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Staat und Person

Politische Ethik im Umbruch des modernen Staates

AutorHartmut Kreß
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl294 Seiten
ISBN9783170262935
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis37,99 EUR
The state is currently undergoing a crisis, characterized by an erosion of the rule of law and the loss of influence of nation states resulting from globalization. On the other hand, the institution of the state in the cultural and legal history of Germany has been exaggerated and idealized. Theologically, it was regarded as the divine order of creation; philosophers declared it to be a ?moral person=; the modern judicial theory of the state raised it to the status of ?state person=. This book analyses the central ideas in the interpretation of the state since the Renaissance and Reformation for present-day purposes. In the face of today=s situation of upheaval, it outlines a political ethics that emphasizes the primacy of the human person.

Prof. Hartmut Kress teaches ethics at the University of Bonn.

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Leseprobe

I.I.  Theologische Staatsdeutungen und ihre Schattenseiten


Zunächst werden tragende Ideen der katholischen Theologie bzw. des katholischen Lehramtes vor Augen geführt. Insgesamt kommt ihnen für das Staatsdenken im 19. und 20. Jahrhundert freilich nur ein begrenzter Stellenwert zu. Zumindest im mitteleuropäisch-deutschsprachigen Raum sind die gesellschaftspolitischen und akademischen Debatten zur Staatsidee stärker von den protestantischen Eliten geprägt gewesen. Die protestantischen Perspektiven werden in den Abschnitten erörtert, die sich an die Skizze zur katholischen Sicht anschließen. Ihr geistes- und kulturgeschichtliches Gewicht beruht darauf, dass deutsche Territorialstaaten und der 1871 begründete, von Preußen dominierte deutsche Nationalstaat mit den evangelischen Kirchen stets eng verbunden waren. Im 19. Jahrhundert war das Königreich Preußen von evangelischen Theologen wie Friedrich Schleiermacher (1768–1834) oder von kirchlich orientierten Rechtsgelehrten wie Friedrich Julius Stahl (1802–1861) explizit sogar als »christlicher Staat« bezeichnet worden11 – womit im Kern ein evangelischer Staat gemeint war.

Kulturgeschichtlich besaß dieser evangelisch-konfessionalistische Standpunkt äußerst zwiespältige Konsequenzen. So meinte Schleiermacher, der in Preußen zeitweise das Amt eines Staatsrats für das Unterrichtswesen innehatte, dass bei der Erteilung des obligatorischen christlichen Religionsunterrichts in staatlichen Schulen auf die »etwaigen jüdischen Zöglinge« keine Rücksicht zu nehmen sei.12 Seine Position war sogar schon zu seiner eigenen Zeit rückschrittlich. Denn in der damaligen jüdischen Freischule in Berlin waren, umgekehrt, die christlichen Kinder vom jüdischen Religionsunterricht befreit gewesen.13

Dem Postulat des christlichen Staates lag die Weichenstellung zugrunde, den Staat und die evangelische Kirche letztlich als Einheit zu begreifen. Die Ursachen sind in der Reformationsepoche zu suchen. Es waren insbesondere Vorschläge von Philipp Melanchthon (1497–1560), die hierfür Pate standen. Melanchthon ging so weit, dass er um der Einheit von Staat und Kirche willen in den Universitäten sämtliche Fakultäten, nicht nur die theologische Fakultät, auf die Confessio Augustana als lutherische Bekenntnisschrift verpflichten lassen wollte.

Für die katholische Kirche lag es hingegen fern, den territorialen oder den nationalen Staat mit der Kirche zu verschränken. Denn sie war zentralistisch an Rom orientiert. Hieraus erwuchs im 19. Jahrhundert in Deutschland zwischen ihr und dem Staat ein scharfer Gegensatz. In den Jahren 1871 bis 1887 kulminierte er im Kulturkampf, der zwischen Preußen sowie dem Deutschen Reich und ihr ausgetragen wurde und der auf staatlicher Seite zu den Kulturkampfgesetzen führte. Als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident sah Otto von Bismarck (1815–1898) im Vorhandensein der katholischen Zentrumspartei einen Angriff auf den deutschen Staat. Im Gefolge des deutsch-französischen Kriegs war das Deutsche Reich gegründet worden, und zwar am 18. Januar 1871 symbolisch durch die Kaiserproklamation in Versailles. Ein Jahr später, am 30. Januar 1872, erklärte Bismarck im preußischen Abgeordnetenhaus bezogen auf die Zentrumspartei: »Ich habe, als ich aus Frankreich zurückkam, die Bildung dieser Fraktion nicht anders betrachten können, als im Lichte einer Mobilmachung der Partei gegen den Staat«.14 An den Worten lässt sich ablesen, wie groß die Distanz zwischen der katholischen Kirche, für die das »Zentrum« stand, und dem Staat war. Bismarck sah in ihr eine Bedrohung des neuen deutschen Nationalstaats, auf den sich die evangelischen Kirchen ohne Vorbehalte eingelassen hatten und den sie nachdrücklich stützten.

Letztlich war die Distanz der katholischen Kirche gegenüber dem modernen Staat allerdings noch sehr viel massiver. Es geht nicht nur um ihr Verhältnis zum Nationalstaat. Vielmehr vermochte sie gedanklich keinen Zugang zum Phänomen des säkularen Staates zu finden, der sich von der Kirche emanzipiert hat. Auf ihn sich einzulassen, fiel – und fällt – ihr schwer. Bis ganz weit in das 20. Jahrhundert hinein gelang es ihr insbesondere nicht, den modernen Verfassungsstaat zu bejahen, der sich demokratisch begreift und der auf die individuellen Grund- und Menschenrechte verpflichtet ist. Diese geistesgeschichtliche Hypothek wirkt noch heute nach.

1.  Die katholische Kirche im Kontrast zum säkularen Staat und zu den Grundrechten


Erstens: Lang anhaltendes Nein zu den Menschenrechten

Für die katholische Lehre war herkömmlich der auf die Antike zurückgehende Gedanke tragend gewesen, die irdische Ordnung, die im Mittelalter respublica Christiana genannt wurde, stelle eine societas perfecta oder eine societas completa dar.15 Unter den »natürlichen« Formen der Vergesellschaftung bilde sie die höchste und umschließe alle sonstigen Gegebenheiten, etwa die Familie. Es handele sich um eine von Gott eingerichtete Ordnung der Schöpfung. Angesichts dessen wurde der moderne säkulare Staat von der katholischen Kirche als Abfall vom Glauben bewertet und noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als »nationale Apostasie« abgelehnt.16 Die Werke der neuzeitlich-modernen Staatsphilosophie von Machiavelli bis Rousseau waren katholischerseits als verboten gebrandmarkt und auf den Index librorum prohibitorum gesetzt worden.

In der Moderne wurde dann die Kirche selbst zur societas perfecta erklärt.17 Dies besaß bezogen auf den Staat antidemokratische und antiliberale Implikationen. Eine Ordnung, die unabhängig von kirchlichen Vorgaben existiert und auf die Freiheit der Einzelnen Wert legt, ließ sich mit römisch-katholischen Idealen nicht in Einklang bringen. Im 19. und 20. Jahrhundert profilierte die katholische Lehrbildung den Begriff der societas perfecta also so, dass er nicht mehr die irdische Ordnung bzw. den Staat, sondern die Kirche selbst kennzeichnete. Sie wurde ihrerseits als korporative Rechtspersönlichkeit gedeutet, die Rechtssubjektivität besitze, auf dem Willen Gottes gründe und hierarchisch strukturiert sei.18 Zugleich brachte diese Sicht ihren Anspruch auf letztliche Vorordnung vor dem Staat zum Ausdruck.

Erst mit großer geistesgeschichtlicher Verspätung, nämlich in den 1960er-Jahren, hat die katholische Kirche ihre Ablehnung des säkularen Staats, der Demokratie und der individuellen Menschenrechte einschließlich des Rechts jedes Menschen auf Gewissens- und Religionsfreiheit wenigstens im Prinzip zurückgezogen.19 Für sie selbst ist diese Selbstkorrektur heutzutage äußerst vorteilhaft. Im Rahmen des modernen Verfassungsstaates nimmt sie nun ihrerseits die staatlich gewährleistete Religionsfreiheit in Anspruch. Sie beruft sich darauf, dass ihr eine korporative, institutionelle Religionsfreiheit zustehe, die aus der staatlich geschützten persönlichen Religionsfreiheit ihrer Gläubigen abzuleiten sei. In ihrer Bejahung individueller Menschenrechte ist sie allerdings nicht konsequent. Vor allem für den kirchlichen Binnenbereich erkennt sie ihre Verbindlichkeit bis heute nicht an, weil die Grundrechte, namentlich die Religionsfreiheit sowie weitere Freiheitsrechte nur für den Staat, nicht aber für die Kirche gültig seien und weil die kirchlich-hierarchische Binnenstruktur den Vorrang haben müsse.

Eigentlich muss es überraschen, dass dieser Standpunkt der katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland noch in der Gegenwart in der Regel ohne substanziellen Widerspruch hingenommen wird – bislang auch noch vom Bundesverfassungsgericht20 sowie oftmals in rechtswissenschaftlicher Literatur.21 Er hat weitreichende Folgen, zum Beispiel hinsichtlich der Einschränkung der Grundrechte von Beschäftigten in kirchlich getragenen Einrichtungen des Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesens.22 Immerhin wird das Problem heutzutage öffentlich diskutiert und nicht mehr gänzlich tabuisiert. Unter dem Druck des Bundesarbeitsgerichts23 mussten die katholischen Bischöfe ihr kirchliches Arbeitsrecht im Jahr 2015 ein Stück weit öffnen, so dass sie jetzt, wenigstens vordergründig, Grund- und Beteiligungsrechte ihrer Beschäftigten in etwas höherem Maß achten als zuvor.24

 

Zweitens: Das Subsidiaritätsprinzip – eine katholische Idee?

Mithin erkennt die katholische Kirche seit dem späten 20. Jahrhundert zwar nicht für sich selbst, aber bezogen auf den Staat Demokratie, säkulare Rechtsnormen und Menschenrechte formal an. Für ihr heutiges Bild des Staates ist noch ein weiterer Punkt relevant, nämlich das Subsidiaritätsprinzip. Diesem zufolge hat der Staat zu respektieren und zu fördern, dass eine Gesellschaft »von unten«, von den einzelnen Menschen sowie von kleineren, lokalen und regionalen Gemeinschaftsformen her aufgebaut ist. In der einschlägigen Enzyklika »Quadragesimo anno« aus dem Jahr 1931 heißt es in Nr. 79, es verstoße »gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen«. Sodann lautet Nr. 80:

»Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung, die nur zur Abhaltung von wichtigeren Aufgaben führen müßten, soll die Staatsgewalt also den kleineren Gemeinwesen überlassen«.

Heute wird im katholischen Schrifttum hervorgehoben, dass dieses Prinzip der Subsidiarität, das im Jahr 1931 im Blick...

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