3. »ABI ABI ABI, ABITUR, ABITUR, ABIT-U-U-U-R!«
Man nehme ganz viele Abiturienten, gebe etwas Alkohol dazu und brülle den oben stehenden Vers hinaus – und schon steigt die Party. Aber so weit sind wir noch nicht …
Endlich kamen wir in die Oberstufe. Bei uns an der Schule hieß das Kursstufe. Taschengeld-Diskussionen gab es nicht mehr, da sowieso die meisten ihr Geld zu großen Teilen selbst verdienten.
In der Kursstufe wurden die Klassen, in denen wir sechs Jahre lang waren, aufgelöst. Für manche war das toll, für andere eher schade, auf jeden Fall war es aber aufregend. Wir merkten, dass »die Deppen« aus »der D« und die »Blöden« aus »der B« doch nicht solche blöden Deppen waren. Es veränderten sich außerdem die Strukturen in der Schule. Wohl nicht zuletzt, weil ab der elften Klasse alle Leistungen für das Abitur gewertet wurden. Lernen war gar nicht mehr so uncool, Lerngruppen plötzlich der neueste Schick. Alice wunderte sich zu dieser Zeit besonders über die vielen Mitschüler, die sie auf der Straße plötzlich grüßten, obwohl sie sie vorher – ich zitiere – »nicht mal mit dem Arsch angeschaut« hatten.
Dieselbe Freundin hat natürlich trotz der neuen Lern-Coolness nie für die Schule gelernt, es gibt diese Leute, die von allen immer irgendwie beneidet werden. Sie hatte stattdessen immer etwas Besseres zu tun und außerdem einfach keine Lust. Worauf sie immer Lust hatte, und immer noch hat, ist planen. Zum Beispiel hat sie in der Kursstufe in jeder freien Minute an einer Liste mit allen Universitäten gearbeitet, nach Bundesländern und Städten sortiert. Dann hat sie auf den Websites aller deutschen, österreichischen und Schweizer Unis das Studienangebot nach Fächern durchsucht, die sie interessieren. Eine unglaubliche, echt beeindruckend lange Liste war das.
Auf jeden Fall bildeten sich neue Freundeskreise, und wir lösten uns von der Heimeligkeit der kleinen Schulklassen. Auf einmal waren wir eben nicht mehr nur dreißig Schüler, die endlich raus wollten aus der Schule, sondern hundert.
Es gab viele Stufentreffen außerhalb der Schule, und so war unser Schulgebäude plötzlich nicht mehr der wichtigste Ort, um sich mit Leuten zu treffen, dadurch wurde die Institution an sich deutlich unwichtiger und demnach trotz des neuen Lern-Schicks hinsichtlich der Anwesenheit unsererseits deutlich unterversorgt. Die Unibibliothek löste gewissermaßen die Schule ab. Denn dort versammelten sich alle Abiturienten der Stadt dauerhaft zum Lernen. Die echten Studenten waren dementsprechend genervt von uns.
Am Ende, ganz kurz vor den Abi-Prüfungen brachen ein paar Mitschüler ab. Sie hatten mehrfach ihre Punkte nachgerechnet und sind zu dem Schluss gekommen, dass sie es nicht mehr schaffen würden. Oder der Druck wurde zu groß. Wenn ersteres der Fall war, gab es vor dem Abbruch mit guter mittlerer Reife viele Gespräche mit Schulleitern, Lehrern, und natürlich den Eltern, die meistens mit dem Punktesystem der Oberstufe, Begriffen wie »Unterkurs« und benötigten Fächerkombinationen nicht zurechtkamen und denen dann alles zwei-, drei- oder sogar viermal erklärt werden musste. Wurde der Druck zu groß, gab es vor allem Gespräche mit Vertrauenslehrern und Schulpsychologen, allerdings kamen diese Abbrüche für die Allgemeinheit immer eher plötzlich. Fast alle anderen, so auch ich, verbrachten ihre Osterferien mit Lernen. Diese zwei Wochen waren gut geeignet, sich auf die Prüfungen nach den Ferien vorzubereiten, vor allem für die, die noch kaum gelernt hatten. Der Rhythmus war ungefähr so: Um sieben oder acht aufstehen, frühstücken, dann ab in die »Unibib«. Dort wurde auch zu Mittag gegessen, abends ging es gegen neun Uhr zurück nach Hause, ins Bett. Am nächsten Tag das Gleiche wieder. Und wieder. Und wieder.
Warum wir alle so am Pauken waren? Jeder von uns musste Mathe im Abi machen. Und (fast) jeder von uns war schlecht in diesem Fach. Sehr schlecht, wirklich. Ich persönlich habe nur für Mathe gelernt. Für die anderen Fächer mussten ein paar mehr oder weniger informative Filme ausreichen – das war’s. Die zwei Lernwochen mussten außerdem halbwegs effizient genutzt werden, schließlich schrieben wir direkt vor den Abi-Prüfungen auch noch normale Klausuren. Zusätzlich würde der Unterricht nach den Ferien ganz normal weitergehen. Meine Stiefmutter nennt das Abitur seitdem »Belastungstest«. Sie meint, das alles hätte kaum noch etwas mit Wissen zu tun. Da ist was dran.
Besoffen Abi schreiben
Nach jeder Prüfung habe ich den dazugehörigen fetten Schulordner vernichtet. Meine beiden Brüder haben fasziniert zugeschaut. Sie machen dieses Jahr ihren Hauptschulabschluss, also ein Jahr nachdem ich Abi gemacht habe. Das ist übrigens auch eine nicht zu verachtende Leistung – ich könnte nicht nach drei Jahren auf Persisch einen Schulabschluss machen, wenn ich vorher hier in Deutschland knappe vier Jahre zur Schule gegangen wäre. Jedenfalls war dieses Schulordner-Zerstören jedes Mal eine unglaublich befriedigende Sache. Eine Freundin von mir hat alle Hefte und Ordner aufgehoben. Wozu bloß? Aber die meisten von uns haben alles zerstört, teilweise sogar verbrannt. Am Ende waren wir wohl doch nicht mehr so gerne in der Schule. Bevor wir unsere Ordner zerstörten, wurde deshalb immer fett gefeiert. Es fand eine Dauerparty im Park statt, die genauso lange dauerte wie die Prüfungsphase, also zwei Wochen. Irgendwie haben wir es alle geschafft, nicht ständig völlig (sondern nur ein bisschen) betrunken zu den Prüfungen zu kommen und somit die Diskrepanz zwischen »ich bin cool, weil ich gute Noten habe« und »ich bin cool, weil ich trotz der morgigen Prüfung voll abfeiere« ganz gut überwunden. Wäre wohl eine Alkoholvergiftung ein medizinischer Grund gewesen, aus dem man die Prüfung hätte nachholen dürfen?
Unverstanden: mein Wunsch nach Freiheit
Nach den Prüfungen kamen die ersten Zusagen von den Unis oder Ausbildern. Manche wollten aber noch ein FSJ, ein Freiwilliges Soziales Jahr, machen. Viele meinten allerdings, dass sie nach dem Abitur nicht direkt wieder etwas machen wollen. Ich gehörte auch dazu. Wir wollten einmal zu nichts verpflichtet sein. Einmal nicht wissen, dass die freie Zeit in vier Wochen schon vorbei sein würde. Gut, Letzteres trifft vielleicht dann doch wieder nur auf eine Minderheit zu, aber mir war das superwichtig. Ich freute mich so sehr darauf, nach der Zeugnisverleihung endlich nichts, absolut nichts machen zu müssen (außer mal die Spülmaschine auszuräumen oder so). Das war auch – nicht nur in meiner Familie – ein riesengroßer Streitfaktor. Einer meiner Freunde wurde fast zu Hause rausgeschmissen, weil seine Eltern darauf bestanden, dass er sich einen Plan zulegt. Sie konnten es nicht ertragen, dass ihr Sohn einfach nur »faul« sein wollte. Sie machten sich Sorgen um seine Zukunft. Als Abiturienten haben wir uns bei der kleinsten Frage nach dieser, unserer Zukunft angegriffen gefühlt. Wir wurden wohl zu oft danach gefragt, hatten grob gesagt die Schnauze voll davon. Aber die Frage »Und, was machst du nach dem Abitur?« habe ich innerhalb des letzten halben Jahres in der Schule mindestens fünfzigmal gestellt bekommen. Von jedem, der mir über den Weg lief. Das macht verdammt aggressiv, vor allem dann, wenn du nicht nur keinen konkreten Plan haben willst, sondern generell keine Ahnung hast, was du tun würdest, wenn du dich für etwas entscheiden müsstest. So ging es mir. Weil jeder, der bereits eine Zusage von irgendwo hatte, mir wie ein Außerirdischer vorkam, habe ich Lars (ich hielt ihn für ein »Arschloch aus der A«, bis wir beide in der Oberstufe mit ganzen sechs anderen im Französischkurs saßen) gefragt, aus welchen für mich unerklärlichen Gründen er schon jetzt so unbedingt sein Abreisedatum für sein FSJ in Indien wissen wollte. Seine Antwort (an die genaue Wortwahl erinnere ich mich nicht mehr, leider): »Ich habe Ziele, und die will ich erreichen.« Daher nehme ich an, dass diejenigen, die direkt nach dem Abitur eine Aufgabe brauchten, schon seit Längerem mit einer bestimmten Idee herumliefen. Sie erfüllten sich quasi einen Wunsch. Sei es, dass Person X Medizin studieren, aber die Zugangsvoraussetzungen für das Studium verbessern möchte – dann macht die Person das FSJ. Oder aber die Eltern wollen es einfach. Diejenigen, bei denen Letzteres der Fall ist, beneide ich nicht. Das sind die mit den Eltern, die immer bestimmen wollen, was als Nächstes im Leben ihrer Kinder passiert – vielleicht ist es ja gut gemeint. Aber das sind auch die, die Medizin studieren müssen, weil Mama oder Papa Mediziner ist. Die, die immer unendlich viel Druck bekommen, selbst dann, wenn sie ihr Leben im Griff haben. Die, die immer die Besten überall sein müssen, und vor allem: möglichst so gut wie (oder besser als) ihre Eltern, die auch die Besten in allem sind und es schon immer waren. Wenn sie ein Hobby haben, das den Eltern fremd ist, versuchen diese, es ihren Kindern wieder auszureden und üben immer mehr Druck aus. Klar, das ist ein Extrem, aber eine Klassenkameradin von mir führt tatsächlich so ein Leben. Sie ist die eine, die immer geweint hat, wenn sie »nur eine zwei« bekommen hat.
»Nichtstuer« müssen sich rechtfertigen
Ich war noch minderjährig, als ich endlich fertig war mit der Schule. Und dann sind die Möglichkeiten echt begrenzt.
Wer nicht besonders hilfreich war in dieser Zeit, das waren – wer hätte es gedacht? – meine Brüder. Wir hatten eigentlich immer ziemlich viel Spaß zusammen, aber als ich meinen Abschluss endlich machen konnte, wurde es schräg. Drei Gleichaltrige, und nur einer ist fertig mit der...