Zu dumm zum Weltretten?
Lange nahmen wir guten Glaubens an, dass die Intelligenz des Menschen kein evolutionärer Zufall war. Es gibt durchaus Anzeichen, die den kleinen Zweifel nährten, ob der Homo sapiens seine Entwicklung wirklich vollendet hatte. Bis in die jüngste Geschichte nämlich scheinen wir in geradezu animalischen Strukturen der Urzeit zu leben: Alle Herden, alle Sippen, in der Wirtschaft, in der Politik, wo auch immer, regieren und führen die Stärksten, möglicherweise die Gewitztesten, selten die Klügsten.
Dass dieses vorherrschende Ordnungssystem gerade in modernen Gesellschaften kaum infrage gestellt wird, ist nicht schlau und begründet zu Recht die Skepsis gegenüber der Intelligenz des Menschen. Vielleicht ist es ein Relikt des ursprünglichen Instinkts, das uns seit Jahrtausenden glauben lässt, dass Muskelkraft und Drohgebärden über jeden Zweifel erhaben sind und die Vorherrschaft garantieren.
Einfache Lebewesen und höhere Primaten gestalten ihr Zusammenleben ausschließlich instinktiv, sie haben weder das notwendige Bewusstsein noch das Denkvermögen, um aus Erfahrungen zu reflektieren und sich neue Varianten einer gemeinschaftlichen Struktur auszudenken. Der aus dem Kampf hervorgegangene Sieger wird zugleich Sippenvorstand. Ende.
Wir aber, Menschen, die, so nehmen wir an, bisher klügste aller Spezies, die der Evolution gelungen ist, veränderten nichts an dieser Organisation. Zwar entscheiden nicht mehr fliegende Fäuste und physische Kraft, es zählt, wer den größten Machthunger hat und das zäheste Sitzfleisch besitzt. Immerhin, und das gibt Hoffnung, haben wir es geschafft, die Demokratie hinzubekommen. Doch auch in dieser gelingt es uns nicht, eine Ausgewogenheit an gesellschaftlicher Repräsentanz zu realisieren.
Zwar sind es nicht mehr die Stärksten, die unseren Staat gestalten, man findet nur auch keine Schwachen, die helfen, eine gute Basis für alle zu gestalten. Welche Zusammensetzung des Bundestags wir auch unter die Lupe nehmen, das Bild der beruflichen Verteilung ist stets eine ähnliche: Wir werden seit Beginn der Bundesrepublik regiert von Juristen, Berufspolitikern und Lehrern. Dieses fachlich monotone Potpourri, das in keiner Zeit den Durchschnitt der Bevölkerung abbildete, somit auch den Begriff der Realpolitik ad absurdum führte und sich über Jahrzehnte in der Realisierung einer reinen Klientelpolitik zeigte, ist für Politiker selbst kein Grund zur Sorge. Man witzelt höchstens darüber. »Der Bundestag ist mal voller und mal leerer, aber immer voller Lehrer«, soll Otto Graf Lambsdorff, in den 1970ern Wirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland, einmal gesagt haben. Er war übrigens Jurist.
Viele Jahre später, in der zweiten Zukunft, werden wir uns einen weiteren Witz erzählen. Er wird lauten: »Man braucht Informatiker in der Regierung. Die haben gelernt, dass ein Neustart das Problem löst, wenn das System hängt!« Die bittere Wahrheit, die hinter der regierungspolitischen Absenz von Computerspezialisten und Programmierern, IT-Fachkräften und Digitalexperten liegt, verkennen wir: Sie sind in diesen Zeiten vollends damit beschäftigt, unsere Gesellschaft so umzubauen, dass man Juristen, Berufspolitiker und Lehrer nicht mehr benötigt.
Ungeachtet dessen optimieren wir fleißig weiterhin das Falsche, anstelle das Richtige zu tun. Während in Schwellenländern bereits erfahrene Informatiker als IT-Minister durch geschickte politische Weichenstellung das Zeitalter der Digitalisierung einleiteten, zählen wir Programmierer exakt 3 im Bundestag. Nüchtern betrachtet, fehlt für die Akzeptanz und Nähe zu den Bürgern das notwendige Spiegelbild: Einer Regierung, bestehend aus wenigen Berufsgruppen, trauen die wenigsten die vielfältige, notwendige Fachkompetenz zu. Um jene zumindest dem Anschein nach zu erlangen, bedarf es zahlreicher externer Berater, die Kompetenz ins hohe Haus bringen. Darin beginnt das Problem: Unsere Demokratie entwickelt sich hin zu einer meritokratischen Lobbykratie. An den Bedürfnissen des Bürgers vorbei wird Klientelpolitik pervertiert: Immer mehr für die Wirtschaft, sodass am Ende nichts übrig bleibt für die Gesellschaft. Explodierende Lebenshaltungskosten, wachsende Wohnungsnot, prekäre Niedriglöhne – die Liste der Probleme ist eine lange.
Weil die Probleme einer spätkapitalistischen Wohlstandsgesellschaft jeweils nur Minderheiten betreffen und solange die Mittelschicht glaubt, zu den Vermögenden zu gehören, werden jene zwar wahr-, aber nicht ernst genommen. Obgleich 2015 ein Mindestlohn eingeführt wurde, arbeiteten 2016 laut dem Deutschen Institut für Wirtschaft (DIW) immer noch 2,4 Millionen Erwerbstätige unterhalb des Mindestlohns. Mietpreisbremse? In Zeiten der ungebremsten Wohnungsnot suchen sich Vermieter diejenigen Mieter aus, die am meisten bezahlen können. Der enorme Pflegenotstand wurde erst dann in Angriff genommen, als er gewiss nicht erfolgreich gelöst werden konnte, weil der Fachkräftemangel inzwischen bereits übergroß geworden war. Der Gesundheitsminister verspricht im Sommer 2018 13000 neue Stellen zu schaffen, wohl wissend, dass Pflegedienste und Altenheime bereits seit Jahren große Lücken in der Belegung des Personals haben.
Politik verkommt zur Vergangenheitsbewältigung, Politiker werden zu Archäologen der Gegenwart und geben eine Unterlassungserklärung an die Zukunft ab. Dies bleibt nicht ohne Wirkung bei uns Bürgern. Eine internationale Umfrage der Organisationen »Rasmussen Global« und »Alliance of Democracies« bestätigte, was wir seit geraumer Zeit längst spürten: Das Volk, wir Bürger, haben der Demokratie die Vertrauensfrage gestellt. Mehr als die Hälfte der Befragten der Studie kritisierten, dass »ihre Stimme selten oder nie von der Politik gehört« wird, knapp zwei Drittel gaben sogar an, dass ihre Regierung »nicht in ihrem Interesse handelt«. Statt endlich die Probleme der modernen Gesellschaften westlicher Industriestaaten anzugehen, die Gräben, die der Neoliberalismus in sie gerissen hat, zu schließen, müht sich die Politelite seit Jahren an ein und demselben Thema ab, denn es eignet sich perfekt dafür, um als populistische Projektionsfläche, als Sündenbock für jahrelang vorausgegangene Fehlentscheidungen bei sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Fragen missbraucht zu werden: der Flüchtling.
Wir leben in einer Zeit, die an politischer Schäbigkeit nicht zu überbieten ist, und lassen es uns bieten. Wer den demokratischen Prozess infrage stellt oder gar nicht mehr an ihn glaubt, resigniert zunehmend und lässt Schlechten und Schlächtern den Raum, um noch mehr Schaden anzurichten. Um die freiheitliche Demokratie zu bewahren, muss die Mehrheit jetzt ihre Stimme erheben, war Mitte vergangenen Jahres in der Süddeutschen Zeitung zu lesen. Nur: Wie kann man überzeugend etwas verteidigen, dessen Existenz man anzweifelt?
Es bräuchte gute, fundierte, alternative Konzepte zu den existierenden Problemen, um die Demokratie zu schützen. Echte Lösungen für die wirklichen Probleme. Die aber sind nicht in Sicht. Ob Regierungsparteien oder weite Teile der Opposition, in einem war man sich einig: Die Flüchtlingsströme muss man in den Griff bekommen. Umweltschutz, soziale Sicherung, der Wandel ins Digitalzeitalter, Wohnungsnot, steigende Armut bei steigenden Zahlen an Millionären – das alles wurde hintangestellt. Wir verlieren kostbare Zeit, weil wir nicht zu Ende denken, und verlieren selbst das Futur aus dem Fokus.
Dennoch sind wir uns nach wie vor sicher, dass die Menschheit gescheit genug wäre, um ihre Probleme in den Griff zu kriegen, wenngleich die Klugheit nur das Resultat aus Schaden war und permanenter Schaden somit unumgänglich ist. Das jedoch ist der große Irrtum. Die jüngste Vergangenheit zeigt nämlich, dass der Mensch zwar über Intelligenz verfügt, sie aber nur ungern für das Gemeinwohl einsetzt. Je komfortabler es ihm der Fortschritt machte, umso unbequemer wurde das Denken. Das Gehirn zu nutzen kostet Kraft, und immer mehr Menschen entdecken augenscheinlich für sich den Energiesparmodus. Ähnlich verhält es sich mit der Klugheit: Selbst die größten Schlachtfelder brachten nur selten und wenn, geringe Erkenntnisgewinne zutage.
Würde der Mensch aus Schaden ernsthaft klug, hätte es nie einen Plural für Weltkrieg gegeben.
Wir wurden im besten Fall nur dann klug aus einem Schaden, wenn wir selbst geschädigt wurden. Wenn ein anderer geschädigt wird, reicht das nicht in unserer Zivilisation, denn wir leben in einer Gesellschaft, in der Werte wie Ethik und Moral, Empathie und Mitgefühl über die Jahre hinweg dem neoliberalen Rotstift zum Opfer fielen. Je mehr Güter wir uns leisten können, umso weniger Gutes können, oder wollen, wir uns leisten. Je weniger Gutes in der Gesellschaft verankert ist, umso größer gründet das individuelle Handeln auf Gewissenlosigkeit.
Natürlich wissen wir um den Klimawandel und die damit einhergehenden Veränderungen. Der Meeresspiegel steigt ungebremst und unumkehrbar. Diese Winzigkeit, die im Verhältnis eines unendlichen Ozeans den Anschein der Absurdität erhält, war bereits zu Zeiten des Pariser Klimaschutzabkommens im Jahr 2015 Grund dafür, dass die Bewohner der Fidschi-Inseln ihre Koffer packten und in höhere Gebiete umsiedelten. Nun sind die Fidschi-Inseln am anderen Ende der Welt, und mit jedem Kilometer Entfernung scheint die Bedrohung durch den Klimawandel für uns Menschen kleiner zu werden.
Doch auch hier, direkt in unserer »Nachbarschaft«, haben die Bewohner der Fidschi-Inseln Verbündete gefunden: zum...