VORWORT
WARUM ICH ÜBER FRAUEN UND DEN KORAN SCHREIBE
»Alle Indizien sprechen dafür, dass die Zukunft des Islam im Westen nicht nur von den gewiss nicht gerade unterkühlten Themen ›Menschenrechte‹ und ›Demokratie‹ abhängt, sondern in allererster Linie von der Bewältigung des heißen Eisens ›Frau‹.«
Murad Wilfried Hofmann (geb. 1931)
Soweit mir bekannt ist, hat sich in der Geschichte der Muslime noch nie jemand eingehend mit der Stellung des Mannes im Islam beschäftigt. Vielleicht liegt das daran, dass Gott selbst sich in seiner Offenbarung bei Geschlechterfragen ausdrücklich zur Frau geäußert hat. Es gibt keine Sure namens »Die Männer« im Koran, wohl aber eine Sure »an-Nisa’/Die Frauen« (Sure 4). Die islamische theologische Literatur zum Thema Frau ist umfangreich. In der islamischen Welt, also in überwiegend von Musliminnen und Muslimen bevölkerten Ländern, waren und sind die Verfasser solcher Werke jedoch überwiegend Männer, während in den westlichen Ländern deutlich mehr Frauen Stellung beziehen. Allerdings stehen gerade Autorinnen mit muslimischem Namen aufgrund negativer biografischer Erlebnisse dem Islam oft kritisch bis feindselig gegenüber.
Ich selber unterscheide mich von anderen Autoren und Autorinnen darin, dass ich die Gedanken, die ich hier niederschreibe, mit anderen gläubigen Männern und Frauen teile. Ich schreibe nicht aus der Distanz einer akademischen Forschungsposition heraus, sondern ich schreibe über das, was in meinen täglichen Gesprächen, in meinen Vorträgen und in meinen Freitagspredigten Thema ist. Was hier debattiert wird, findet in meiner Gemeinde statt, und die Ziele, die hier vertreten werden, werden dort in die Praxis umgesetzt und verwirklicht. Dabei wirke ich in der Wahrnehmung dessen, was ich schreibe und predige, in einem heute noch immer mehr männlich als weiblich geprägten Umfeld, wo es durchaus einer festen Entschlossenheit bedarf, vielleicht auch einigen Mutes, um diese Positionen öffentlich zu vertreten und zu verfolgen.
Zur heftig debattierten Frage nach der Frau im Islam stehen Behauptungen und Positionen im Raum – und zwar sowohl von islamophober, wie auch von islamophiler Seite –, die zurechtgerückt werden müssen. Das Frauenthema im Islam ist von Anfang an eng mit dem Koran verbunden. Will man sich zu diesem Thema äußern, so sollte man mit der heiligen Schrift des Islam vertraut sein, um Missbrauch und Desinformation – egal von welcher Seite – zu erkennen und zu vermeiden. Denn allzu oft sind im Namen des Islam – nicht nur in der Frauenfrage – Worte und leider auch Taten in die Welt getragen worden, die diametral gegen den Koran und damit gegen Gott und Seinen Gesandten gerichtet sind.
In unserer Geschichte finden sich zu allen Zeiten und über alle Länder und Religionen hinweg immer wieder wirkmächtige negative Frauenbilder, die sich bis heute fortschreiben. Auch Muslime bilden hinsichtlich dieses kulturgeschichtlichen Problems leider keine Ausnahme und haben es ebenso wenig wie andere Glaubensrichtungen geschafft, sich selbst oder die Gesellschaft von dieser negativen Entwicklung zu befreien. Es ist sogar so, dass uns Muslime das Thema »Frauen im Islam« in besonderem Maße belastet. Ich kann mich an keinen einzigen Vortrag vor Nicht-Muslimen erinnern, bei dem ich nicht aus dem Publikum heraus kritisch über die Rolle der Frau befragt worden wäre. Muslimischen Männern wird vor allem vorgeworfen, sie betrachteten und behandelten die Frauen als zweitrangige Geschöpfe.
Wenn Kritiker, vor allem solche aus dem Westen, Muslime mit entsprechenden Vorhaltungen konfrontieren und behaupten, der Islam lehre, dass eine Frau weniger wert sei als ein Mann, dann wird von Muslimen oft mit einschlägigen Aussagen, wie zum Beispiel »Der Islam hat den Frauen den höchsten Stellenwert eingeräumt« gekontert. Trotz der Richtigkeit dieser Aussage, wird damit das Problem aber oft tabuisiert. Denn solch apologetische Rechtfertigungsbemühungen von Muslimen taugen weder als glaubhafte Erwiderungen, noch werden sie zur Verbesserung der Lage der Frau in muslimischen Gesellschaften führen. Muslime sind, bewusst oder unbewusst, mit den Standards, die der Koran selbst setzt und einfordert, in Konflikt geraten. Sie können diesen Standards erst gerecht werden, wenn sie auch die Frau unter dem Blickwinkel jener allgemeinen Werte beurteilen, die der Koran fordert, wie zum Beispiel: Gerechtigkeit. Eine praktizierende und hoch gebildete Muslimin beklagte sich einmal bei mir: »Die Muslime, besonders die Religionsgelehrten, reden und predigen viel von Gerechtigkeit, aber uns Frauen behandeln sie ungerecht. Wir dürfen nicht einmal bei der Eheschließung mit demselben Recht wie ein Mann als Trauzeuge auftreten!« Nur durch solches Hinterfragen und durch Selbstkritik können Muslime den hohen Ansprüchen, die die Offenbarung Gottes an uns richtet, gerecht werden und die im Koran gesetzten Ziele erreichen.
In neuerer Zeit arbeiten muslimische Autorinnen und Autoren intensiv an der Überwindung einiger diskriminierender Missstände zwischen Männern und Frauen. Besonders fundiert gehen dabei meines Erachtens zum Beispiel die Arbeiten der Autorin Hidayet Şefkatlı Tuksal: Die Projektion der frauenfeindlichen Rhetorik in der islamischen Tradition1, des Autors Mustafa Öztürk: Die Frau von der Dschahiliya (vorislamischen Zeit) zum Islam2, von Ibrahim Sarmış: Die negative Wahrnehmung von der Frau in der Kultur der Überlieferung3 und von Ali Osman Ateş: Die Frau im auf Hadithen begründeten Klischee4 vor.5 Leider bleiben diese Werke, wie viele Arbeiten der islamischen Theologinnen und Theologen in der Türkei, die dort in wissenschaftlichen Kreisen große Anerkennung finden, außerhalb des Landes weitgehend unbeachtet. Bedauerlicherweise wird türkische theologische Fachliteratur in der Regel weder ins Deutsche noch ins Arabische übersetzt. Solche Forschungsarbeiten sind jedoch gerade heute notwendig und müssten auch stärker von männlicher Seite selbstkritisch beziehungsweise mit mehr Mut für eine aufrichtige Auseinandersetzung mit der Frauenthematik eingebracht werden.
Für die bosnische islamische Zeitung Preporod schrieb ich bisher fünf Artikel zum Thema Frauen und Islam. Fast jeder erntete gleichermaßen Kritik und Zustimmung. Die Kritik ging von Männern aus, jedoch auch die Zustimmung kam überwiegend von Männern, die mich ermutigten weiterzuschreiben. Im Sommer 2018 machte ich mich in Bosnien-Herzegowina und in Mazedonien auf die Suche nach Literatur von einheimischen, bosnisch-albanischen, europäischen Autoren oder Autorinnen über Frauenthemen im Koran und im Islam. Ich fand, zu meinem großen Bedauern, kein einziges Buch! Die wenigen Titel, auf die ich stieß, stammten von arabischen Autoren, die weit weg von Europa lebten. Mein Wunsch ist es nun, dieses Buch auch in andere europäische Sprachen zu übersetzen, um damit anzufangen, diese große Lücke zu schließen.
Das vorliegende Buch basiert auf dem letzten Kapitel meiner Dissertation: Die »horizontalen Aspekte im Islam« (Universität Novi Pazar, Serbien, 2016). Darin plädiere ich dafür, dass in der islamischen Theologie nicht vertikale Verhältnisse, sondern horizontale erkannt werden sollten: zwischen Wort-Gottes und Mensch, zwischen Theologie und Anthropologie, zwischen islamischem Recht und Gesellschaft, zwischen Mann und Frau. Das Gütersloher Verlagshaus hat mich ermutigt, diesen letzten Teil separat in deutscher Übersetzung und Neubearbeitung herauszugeben. Daraus resultierte eine neu strukturierte, stark ergänzte und erweiterte Fassung. Das Buch versucht zuerst eine Analyse der Koranstellen6, die sich mit Frauenthemen befassen, um deutlich zu machen, dass die Intention des Korans darin besteht, Normen und Verhältnisse, die zur Zeit seiner Offenbarung herrschten, zugunsten der Frau aufzubrechen und zu reformieren. Dieser Prozess der Veränderung und Entwicklung zum Besseren ist aber nicht abgeschlossen. Der Koran bietet uns dazu Inspiration, Orientierung und Rahmenbedingungen. Das theologische Prinzip des idschtihad, das heißt des intellektuellen Bemühens, erlaubt uns Muslimen – und fordert uns dazu auf –, uns innerhalb dieses Rahmens weiterzubewegen und neue Impulse zu setzen.
Diese neuen Gedanken und Impulse stoßen freilich oft auf Ablehnung. Schon in der ersten Generation der Zeitgenossen und Gefährten des Propheten Muhammed waren traditionsverhaftete, an Sitten und Kultur ausgerichtete Muslime nicht immer begeistert von manchen Innovationen, die der Koran und der Prophet einführten, wie hier an einigen Beispielen aufgezeigt werden wird. Der Ägypter Muhammad al-Ghazali (gest. 1996), ein einflussreicher Religionsgelehrter des 20. Jahrhunderts (und nicht zu verwechseln mit dem bedeutenden persischen Gelehrten gleichen Namens aus dem Mittelalter) kam in seinem kontrovers rezipierten Werk Das Verständnis der Sunna zwischen Rechtsgelehrten und Hadithgelehrten7 zu dem Ergebnis, dass eine Frau durchaus Staatspräsidentin eines muslimischen Landes werden könne. Wie viele Gelehrte vor ihm, die sich in ihren Schriften, Vorträgen und sonstigen Aktivitäten um eine Verbesserung der Stellung der Frau bemühten, löste auch al-Ghazali heftige Kritik und Aufregung aus. Diese Kritik geht in der Regel von Männern aus, die meinen, die Quellen der Religion wortgetreu verstehen und umsetzen zu müssen. Doch es sind nicht Texte und Zitate selbst, die die Religion ausmachen, sondern die Ziele...