Christoph Ransmayr
Genug! Genug. Eines Tages ist es genug.
Kauern wir unter wehenden Eisfahnen?
Liegen wir erschöpft unter dem Kreuz des Südens
in einer mondlosen Tropennacht? Es ist genug.
So weit sind wir gegangen
so hoch sind wir hinaufgestiegen, immer höher
bis uns der nächste Schritt ins Blaue geführt hätte
in die Wolken, nur noch ins Leere.
Über Packeis, Gletscherspalten, Geröll
und die Dünensicheln des Großen Sandmeers
sind wir gezogen, getaumelt, bis hierher
bis an den Rand unserer Kraft.
Aber eines Tages, aber jetzt
ist es genug.
So lange haben wir bloß geträumt:
von den Eiskronen der Pole
von den Quellflüssen des Amazonas, Niger und Nil.
Von den flimmernden Seen der Luftspiegelungen
in den Wüsten Takla Makan, Gobi und Tanezrouft.
Geträumt von Gipfeln: Nanga Parbat, Shisha Pangma
Dhaulagiri und Chogori und Makalu
und schließlich sogar davon, daß unter unseren Füßen
der höchste aller Berge läge: Sagarmatha! Chomolungma.
Der, den die einen mit heiligen Namen tauften
und andere aus der Ferne bewarfen
mit dem Namen des Landvermessers George Everest.
Er, der allerhöchste unter unseren Füßen!
Genug. Eines Tages tragen unsere Ziele
entweder den Schmuck unserer Spuren
Felswände die Kerben von Eisäxten
die Schneekuppen der oberen Troposphäre
Wimpel, Gebetsfahnen
und Dünen das verwehende Gewirr unseres Auftritts
oder Wildnis, Schnee, Sand und Morast
bleiben ungeschmückt und es zwingen uns zur Umkehr:
Orkan. Hunger. Wunden. Höhenwahn. Fieber. Angst.
Die Erschöpfung oder das Heimweh.
So oder so:
Eines Tages kehren wir unseren Träumen den Rücken
und machen uns auf den Weg in die Tiefe
zurück zu den Menschen.
Wie viele sind wohl vor uns
auf diesem Weg verschwunden, ins Eis gesunken
in fauliges Wasser, in den Abgrund, den Treibsand?
Der Weg zu den Menschen, zurück ins Vertraute
verzehrt noch größere Kräfte
als die Routen ins Innere eines Traums.
Aber wir wollen doch nur dorthin
wo wir herkommen
wir wollen, sagen wir, keuchen wir, heulen wir
nichts wie weg
wir wollen nach Hause!
Du schwarzer Himmel! unter dem wir jetzt
so allein sind.
Was haben wir nicht alles auf uns genommen
seit jenem Morgen, an dem wir unser Bett
das Haus, die Liebsten verlassen haben
und auf und davon gegangen sind.
Auf und davon!
Nächte in Schneehöhlen, Polarlichter, Luftspiegelungen
haben wir gegen eiserne Tagesordnungen getauscht
saubere Bettwäsche gegen ein Biwak im Eis
von Rosen gesäumte Seepromenaden gegen Treibsand
ein candle light dinner gegen Hunger und Krämpfe
Sommerabende gegen die arktische Finsternis.
Dort die allgegenwärtigen Nachbarn
hier die Verlassenheit,
dort Milchseife, Lidschatten, Lavendel
hier Würmer und Fliegenlarven unter der Haut.
Rachen und Mund wie in Flammen
die Zunge ein verkohltes Stück Fleisch.
Dieser Durst.
Der Durst war die schlimmste aller Plagen.
Oder war es die Atemnot?
Neunundzwanzigtausend Fuß über dem Spiegel des Meeres
haben wir um Luft gehechelt.
Wie Himmelsmatrosen zur Wolkenbestattung
in unsere Schlafsäcke geschnürt
an Felsbalkone und Zinnen genagelt
haben wir im Stehen zu schlafen versucht
weil unter hängenden Eiswänden
kein Platz zum Liegen war.
Der Himmel über unserem Ziel
war von einem so dunklen, metallischen Blau
daß uns selbst um die Mittagszeit Sternbilder erschienen:
Schwan, Delphin, Drache, Andromeda.
Atemnot, Höhenwahn, alles, was dort, wo wir herkamen
unerträglich schien
haben wir ertragen
und sind Schritt für Schritt
Graten und Schneepyramiden entgegengetaumelt
die Schritt für Schritt zurückwichen vor uns.
Und wozu alle Plagen?
Auf höchste und heilige Berge sind wir gestiegen
weil sie da waren, einfach da.
Ach ja, sie standen im Weg
zwischen uns und der Ferne
ach ja, und eine unsichtbare Linie
schien durch Gletscherabbrüche und Kaskaden aus Stein
in die Höhe zu führen, weiter hinauf
ein Faden, nur für uns sichtbar
durch ein vertikales Labyrinth
ins Leere
unser Weg!
Der Ozean, die Meere haben uns verführt
weil unter einem von Wellenkämmen gefiederten Horizont
das nie Gesehene lag
ungetaufte Häfen, namenlose Gärten, unser Glück.
Was ist und was war, konnte nicht alles sein.
Und so haben wir selbst im Herzen der Wüste
blühende Städte vermutet, Oasen, weiße Paläste, Zarzura
das Paradies.
Genug!
Was es auch war, was wir hatten
es war niemals genug.
Denn dort, weit draußen und über den Wolken
ja selbst in der Finsternis der pazifischen Tiefsee
irgendwo dort unten, dort oben
mußte etwas zu finden sein
das zumindest entfernt
den Malereien unserer Tagträume glich.
Und so gingen und stiegen und drifteten wir
trudelten, schwammen wir weiter
von einem Pol zum andern, über Ozeane
und die weißen Ketten des Himalaya und Karakorum hinweg
und den Äquator entlang
und bogen so unsere Wege zum Kreis.
Und eines Tages, unter wehenden Eisfahnen
das Kreuz des Südens hoch über uns
war es genug und wir kehrten glücklich
oder gezwungen von irgendeiner Not
unseren Träumen den Rücken und sagten
genug, wir wollen nach Hause.
Seltsam, wie fern
am Rande der Erschöpfung, am Ziel
alles Vertraute erscheinen kann.
Unerreichbar das Bett, die Wohnung, die Liebsten.
Der Gipfel des Chomolungma, der Everest unter unseren Füßen
Zarzura, die weiße Stadt, zum Greifen nah!
Aber unser Bett: unerreichbar.
Unsere Zuversicht, unsere Kräfte, Wasser und Brot
selbst die Luft in den Lungen – alles erschöpft, alles zur Neige
nur Weite, Tiefe, Verlassenheit
davon gibt es auch jetzt noch und immer genug.
Ein Königreich für ein Bett!
Nichts wie weg, heulen wir, weg von hier
nichts wie zurück.
Wer sein Ziel erreicht hat, wer in der Ferne
ganz oben, ganz unten angekommen ist, wir nämlich
der muß erkennen
daß noch nicht einmal die Hälfte der Strecke hinter ihm liegt
daß die Flucht zurück ins Vertraute
länger und schmerzhafter werden kann
als der Weg ins Ungewisse jemals war.
Genug! Zurück! Weiter!
Alles sind wir bereit zu ertragen, alles
um endlich dort anzukommen
von wo wir aufgebrochen sind vor einer Ewigkeit.
Aber wie langsam und widerwillig
uns nun das Vertraute entgegenkommt
unerträglich langsam
so wie damals der Südgipfel des Everest
oder die dunklen Buchten von Nowaja Semlja.
Entgegen? Es schwindet mit unseren Kräften
scheint schon verloren.
Jetzt, wo wir endlich nach Hause wollen, hinab in die Tiefe
weicht das Nächste und Liebste vor uns zurück.
Träumen wir?
Zwischen Brechern, Graten, verschneiten Felszinnen
von Daunen und Federkissen? Von unserem Bett?
Vielleicht, träumen wir, vielleicht, eines Tages
unter wehenden Eisfahnen?
in einer mondlosen Tropennacht?
werden wir ankommen.
Türen werden sich öffnen, keine Abgründe
Arme, keine Spalten im Eis.
Wir werden umarmen und umarmt werden.
Rotweinkaraffen, Gärten, gedeckte Tische, alles
wird leuchten in den Farben unseres Heimwehs
alles so, wie es war.
Und in der Nacht nach unserer Rückkehr
werden wir schlafen, zum erstenmal seit Monaten
seit einer Ewigkeit schlafen, ohne zu träumen
überwältigt vom Glück, wieder zu sein
wo wir vor langer Zeit waren.
Schlafen werden wir
bis ein Geräusch uns weckt, ein Wort und noch eines
klingende Namen, Nanga Parbat, Cho Oyu, Gasherbrum
Stimmen aus einer Tiefe, in die kein Lot mehr hinabreicht, kein
Seil Makalu, Amazonas, Takla Makan, Annapurna, der Südpol!
Ein Stimmengewirr, ein Chor
und sein Refrain: Auf und davon! Auf und davon!
Schiffsschrauben, Triebwerke, die Kufen eines Hundegespanns
das Knirschen von Schritten im Schnee und im Sand
auf und davon, flüstert, braust es in unseren Ohren
auf und davon, wer bleibt, ist...