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Heimat
Mein Vater war nie heimatlos. Als junger Mann hat er sich Anfang der Fünfzigerjahre auf den Weg gemacht. Der Achtzehnjährige wollte zum Studieren ins Ausland, um dann mit Stolz und Titel wieder in den Irak zurückzukehren.
Seine Eltern hatten allerdings nicht viel Geld. Dafür aber sein Bruder. Mit dessen Hilfe sollte es in die USA gehen; genau wie er sollte mein Vater Architekt werden. Das war das Ziel.
Auf dem Weg in das Land, in dem man, wie die Legende besagt, vom Tellerwäscher zum Millionär werden kann, besuchte er allerdings noch einige Freunde in Wien – und blieb dann dort hängen. Er fühlte sich in der Stadt wohl, geradezu heimisch. Damals lebten bereits viele Araber in Wien, wie auch heute. Zu ihnen zählte meine Mutter. Es war also kein Zufall, dass die beiden sich in der österreichischen Hauptstadt kennen- und lieben lernten – und dass, obwohl sie beide aus Mossul stammen. Die Welt ist halt klein.
1956 wurde geheiratet. Wien sollte für die beiden sozusagen das neue Mossul werden, eine neue Heimat. Doch schon bald mussten sie die Stadt, nein, sogar das Land verlassen. Was war geschehen? Zu der Zeit studierten insbesondere viele Iraker in Wien. Das schien weder der irakischen noch der österreichischen Regierung zu gefallen. Man unterstellte den Studenten, Teil einer kommunistischen Vereinigung zu sein, und so mussten meine Eltern und einige ihrer Freunde ausreisen. So jedenfalls erzählte es mir mein Papa immer und immer wieder. Und ebenso immer wieder fiel er an dieser Stelle in lautes Gelächter. Meine Eltern, die beide liberal-konservativ waren und Kommunisten? Ein schlechter Scherz. Aber dieser Scherz war angeblich der Grund, warum beide, nicht ganz freiwillig, in Deutschland landeten.
Dass sie auch dort schnell Fuß gefasst haben, lag an ihrer Offenheit und Willenskraft. Damals gab es hier keine Diskurse über Integration oder Assimilation – so etwas wurde einfach praktiziert. Jedenfalls bei uns. Denn meine Eltern waren offen, interessiert, kontaktfreudig, wissbegierig. Sie wollten zügig die Sprache lernen, Freunde finden, ein Leben haben – wenn auch nur auf Zeit, denn der Plan war ja, irgendwann wieder in den Irak zurückzukehren.
Dass die beiden so schnell in ihr neues Leben in Deutschland hineingefunden haben, lag aber auch an der Frau, die sie aufgenommen hatte: »Tante« Josefa, genannt Sefa, vermietete Wohnungen an Studenten und hatte offensichtlich kein Problem damit, auch »Ausländer« einziehen zu lassen, selbst welche, die ihr erstes Kind erwarteten und eine ungewisse Zukunft vor sich hatten.
Sefa, ihr Mann Fritz und ihre Tochter Elke wurden schließlich zu einer Art Ersatzfamilie für meine Eltern. Sefa und Fritz haben meine Eltern aufgenommen, als seien sie ihre eigenen Kinder. Und als mein Bruder Nahed 1957 in Mainz geboren wurde, behandelten sie ihn wie einen Enkel. Sie haben auf ihn aufgepasst und sich um ihn gekümmert. So konnte mein Vater sorglos weiter studieren und meine Mutter zwischenzeitlich bei der Post arbeiten, damit ein bisschen Geld ins Haus kam.
Dass selbst ich die beiden bis heute Tante Sefa und Onkel Fritz nenne, obwohl wir, als ich geboren wurde, nicht mehr bei ihnen gelebt haben und wir in keiner Weise verwandt waren, zeigt, wie eng und wichtig diese Verbindung, diese Erfahrung auch für mich war. Und welchen Einfluss dieses »Kümmern« auf unser weiteres Leben in Deutschland hatte. Denn Tante Sefa und Onkel Fritz, zwei robuste, manchmal sogar ruppige Menschen, die das Herz und den Verstand am rechten Fleck hatten, haben meinen Eltern das Gefühl von Heimat gegeben. Von Ankommen. Von Dazugehören.
Dieses Gefühl hat sich zuletzt bei mir leider etwas verflüchtigt. Und so kommt es, dass ich mir über meine Heimat heute ganz andere Gedanken und auch Sorgen mache als vor Jahren.
Die neue Fremdheit
Ich mache es mal einfach: Ich bin 44 Jahre jung, in Datteln in NRW geboren, ich bin weder links noch rechts, auch nicht »versifft«, wie es mir diejenigen unterstellen, die solche Begriffe gebrauchen. Ich habe einen Bruder und eine Schwester, zwei Nichten und einen Hund. Meine Familie ist mir heilig, danach kommt lange erst mal nichts. Ich bin weder ganz unten noch ganz oben, weder Gutmensch noch Schlechtmensch. Ich bin einfach eine Frau, die stolz auf ihre Eltern ist und dankbar und demütig für die Möglichkeiten, Freiheiten und Rechte, die mir unser Land einräumt und die mir meine Eltern ermöglicht haben. Im Wechselspiel dieser beiden Prägungen konnte ich die werden, die ich bin: eine Journalistin, eine öffentliche Person, die, trotz bisweilen harter Anfeindungen, weiß, dass ihr ein gutes, ja ein privilegiertes Leben gelingen konnte.
Anfang 2018 wurde ich gebeten, eine Rede im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Dresdner Reden« im Schauspielhaus Dresden zu halten. Als ich die Einladung erhielt, habe ich mich sehr gefreut. Sie ist eine Ehre, zudem stehen die »Dresdner Reden« für Offenheit, Toleranz und vor allem für etwas, das mir sehr am Herzen liegt: das Verständnis von Diskurs als Austausch von Meinungen und Standpunkten. Nicht zuletzt das Echo auf meine dortigen Worte hat mich inspiriert, mir vertiefende Gedanken zum Thema Heimat zu machen.
Ich finde Dresden einfach wunderschön. Jedes Mal, wenn ich dorthin komme, bin ich fasziniert: Die Elbe. Die Altstadt. Die Elbhänge. Und das Kopfsteinpflaster.
Aber Dresden hat auch eine verschlossene Seite. Wer hier nicht geboren ist, hat es schwer, wirklich dazuzugehören. Die Stadt erscheint als eine Art geschlossene Gesellschaft, die jedem Neuling seine schönen Seiten zeigt und sich weltoffen gibt, aber in ihren »Inner Circle« kommt man als Außenstehende dann doch nicht. Sicher, das ist auch in manch einem Kuhdorf so, aber gerade bei solch einer Großstadt, die ja auch eine Kulturstadt ist, fühlt es sich schroff an – wie ein System, das niemanden von außen braucht, das nur für sich besteht.
Dresden ist eine Stadt, die ihr im Zweiten Weltkrieg zerstörtes Wahrzeichen, die Frauenkirche, und ihre Identität nach dem Ende der DDR Stein für Stein wieder aufgebaut hat und damit zeigt: Es gibt in dieser Stadt eine Standhaftigkeit, die Kriege und politische Systeme überdauert hat, die Überschwemmungen und andere Katastrophen überdauert – Dresden wirkt einfach unzerstörbar. Das Beharrungsvermögen dieser Stadt ist derartig beeindruckend, dass man davon zwangsläufig Rückschlüsse auf ihre Bewohner zieht. Die Dresdner Bevölkerung erscheint einem in ihrer Gesamtheit ein wenig zäh. Immer, wenn ich in Dresden bin, ist es, als raune die Stadt mir zu: »Komme, was wolle, wir machen hier unser Ding, und wir brauchen niemanden, der uns sagt, wie es zu laufen hat.«
So sieht das eine Frau wie ich, die von außen kommt und im Staatsschauspiel den Dresdnern etwas über ihre Stadt erzählte, wohl wissend, dass manche der Einheimischen über mich denken mochten: Mensch, die hat ja überhaupt keinen Schimmer und gerade mal ein Zehntel von dem verstanden, was diese Stadt und uns hier ausmacht. Wie kann sie nur so ein Pauschalurteil fällen, wo sie doch sonst immer zum Differenzieren auffordert.
Mag sein, dass das an der so anderen Mentalität in meiner Heimatregion liegt. Im Ruhrgebiet, im »Pott« fühlt sich das für mich alles ein bisschen anders an. Das ist eine Gegend, die früher einmal für jeden Arbeit bot. Wenn auch harte Arbeit. Das führte dazu, dass Menschen aus anderen Gegenden der Welt – zunächst überwiegend aus Polen, nach dem Zweiten Weltkrieg dann aus ganz Europa, besonders Süd- und Südosteuropa – in Scharen ins Ruhrgebiet kamen, um dort Geld zu verdienen. Im Ruhrgebiet kam es somit irgendwann nicht mehr so drauf an, wer du bist, wo du herkommst, wo du geboren wurdest. Hauptsache, man war Kumpel, konnte zupacken und war ehrlich im Umgang. Dann passte alles. Oder wurde mal eben einvernehmlich passend gemacht.
Das hat sich bis heute nicht wesentlich geändert. Wer ins Ruhrgebiet zieht, braucht nicht lange, bis er dazugehört. Man muss sich nur für dieselben Sachen begeistern – am besten Fußball, da findet man schnell Anschluss.
Natürlich ist es hilfreich, wenn man in ein Gemeinwesen hineingeboren wird und dort, zumindest fürs Erste, bleibt, weil man so in seinen Teil der jeweiligen Gesellschaft und in dessen Gewohnheiten – nennen Sie sie gerne auch Rituale – organisch hineinwächst. Aber nur dazugehören dürfen, wenn und weil man hineingeboren wurde, und zwar am besten über Generationen: Darf und kann so etwas die Teilhabe eines Menschen an einer Gemeinschaft wirklich umfassend definieren?
Egal wohin man kommt, man ist zuerst einmal fremd. Erinnern Sie sich an Ihren ersten Schultag? Ihren ersten Tag bei der Arbeit? Das erste Mal im Verein? In der Stammkneipe? Sie waren der Eindringling, der oder die Neue unter all den für Sie fremden Menschen. Sie haben sich tatsächlich oder zumindest gedanklich erst einmal unsicher in die Ecke gesetzt und gehofft, nicht zu stören, und mussten nach den einfachsten Dingen fragen. Jeder konnte bemerken, dass Sie zum ersten Mal hier waren. Und Sie ahnten, dass mancher sich instinktiv fragte, ob Sie hier überhaupt hingehören. Wären die Freunde von heute damals nicht offen für den oder die Neue gewesen, wo wären Sie heute? Wie würden Sie leben? Wo würden Sie dazugehören?
Heimat zwischen Definition und Identität
Viele werden meiner...