Einführung
Für Menschen als eminent beziehungsbedürftige soziale Wesen sind interpersonale Beziehungen, die zur Befriedigung ihrer physischen und psychischen Grundbedürfnisse wesentlich beitragen, ein Leben lang von existenzieller Bedeutung und gehören zu den Grundbedingungen der conditio humana:
• Menschen brauchen während der Säuglingszeit eine zuverlässige Bindungsbeziehung zu feinfühligen Bezugspersonen für ihre Überlebenssicherung bzw. zur nachhaltigen und konsistenten Befriedigung angeborener elementarer psychophysischer Grundbedürfnisse.
• Im weiteren Entwicklungsverlauf benötigen Kinder und Jugendliche sensitive Bindungs- und sonstige Bezugspersonen, wie z. B. ressourcenstärkende Gleichaltrigenbeziehungen, zu ihrer zufriedenstellenden biopsychosozialen Entwicklung, zur sozialen Integration, Unterstützung und Enkulturation als auch zur zuverlässigen Befriedigung ihrer angeborenen psychischen Grundbedürfnisse nach Bindung, Kontrolle und Orientierung, nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz sowie nach Lustgewinn und Unlustvermeidung.
• Im Erwachsenenalter sind verlässliche soziale Beziehungen zu engen Partnern und Familienmitgliedern, guten Freunden oder vertrauten Arbeitskollegen gleichfalls Sozialressourcen von unschätzbarer Bedeutung für die personale psychische Grundbedürfnisbefriedigung und das biopsychosoziale Wohlbefinden.
• Im höheren Alter bedürfen Menschen der zunehmenden Unterstützung und Fürsorge durch Lebenspartner, Familienangehörige oder Pflegekräfte und sie sind später zur Befriedigung ihrer physischen und psychischen Grundbedürfnisse, wie zu Beginn ihres Lebens, wieder weitgehend auf feinfühlige und zuverlässige Bezugs- und Betreuungspersonen angewiesen.
Aus beziehungspsychologischer Perspektive generiert die überdauernde sowie hinreichende und nachhaltige Befriedigung der genannten angeborenen Grundbedürfnisse nachweislich ein situatives und habituelles physisches sowie psychisches Wohlbefinden und damit eine gesundheitsfördernde Lebens- und Beziehungszufriedenheit. Eine längerfristige Nicht- oder deutliche Unterbefriedigung dieser psychischen Grundbedürfnisse durch enge Bezugspersonen führt dagegen sehr wahrscheinlich zu behandlungsbedürftigen Störungen (Grawe, 2004), zu denen auch diverse Beziehungsbeeinträchtigungen in engen Partnerschaften wie z. B. massive interpersonale Kommunikations- und sonstige Interaktionsstörungen gehören können, die oftmals ein Scheitern der Beziehung zur Folge haben.
Die zentrale und überdauernde Relevanz von positiven Sozialbeziehungen für ein artgerechtes, gutes Gedeihen und achtsames Zusammenleben von Menschen ist von zahlreichen Wissenschaftsdisziplinen in unterschiedlichen Kontexten und mit verschiedenen Methoden sowie Schwerpunktsetzungen erforscht worden, wie z. B. von der Anthropologie, der Philosophie, der Medizin, der Biologie bzw. den Neurowissenschaften, der Evolutionspsychologie, der Entwicklungspsychologie, der Sozialpsychologie und der Pädagogischen Psychologie, den Erziehungs-, Kommunikations-, Gesundheits- und Kulturwissenschaften und der Soziologie. Dabei besteht jedoch zwischen den meisten dieser Fächer kein nennenswerter interdisziplinärer Austausch, so dass die jeweiligen beziehungswissenschaftlichen Befunde oftmals unverbunden nebeneinander existieren; und selbst innerhalb eines Faches, wie z. B. in der Sozialpsychologie, müsste die theoretische Integration vorliegender beziehungsbezogener Erkenntnisse noch deutlich optimiert werden (vgl. Campbell & Simpson, 2013).
Aus beziehungswissenschaftlicher Sicht liegt es nahe, die bisher gesammelten und weit verstreuten Erkenntnisse dieser verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zur personalen Bedeutung, der Anbahnung und Entwicklung, der Aufrechterhaltung und dem Gelingen sowie dem Scheitern von zwischenmenschlichen Beziehungen unter dem Dach einer Disziplin zu integrieren, die als Beziehungswissenschaft zu bezeichnen wäre und für die diversen beziehungswissenschaftlichen Arbeitsfelder anderer Disziplinen als eine Art Leitwissenschaft fungieren könnte. Dieser Gedanke ist bereits seit langem von Berscheid & Peplau (1983) sowie von Berscheid (1999) verfolgt worden und wurde inzwischen von Beziehungswissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen in Ansätzen umgesetzt (vgl. z. B. Berscheid & Regan, 2005; Reis, 2007; Simpson & Campbell, 2013a).
Das vorliegende Buch unternimmt einen Versuch, die Rolle und Bedeutung der Psychologie im Rahmen einer solchen Beziehungswissenschaft zu bestimmen. Es orientiert sich dabei an aktuellen beziehungspsychologischen Ansätzen im deutschsprachigen Raum (vgl. z. B. Asendorpf & Banse, 2000; Grau & Bierhoff, 2003; Heidbrink, Lück & Schmidtmann, 2009; Asendorpf, Banse & Neyer, 2017), vor allem aber an neueren Arbeiten der inzwischen gut etablierten angloamerikanischen psychologischen Forschung zu engen Beziehungen (psychology of close relationships) (vgl. dazu z. B. Duck, 2007; 2011; Vangelisti & Perlman, 2006; Simpson & Campbell, 2013a; Noller & Feeney, 2014). Insbesondere das von Simpson & Campbell (2013a) herausgegebene »Handbook of Close Relationships« zeigt exemplarisch, wie weit der oben angesprochene beziehungswissenschaftliche Integrationsprozess in den USA bereits vorangeschritten ist und wie von den Autoren im Verlauf ihres Einführungskapitels zugleich eine Art Roadmap für die künftige beziehungswissenschaftliche Forschung vorgelegt wird (Campbell & Simpson, 2013), an der sich auch Beziehungswissenschaftler in den deutschsprachigen Ländern orientieren sollten. Die Ausführungen von Campbell und Simpson machen jedoch trotz aller wissenschaftlichen Fortschritte in den letzten zehn Jahren auch deutlich, dass eine methodologisch und methodisch einheitliche Disziplin, die im Rahmen einer übergeordneten Beziehungswissenschaft als Beziehungspsychologie zu bezeichnen wäre, dabei noch nicht entstanden bzw. selbst in den USA erst in Ansätzen erkennbar ist.
Mit der interessanten Frage, warum es bisher nur Ansätze einer einheitsstiftenden Beziehungspsychologie gibt, hat sich bereits Fritz Heider (1958; dt. 1977, S. 11) vor beinahe 60 Jahren in seinem Buch »The psychology of interpersonal relations« auseinandergesetzt und zur Erklärung der stiefmütterlichen Behandlung von zwischenmenschlichen dyadischen Beziehungen durch die wissenschaftliche Psychologie seiner Zeit einen Vergleich von Physik und Psychologie als Wissenschaften herangezogen. Der Autor kommt dabei zu einer erstaunlichen Erkenntnis (Heider, 1977, S. 11):
»Wenn wir alle Kenntnisse der wissenschaftlichen Physik von unserer Welt tilgen würden, hätten wir nicht nur keine Autos, Fernsehapparate und Atombomben, sondern wir würden vielleicht sogar feststellen, dass gewöhnliche Personen nicht in der Lage wären, die fundamentalen Probleme von Hebel und Flaschenzug zu bewältigen. Wenn man andererseits alle Kenntnisse der wissenschaftlichen Psychologie aus unserer Welt herausnehmen würde, dann könnten Probleme der zwischenmenschlichen Beziehungen mit Leichtigkeit bewältigt werden und fast genauso gut wie vorher gelöst werden.«
Heider will mit diesem Vergleich zum Ausdruck bringen, dass Individuen ihre zwischenmenschlichen Probleme offenbar intuitiv relativ gut lösen können und deshalb wohl zunächst keine dringliche Nachfrage nach einer wissenschaftlich fundierten psychologischen Bewältigungsunterstützung bei Beziehungsproblemen entstanden ist. Aus wissenschaftlicher Sicht wird es seiner Meinung nach dennoch wichtig sein, z. B. die jeweilige Güte einer intuitiven Lösung von zwischenmenschlichen Problemen zu prüfen, um u. U. noch bessere beziehungsbezogene Problemlösungen zu finden.
Harlow (1958, S. 573, zit. bei Reis, 2007, S. 2), ein zu seiner Zeit bedeutender US-amerikanischer Entwicklungspsychologe, konstatiert im gleichen Zeitraum wie Heider nicht nur ein deutlich erkennbares Desinteresse der akademischen Psychologie an zentralen beziehungspsychologischen Themen, wie z. B. Liebe und Zuneigung, sondern wirft der Psychologie diesbezüglich überdies ein Scheitern ihres artikulierten Forschungsselbstverständnisses vor, das den Anspruch vertritt, alle Facetten des menschlichen Erlebens und Verhaltens erforschen zu wollen.
Asendorpf & Banse haben die Frage nach den Gründen des Fehlens einer Beziehungspsychologie gut vierzig Jahre nach Heiders Statement wieder aufgegriffen und dabei auf zwei Faktoren verwiesen, die die Entwicklung einer Beziehungspsychologie bis heute zu erschweren scheinen (2000, S. 1):
»Zum einen ist die Psychologie traditionell individuumzentriert; Beziehungen betreffen aber immer zwei Menschen, also eine...