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Leben: Was wir wirklich brauchen
Es war das Jahr des Milans, und ich wollte hoch fliegen. Doch wer die Götter herausfordert, sollte sich warm anziehen. Später fragten mich Freunde, ob ich es bereuen würde, aber das war eben später. Und so stand ich mitten in der Wildnis zwischen zwei Flüssen und starrte auf die Wassermühle. Mein Auto voller Bücherkisten, mein Kopf voller Ideen, mein Hund rannte über die große Wiese zum Wasser. Es war sonnig, der Himmel blau, das grüne Eisentor zur Zufahrt schloss ich.
Hier war der Ort, nach dem man sich sehnt, wenn man dem Druck entkommen will.
Ein hörbares Ausatmen, obwohl bei der Schlüsselübergabe der Satz fällt: »Die versichert keiner mehr – da wird zu oft eingebrochen!« Natürlich hat mich das verunsichert, aber ich hatte einen Ruf als Lernforscherin an die Universität erhalten, wollte nun in aller Ruhe forschen und schreiben und hatte ja schließlich Nike bei mir – die griechische Siegesgöttin aus dem Tierheim, die so hieß, weil sie Brandwunden und anscheinend auch Schläge überlebt hatte. Wenn ich ein Streichholz anzündete, um den kanadischen Holzfällerofen anzufeuern, zuckte sie zusammen. Wenn ich die Hand hob, auch. Nike war bissig. Zweimal war ich mit ihr beim Tierarzt gewesen, um sie einschläfern zu lassen. Konnte es dann aber nicht. Halti, Hundetrainer, Maulkorb – das volle Programm.
Aber hier in der Wildnis konnte sie niemanden beißen, wir würden zur Ruhe kommen, sie könnte sich auf der riesigen Wiese neben der Mühle austoben und ich über meinen Forschungsschwerpunkt »Motivation« schreiben – wirksam in meinem neuen Beruf werden und vielleicht auch privat endlich glücklich. Oh Fortuna! Ich dachte, es sei ein idealer Ort für die nächsten Jahre.
Als ich an diesem sonnigen Herbsttag einzog, Fensterläden öffnete, Möbel rückte und Kiste für Kiste auspackte, zog es mich zwischendurch immer wieder über die marode Terrasse den Weg hinunter zum Wasserfall hinter dem Haus. Hier wurde der Strom erzeugt. Eine unbändige Freude überkam mich, in die sich aber auch ab und an Gedanken über die knallharten Winter hier im Hunsrück und die einsamen Nächte an diesem entlegenen Ort mischten.
Als Frau alleine in der Pampa mit einem mittelgroßen Schäferhundmischling … Ich versuchte mich durch den Gedanken zu beruhigen, dass die Mühle Teil einer großen Burganlage war, die rund einen Kilometer oberhalb auf dem Berg lag. Ein großer, bärtiger Trappertyp, Ewald, der Gutsverwalter der Burg, würde gelegentlich herkommen, um nach der Schleuse hinter dem Haus zu sehen, und hatte mir im entscheidenden Vorgespräch gesagt, ich solle mir wegen der Nächte keine Sorgen machen, er sei Tag und Nacht telefonisch erreichbar. Und falls ich nachts Einbrecher vermute, solle ich anrufen – er sei dann zügig mit dem Jeep da. Ich ging einfach davon aus, dass er, als Jäger, dann auch seine Knarre dabeihaben würde.
An jedem Ort erleben wir ein verändertes Ich, und an diesem Ort war ich voller Energie, denn die Mühle war sozusagen ein Motivationszentrum. Der Maklerin wollte ich schon absagen, hatte mich aber im letzten Moment doch dafür entschieden, es auszuprobieren – vielleicht, weil ich die Befunde der Risikoforschung kannte: Risiken einzugehen erzeugt diese leichte Spannung, die uns freudig stimmt und so das Wohlbefinden erhöht. Es ist das empfundene Risiko selbst, das uns diesen Reiz verleiht, uns unser Selbst neu probieren lässt und uns glücklich macht.
Zudem erhöht Risikofreude die Wahrscheinlichkeit für neue Chancen im Leben, und je offener wir Chancen tatsächlich wahrnehmen, desto größer ist die Möglichkeit, dass etwas davon auch tatsächlich als freudestiftend erlebt wird. Ein Risiko einzugehen erhöht schlicht die Wahrscheinlichkeit von Glück, denn vielleicht gefällt uns ja, was wir ausprobieren. Explizit nicht gemeint ist hier freilich selbstgefährdende Waghalsigkeit, denn die korreliert nicht mit Glück, sondern mit einem Vakuum an Intelligenz.
Entscheidend für genau diesen leicht risikoreichen Wohnort war auch, dass Nike und ich gerade heftige Zeiten in Norddeutschland hinter uns hatten: Bei einem Essen mit einer studentischen Projektgruppe in einer Pizzeria kam der im vollbesetzten Restaurant stark geforderte Kellner im schicken italienischen Maßanzug mehrfach zügig an den Tisch gesaust. Nike war seit Jahren lieb gewesen, und ich hatte sie mitgebracht. Nun aber lag sie unter dem Tisch und knurrte den Kellner gelegentlich leicht an. Ich wollte gehen, vertraute Nike einem meiner Lieblingsstudenten an und verschwand noch kurz auf die Toilette. Als ich zurückkomme, sehe ich, wie Nike unter dem Tisch hervorschießt. Ich schreie laut auf, aber es ist zu spät: Sie beißt den Kellner ins Bein. Ich ersetzte seinen Designeranzug; er zeigte mich Gott sei Dank nicht an. Aber nach dieser Beißattacke, einigen Telefonaten mit meiner Familie und einem tränenreichen Aufenthalt bei meiner Tierärztin entschloss ich mich, längere Spaziergänge mit ihr nur noch nachts auf menschenleeren Straßen zu machen.
Eingesperrt im dritten Stock einer mit Büchern, Klavier und Pizzakartons vollgestopften Fünfzig-Quadratmeter-Wohnung, mit freiem Blick auf eine Prostituiertenwohnung im gegenüberliegenden Plattenbau, kam meine Psyche – und wahrscheinlich auch die von Nike – jenem Zustand bedenklich nahe, den Häftlinge manchmal erleben, wenn ihnen bewusst wird, dass sie die Türen nicht mehr öffnen können: eine Mischung aus Zwangsstörungen, Depression und Wutanfall – vom vorübergehenden Haftknall bis hin zur manifesten Haftpsychose. Manchmal mischt sich die Hoffnung auf Begnadigung mit diesen Symptomen – zuweilen gewendet in einen hartnäckigen Begnadigungswahn.
Monatelang hatten wir so im Begnadigungswahn gelebt: Ich am Schreibtisch zusammengesunken, mit der rechten Hand an der Tastatur und der linken Nikes Kopf kraulend.
Lust auf Lebenskraft
Manchmal sehnt man sich nach ruhigem Glück wie nach einem Menschen. Und man geht die Wände hoch vor Sehnsucht. Nähert man sich dann, wird man schneller und freudiger. Ich war am Tag der ersten Besichtigung vom Münsterland aus losgefahren, hatte das Ruhrgebiet und die Eifel durchquert. War in eine kleine Landstraße eingebogen und bergab durch sonnige Wiesen und gepflügte Äcker gefahren. Der weite Himmel, die schwere Erde. Es war, als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst. Dann weiter abwärts ins Tal, an roten Felswänden vorbei. Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus. Als ich in einen Landweg einbog und die Bäume eine Art Tunnel bildeten, lag sie plötzlich da – als flöge sie nach Haus. Die Maklerin hatte in der Einfahrt am Eisentor gewartet.
»Die Energie erzeugen Sie hier selbst«, sagte sie aufgeräumt und angenehm.
Wie wahr, dachte ich, verwirrt und abgehetzt. Hätte ich da schon gewusst, in welch starkem Maße sich das bewahrheiten würde, wäre mir das Blut in den Adern gefroren, denn ich würde verschiedene Arten von Energie finden – auch beängstigende.
Doch das war später, gerade standen die Maklerin und ich hinter der Mühle am Wasserfall, ich sah die fallende Ruwer, hörte das kraftvolle Rauschen und spürte, dass das hier Nikes und meine Begnadigung war: 7000 Quadratmeter Wiese inklusive zweier Flüsse. Keine Nachbarn, rechts von mir der wasserführende Kanal, links hohe Bäume, Wiese und Brunnen, geradeaus der Wasserfall, dahinter dieses Mühlenhaus – ein zweistöckiges weißes Gebäude mit roten Sandsteinrahmungen und grünen Läden um die Fenster. Erbaut 1750. Bachs Todesjahr! Ein Zeichen! (Kleiner Scherz, ich bin Wissenschaftlerin und glaube nicht an Zeichen, sondern an Zahlen.) In der Mitte der Wiese lag ein kleines Beet, das meine Vormieter, ein altes Ehepaar, angelegt hatten: einige Rosen, Buchsbäume und eine Thuja – ein Lebensbaum. Ein liebevolles Kleinod inmitten des Urwalds.
Vielleicht stand die Mühle auf römischem Grund, denn schon zu Hause hatte ich herausgefunden, dass die Mühlen im Ruwer-Tal des Hunsrücks hier schon seit Jahrtausenden stehen – spannend beschrieben vom römischen Dichter Ausonius 371 in seiner Mosella – einer wasserreichen Huldigung an die Mosel:
Und auch der reißende Kelbis (die Kyll),
der marmorberühmte Erubis (Ruwer)
Eilen mit dienendem Wasser sich bald in dein Bett zu ergießen
(gemeint ist die Mosel)
Weithin bekannt ist der Kelbis durch treffliche Fische,
Doch Erubis dreht die zermahlenden Steine der Ceres (Göttin der Feldfrucht)
in wirbelndem Schwunge,
Und durch die Glätte des Marmors bewegt er ächzende Sägen,
Dass ein...