Ausmaßes. Dem stehen einige Gewinnler gegenüber, die, vielleicht weil sie ganz einfach schneller und schlauer waren, am Internet reich geworden sind. Im öffentlichen Bewusstsein tauchen wundersame Wertquellen aus dem Nichts auf: Free soll alles nun sein und dennoch Geld bringen. In diesem Kapitel sollen Theorien zur Ökonomie des Internet versammelt und gegeneinander gehalten werden. Gibt es nun den berühmten Free Lunch oder doch eher nicht? Wieso bieten Nischenmärkte ganz neue wirtschaftliche Möglichkeiten, entstanden und bespielt erst durch das Internet? Ist es selbstmörderisch, ein Buch über das Internet zu machen, das, falls es genug Interesse findet, sofort in irgendwelchen Tauschbörsen auftauchen kann, was Verlag und Autor um ihre Einkünfte prellt?
Man erwarte hier keine Maschinenstürmerei, aber auch keine Anpreisung einer Speisung der Fünftausend ganz ohne Brot und Fisch, mit dem Netz allein. Vielmehr wird der Versuch gemacht, anhand der momentan diskutierten Vorstellungen zu einer Ökonomie des Internet die Phantasmen von den wirtschaftlichen Realitäten und Möglichkeiten des Internet zu trennen.
Das vorletzte Kapitel beschreibt in historischer Perspektive, wie und woraus sich das Lesen und Schreiben am Computer bis hin zum World Wide Web entwickelt hat. Es entfaltet sich eine sehr heterogene Landschaft, in der sich Technikmanager, Computerexperten, Freaks und Schriftsteller tummeln, denen eines gemeinsam ist: das Phantasma der Befreiung durch eine Technik, die den Text endlich aus seinem Papiergefängnis entlassen wollte. Heute liest sich das als Krise des Buches. Aber noch in den 1960er Jahren galt manchen das Buch selbst als verantwortlich für eine Krise, gegen die nur der Hypertext und der Computer helfen könnten.
In welche Kultur uns der Hypertext entlassen würde, das ahnte natürlich niemand. Man träumte von beglückenden Gemeinschaftserlebnissen, doch hat das Internet das Schrift- und Publikationswesen eher noch weiter ausdifferenziert und eine Situation geschaffen, in der nur paradoxe Handlungsanweisungen noch weiterhelfen.
Das Internet ist mitten in der Gesellschaft angekommen. Die Feuilletons sind voll mit Artikeln zur veränderten Lage des Schreibens und des Lesens, des Liebens, des Spielens und des Schwatzens, menschlicher Individualität und Gemeinschaft respektive ihrer Warenförmigkeit in social networks. Die Wissensordnung der Gesellschaft transformiert sich grundlegend: Waren es in der unbestrittenen Ära des Buches noch staatliche Stellen, die definierten und bewahrten, was Kultur sei, so wissen und regeln heutzutage im Wesentlichen börsennotierte Firmen, was wissbar ist. Und so bilden sich Semantiken, die man die Kultur des Internet nennen kann. Sie verspricht einen neuen...